cover
e9783641107772_cover.jpg

Inhaltsverzeichnis

Widmung
ERSTER TEIL
I’M BACK!
IRGENDWO IST IMMER JEMAND, DER DICH LIEBT
WAS MACHST DU DENN DA GANZ ALLEIN?
WELCHES SPIEL TREIBST DU DA MIT MIR?
WER IST ES DANN?
WIR SIND ALLEIN …
ZWEITER TEIL
DAS IST MEIN KIND!
DER WEIHNACHTSMANN PERSÖNLICH
ICH WILL DICH HIER NICHT MEHR SEHEN, KAPIERT?
ÜBERRASCHUNG!
WAS WÄRE DEIN ALLERGRÖSSTER TRAUM?
HALT DIE HÄNDE GERADE UND STRECK DIE ARME AUS!
WENN ICH NICHT SEIN VATER BIN, WER IST ES DANN?
PAPA!
EPILOG
DASS SEIN LEBEN SCHÖN SEIN WÜRDE
Copyright

EPILOG

Anfangs lieben Kinder ihre Eltern,
wenn sie älter werden, urteilen sie über sie,
und manchmal verzeihen sie ihnen.

OSCAR WILDE

 

Lieber Martin,

alles ging so schnell. Bitte verzeih mir, dass wir Dich im Taxi einfach so haben sitzen lassen. Aber Du verstehst sicher, dass es für uns eine Überraschung und, entschuldige, dass ich Dir das so offen sage, eine unglaubliche Freude war.

Bestimmt bist Du enttäuscht und verletzt, aber da das Leben mir eine zweite Chance bietet, werde ich sie nutzen, um Martins willen und auch um meinetwillen. Es ist jetzt zwei Tage her, seit sein Vater zu ihm zurückgekommen ist, und mein Sohn ist wie verwandelt. Er hat so lange auf ihn gewartet.

Es schmerzt mich, Dir das zu schreiben, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr wiedersehen, und dass Du auch Martin nicht wiedersiehst. Er hatte so lange keinen Vater, jetzt plötzlich zwei zu haben, würde ihn mehr verstören, als ihm zu helfen.

Ich habe noch einmal über diese Nacht nachgedacht. Sie war eine Abfolge seltsamer Zufälle, und alles ging viel zu schnell, um die Entscheidungen als endgültig zu betrachten. Wir sehnten uns beide nach etwas und waren zu geblendet, um zu erkennen, dass es niemals Wirklichkeit werden könnte.

Danke für alles, was Du getan hast. Für Martin war es das schönste Weihnachtsfest seines Lebens. Ich hoffe, dass er die nächsten unter normaleren Umständen feiern wird.

Alles Liebe, Louise.

PS: Ich habe Deinen Scheck beigelegt. Noch einmal vielen Dank für Deine Großzügigkeit. Das werde ich Dir niemals vergessen .

DASS SEIN LEBEN SCHÖN SEIN WÜRDE

Das Auto fuhr zügig. Draußen zog die verschneite Landschaft vorbei. Martin Ladouceur zerriss den Scheck in kleine Fetzen und warf sie aus dem Fenster. Rasch kurbelte er die Scheibe wieder hoch, um sich vor dem eisigen Luftzug zu schützen. Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag, auf dem die Absenderin keine Adresse vermerkt hatte. Martin Ladouceur würde nicht versuchen, sie aufzuspüren. Nicht weil er Louise oder dem Kind nichts zu sagen gehabt hätte, er wollte sie einfach nur in Ruhe lassen und nicht Gefahr laufen, sie noch mehr zu verwirren. Das Einzige, was er der jungen Frau gerne gesagt hätte, um sie zu beruhigen und ihr mögliche Gewissensbisse zu nehmen, war, dass sie nicht glauben solle, er sei enttäuscht oder verletzt. Er machte niemandem Vorwürfe. Sie hatte recht. In jener Nacht war alles zu schnell gegangen. Er hatte es zu keinem Zeitpunkt dem Leben überlassen wollen, die Zukunft zu schreiben, sondern verzweifelt versucht, sie zu erzwingen, ohne sich zu vergewissern, dass sie auch auf einem festen Fundament stand. Nur der Wunsch, das geradezu lebenswichtige Bedürfnis, für jemand anderen zu existieren, den er seit jeher zu lieben glaubte, hatte die Illusion geschaffen, das Glück sei zum Greifen nah. Das war ihm klar geworden, als er die Freudenschreie des Kindes gehört hatte, das sich plötzlich seinem Vater, seinem richtigen Vater, gegenübersah. Diese Begeisterung kam direkt aus dem Herzen, aus dem Inneren, sie entsprang jenen angeborenen Gefühlen, die man sich nicht ausdenkt, die man weder aufbauen noch zerstören kann. Er würde immer eine große Zuneigung zu Louise und ihrem Kind bewahren. Zwischen ihnen war etwas Einzigartiges geschehen, und falls sie ihn jemals brauchen würden, würde er da sein.

Die unberührte Landschaft, die vor Martin Ladouceurs Augen dahinflog, war schön und rein, so, wie er selbst sich in diesem Moment fühlte. Um nichts in der Welt hätte er die Zeit um achtundvierzig Stunden zurückdrehen wollen, als er im Hotel eingecheckt hatte. Diese Nacht mit dem Jungen hatte ihm offenbart, wer er war und wonach er sich sehnte. Vielleicht schon immer. Er wollte nicht mehr so leben wie zuvor. Nie wieder würde er die Maske eines anderen tragen, und mehr als alles andere wollte er lieben und wiedergeliebt werden. Dass man ihn um seinetwillen liebte, ihn, Martin, und nicht das, was er verkörperte, oder besser gesagt das, was er in jenem früheren Leben verkörpert hatte, über das er niemals allein verfügt hatte.

Bevor sie an diesem Morgen losgefahren waren, hatte er die Zeitung geholt. Da tags zuvor, am ersten Weihnachtsfeiertag, keine Zeitung erschienen war, standen die Leute im Laden Schlange. Fast jeder, der schließlich ein Exemplar in Händen hielt, schimpfte beim Anblick der Titelseite laut los.

»Oh, dieser Vollidiot, und schon geht das ganze Theater von vorne los!«

So war er nicht überrascht, als er an der Reihe war und sein Bild auf der Titelseite entdeckte. Auf dem Foto war er schlecht rasiert, ein Stück Klebeband bedeckte seine Augenbraue, und sein Blick wirkte abwesend. Vor ihm stand der Präsident der Canadiens de Montréal und deutete auf etwas in der Ferne, was man sich als Tür denken konnte. Die rot und fett gedruckte Schlagzeile lautete »VERSCHWINDE, LADOUCEUR!« Auf der folgenden Doppelseite schilderte der Portier, neben einem Foto, auf dem er dastand wie ein geprügelter Hund, seine fürchterliche Nacht, berichtete von Morddrohungen, falschen Anschuldigungen wegen angeblichen Weindiebstahls und von der skandalösen Anwesenheit von Prostituierten in einer Suite, die im Übrigen vollkommen verunstaltet sei durch Zeichnungen von unförmigen Monstern, welche zweifellos ein entsetzliches delirium tremens hervorgebracht hatte.

»Wie gemein, so über die Bilder zu sprechen, die Martin für mich gemalt hat!«

Maxime zufolge war Martin Ladouceur natürlich ganz allein verantwortlich für den Ehestreit von Georges D’Amour, einem netten Kerl übrigens, wie er sich zu betonen beeilte. Um nicht zuzugeben, dass das Hotel das Kind einer Angestellten die ganze Nacht über in seinen Mauern geduldet hatte, wurden weder seine Anwesenheit noch die seiner Mutter auch nur mit einem Wort erwähnt.

»Uff!«

Auf der nächsten Seite war eine Japanerin namens Hito abgebildet, die strahlend ihren Stanley-Cup-Ring präsentierte. Als ihr Mann Hiro nach Erfüllung seiner ehelichen Pflichten in den gelben Satinlaken des Zimmers 819  – genau unter der Suite, die der Dämon diese Nacht bewohnt hatte  – vor sich hin schnarchte und sie selbst auf der Toilette saß und den Verlust ihrer Jungfräulichkeit beweinte, hatte Hito im Wasser der Kloschüssel die kostbare Preziose entdeckt. Sie hatte darin natürlich ein Zeichen des Wohlstands, aber auch der Fruchtbarkeit gesehen. Und so war sie unverzüglich zurück ins Schlafzimmer gerannt und hatte Hiro geweckt, um diesen Fingerzeig des Schicksals nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Zum Abschluss des Artikels wünschte die Zeitung Hiro und Hito viele Kinder.

 

Martin Ladouceur ließ sich tiefer in den Sitz sinken und betrachtete ungerührt seinen nackten Ringfinger. Er drehte sich zum Fahrer und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Hättest du nicht Lust, irgendwo anzuhalten und etwas zu essen? Ich kriege allmählich Hunger.«

Nachdem der Vater des Kindes wie aus dem Nichts aufgetaucht war, war Pierre-Léon aus dem Taxi gestiegen, um ihnen zu helfen, das Spielzeug aus dem Kofferraum zu nehmen. Als er wieder eingestiegen war, hatte er sich Sorgen um seinen schweigenden Fahrgast gemacht, der vor sich auf die leere Straße gestarrt hatte. Ohne zu fragen, wohin die Fahrt gehen solle, war er losgefahren.

»Ich lasse Sie auf keinen Fall an Weihnachten allein.«

Eine Stunde später erholte sich der weiße Chevrolet in der Garage eines kleinen Häuschens in der Rue Saint-Denis in Rosemont, während Martin Ladouceur im Gästezimmer schlief.

»Als wir das Haus kauften, dachten wir eigentlich, es würde das Kinderzimmer werden, aber da wir keine Kinder bekommen haben, wurde es das Zimmer für unsere Freunde, und die lieben wir mittlerweile so, als wären sie unsere Kinder.«

»Sind Sie sicher? Ich kann auch auf dem Sofa schlafen.«

»Du bist unser Gast, also schläfst du auch im Gästezimmer. Se bon dye ki konnen!«

Martin Ladouceur hatte sofort erkannt, dass Rosi-Anne, Pierre-Léons Frau, in diesem ausschließlich mit naiven Gemälden von sonnendurchfluteten Landschaften ihrer Heimat und Bildnissen der Jungfrau Maria dekorierten Haus das Sagen hatte  – trotz ihres engelhaften Lächelns, ihrer sanften Erscheinung und ihrer hübschen Rundungen. Im Gästezimmer hatte ein eindrucksvolles Kruzifix mit einem Gipschristus den neuen Freund der Familie zunächst am Einschlafen gehindert. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass die Figur herunterfallen und ihn erschlagen könnte. Als er vier Stunden später lebendig wieder aufgewacht war, hatte er unbekannte Düfte gerochen. Er war zu Rosi-Anne gegangen, die zwischen dampfenden Gerichten in ihrer Küche stand. Sofort hatte sie ihn wieder hinauskomplimentiert und in das kleine, violett und blau geflieste Bad geführt. Aus einem Wandschrank hatte sie ein großes Handtuch und einen Waschlappen genommen.

»Mach dich frisch, und zieh dir was Hübsches an, heute Abend kommen Verwandte zu Besuch, aber vorher gehen wir noch aus. Bleib nicht zu lange unter der Dusche, Pierre-Léon putzt gerade das Taxi, aber er muss sich auch noch fertig machen. Und danach bin ich dran.«

Zwei Stunden später hatte Rosi-Anne, die sich Augen und Lippen geschminkt hatte und eine weiße, hochgeschlossene Bluse, ein rosafarbenes Kostüm und einen dazu passenden Hut mit Blume trug, ein letztes Mal die Anzüge von Pierre-Léon und Martin Ladouceur zurechtgezupft, die vor dem Taxi strammstanden. Dann hatte sie auf dem Beifahrersitz des weißen Chevrolet Platz genommen, dessen Karosserie im unerwarteten Sonnenlicht dieses Weihnachtstages funkelte.

»Se bon dye ki konnen …«

Auf dem Vorplatz der haitianischen Kirche parkten ausschließlich frisch geputzte, um die Wette blitzende Taxis. Aus jedem davon stiegen Familien, oft ganze Großfamilien, allesamt elegant gekleidet, um zusammen dieses Freudenfest zu begehen. Sich zusammenzufinden, um den gemeinsamen Glauben zu leben, erfordert nicht zwangsläufig, das Äußere außer Acht zu lassen.

»Hast du gesehen, Pierre-Léon? Fredeline hat ein neues Kostüm.«

Der Ehemann hatte seine mit einem Mal missmutig dreinblickende Ehefrau liebevoll gemustert und Martin Ladouceur verstohlen zugezwinkert, ehe er sich wieder seiner Angetrauten zuwandte, die gerade ihren Lippenstift auffrischte.

»Heute Morgen habe ich noch gedacht, dass wir am Donnerstag zu Yveline Mode fahren und nachschauen könnten, ob die neue Kollektion angekommen ist… Was hältst du davon, Rosi-Anne?«

»Wir fahren am Montag!«

Martin Ladouceur war zwar getauft, aber damals war er noch kein Jahr alt gewesen und erinnerte sich natürlich nicht mehr an das Protokoll. Während des Gottesdienstes hatte er sich also darauf beschränkt, die Gesten von Pierre-Léon und seiner Frau, zwei eifrigen Kirchgängern, nachzuahmen. Als am Altar eine elektrische Orgel auftauchte, waren die beiden aufgestanden und nach vorn gegangen. Ihr Banknachbar, der einzige Weiße in der ganzen Kirche, hatte ihnen folgen wollen. Doch Rosi-Anne hatte energisch auf seinen Platz gedeutet.

»Du bleibst hier und machst das, was alle anderen machen.«

Also hatte er wie alle anderen in die Hände geklatscht und sogar im Takt des Gospelchors, der in einem höllischen Tempo Seigneur, fais-moi voir ta gloire sang, ein paar kleine Tanzschritte angedeutet. Am Ende des Gottesdienstes hatten die Gläubigen einander umarmt, und Rosi-Anne und Pierre-Léon hatten die Gelegenheit genutzt, unterstützt durch ihren neuen spirituellen Sohn, Gäste einzuladen.

»Komm zu uns, wir haben kabrit mit diri und bannan pèze gemacht!«

Bald darauf erklang kreolische Musik in dem kleinen Haus, vermischt mit Gelächter und Lobreden auf ihre haitianische Heimat und das Dorf ihrer Vorfahren. Martin Ladouceur war von Rosi-Anne zum Kellnern verpflichtet worden. Mit einer Schürze in den Landesfarben von Haiti ausgestattet, hatte er sich gern dazu bereit erklärt und sogar darauf bestanden, die leeren Töpfe und Kessel zu schrubben, damit die Hausherrin sich erholen konnte.

»Du bist ein braver weißer Junge. Pierre-Léon hat mir erzählt, dass er das gleich erkannt hat, als er dich zum ersten Mal gesehen hat.«

Nachdem die Gäste satt waren, hatten sie sich auf alle Zimmer des Hauses verteilt, um zu tanzen. Martin Ladouceur hatte sich ein wenig abseits hingesetzt, um dieses Paar zu beobachten, das sein Haus für alle geöffnet hatte. Gerührt hatte er gesehen, wie sie sich um die Kinder kümmerten, die überall herumrannten und auf allem herumhüpften, ohne dass jemand einschritt. Sooft er konnte, fing Pierre-Léon eines von ihnen ab, setzte es sich auf den Schoß und brachte es mit seinen Witzen oder durch Kitzeln zum Lachen. Rosi-Anne hingegen wanderte mit einer riesigen Dose voller Bonbons durchs Haus, um die sich die Kleinsten drängelten. Bei jeder Nascherei, die sie verteilte, hielt sie dem Kind die Wange zum Kuss hin. Um einen Mangel auszugleichen und den Schmerz zu lindern, behilft sich der Mensch eben, so gut er kann. Denn nur so geht es immer weiter.

»Se bon dye ki konnen!«

Zwischen zwei Küssen hatte Rosi-Anne den mürrisch dreinblickenden Martin Ladouceur bemerkt. Trotz der Proteste der Kinder hatte sie sofort die Bonbondose auf eine Kommode gestellt und ihn aufgefordert, mit ihr Biguine zu tanzen und, vor allem, zu singen.

»Das hebt die Laune, das hebt die Laune. Das tut gut, so gut! Das tut gut, so gut! Das tut gut, so gut! Das tut gut, so gut …«

 

Der große weiße Wagen wurde langsamer und fuhr schließlich auf den von Schnee geräumten Parkplatz des Dunkin’ Donuts, wo er vor dem Schaufenster stehen blieb, durch das man die Tische im Inneren sehen konnte. Pierre-Léon drehte den Zündschlüssel, und der Motor verstummte. Das Taxameter brauchte er nicht auszuschalten, denn es war überhaupt nicht eingeschaltet gewesen. Er nahm die beiden zusammengelegten Mäntel von der Rückbank. Seinen eigenen, wollenen, behielt er in der Hand, und den aus Kaschmir reichte er seinem Fahrgast. Martin Ladouceur beeilte sich, die Tür des Lokals zu öffnen und Pierre-Léon den Vortritt zu lassen.

»Weißt du, dass ich als kleiner Junge nach den Spielen immer hierhergekommen bin?«

Drinnen drehte sich niemand nach ihnen um, denn der Raum war völlig leer. Hinter der Theke lasen zwei junge Angestellte seelenruhig Zeitung, kauten dabei Kaugummi und nippten an einem Kaffee. Sie ließen sich auch nicht dazu herab, den Kopf zu heben, als sie die Gäste hereinkommen hörten.

»Er ist ein bad boy, aber so was von süß!«

»Bäh … Hast du ’nen Knall? Der Typ ist alt!«

»Guck nur mal, wie sexy er mit seinem Pflaster aussieht. Ich finde, wenn Männer verletzt sind, sehen sie noch mehr wie echte Kerle aus.«

»Das sieht mir eher nach Klebeband aus als nach einem Pflaster…«

»Also, als sugar daddy würde ich ihn sofort nehmen!«

Die beiden Mädchen kicherten mehr, als dass sie wirklich lachten.

»Wusstest du, dass Lucie, die jetzt Schulleiterin in Ancienne-Lorette ist, als Erste mit ihm rumgeknutscht hat?«

»Klar, das weiß doch jeder.«

»Anscheinend wusste er nicht, wie’s geht… Sie musste ihm alles zeigen …«

Belustigt räusperte sich Martin Ladouceur, um sich bemerkbar zu machen.

»Ich gebe ihm dann Nachhilfe.«

Wieder kicherten die beiden Mädchen im Chor, doch Pierre-Léon, der laut husten konnte, gelang es schließlich, sie auf sich aufmerksam zu machen. Wenigstens eine von beiden.

»Shit!«

Als sie den Mann erkannte, dessen Foto auf der Titelseite jener Zeitung prangte, in die ihre Freundin immer noch vertieft war, verschluckte sie vor Schreck erst ihren Kaugummi und ließ dann ihren Kaffee fallen. Der Kaugummi landete direkt in ihrem Magen, aber die Kaffeetasse prallte von der Tresenkante ab und leerte sich über die Bluse ihrer Kollegin aus. Die sich endlich aufrichtete. Sie öffnete den Mund zum Schrei, doch beim Anblick von Martin Ladouceur klappte sie ihn hastig wieder zu.

»Sie haben sich doch hoffentlich nicht verbrüht, Mademoiselle?«

»Nein, den hatten wir uns schon vor einer Stunde geholt, und dann haben wir geredet … Er war kalt.«

»Es tut uns leid … Wir haben nur wiederholt, was die anderen behaupten … Wir wissen ja gar nichts.«

»Welchen Donut würdest du mir empfehlen, Martin?«

Martin Ladouceur zögerte keine Sekunde.

»Gib uns zwei mit Ahornsirup und zwei Kaffee.«

»Zum hier Essen oder zum Mitnehmen?«

»Zum Mitnehmen, wir essen draußen im Wagen, da sind wir ungestörter.«

»Außer uns ist doch niemand hier, Martin.«

»Du bist nicht mehr in der Stadt, Pierre-Léon …«

Mundpropaganda mag zwar ein veraltetes Kommunikationsmittel sein, aber auf dem Land ist sie immer noch so wirkungsvoll wie eh und je. Dreißig Minuten später schafften es die beiden jungen Angestellten kaum noch, einer immer länger werdenden Schlange Kaffee und Donuts zu servieren. Das Lokal war inzwischen zum Bersten voll mit Dörflern, von denen die meisten am Fenster klebten, das auf den Parkplatz hinausging. Schamlos beobachteten sie die beiden Insassen des weißen Chevrolets, der genau gegenüber parkte.

»Was macht er da mit einem Schwarzen?«

»Stimmt, du hast recht… Ein Schwarzer.«

»Das ist vielleicht sein Sklave?«

»Bei dem Geld, das er verdient, kann er sich bestimmt einen leisten.«

»Nicht doch, das wird sein Agent aus Los Angeles sein!«

»Wow… Er ist mit seinem Agenten gekommen!«

»Bei dem, was gerade passiert, kann er von Glück reden, dass er einen guten Agenten hat.«

»Die haben ja auch mittlerweile echt einen Agenten für alles. Brauchen nix mehr selbst zu machen.«

»Ich ruf meinen Schwager an. Der fällt glatt in Ohnmacht. Er hat noch nie einen Agenten gesehen.«

Es gab eine kleine Pause, die alle nutzten, um einen Schluck Kaffee zu trinken oder in ihren Donut zu beißen.

»Ja, aber wenn das sein Agent ist, wer fährt dann das Taxi?«

»Du, sei gefälligst still! Hat dein Vater dir nie beigebracht, dass Kinder den Mund halten sollen, wenn Erwachsene sich unterhalten?«

 

Hinter den geschlossenen Fenstern des Autos spielte das Radio karibische Musik. Pierre-Léon hatte seinen Donut längst aufgegessen. Ungläubig beobachtete er stumm Martin Ladouceur, der vorsichtig in seinen Teigkringel biss und das Stück eine ganze Weile im Mund hin- und herrollte, ehe er es mit zusammengekniffenen Augen hinunterschluckte, um den Geschmack besser zu genießen. Nichts und niemand schien ihn dabei stören oder ihn aus seiner schützenden Blase holen zu können. Diese Prozedur wiederholte er mehrmals mit immer gleich kleinen Bissen.

»Hey, mein Freund, mein Kaffee ist fast kalt, und du hast deinen Donut immer noch nicht aufgegessen! Beeil dich, sonst kommst du zu spät…«

Martin Ladouceur erschauerte. Diesen Satz hatte er hier schon tausendmal gehört. Das war nun schon so viele Jahre her, aber mit einem Mal war alles wieder da, vor allem das Gute, als würde die Zeit nur die besten Erinnerungen herausfiltern. Pierre-Léon steckte den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Motor an, während sein Fahrgast vorsichtig den Rest seines Donuts einpackte, wobei er darauf achtete, dass die Glasur nicht am Papier festklebte. Als das Taxi an der Parkplatzausfahrt langsamer wurde, schaute er erst nach rechts, dann nach links und deutete schließlich nach links.

»Fahr da lang, ich kenne eine Abkürzung.«

 

Während Rosi-Anne am Vorabend nach dem Aufbruch der letzten Gäste singend das Haus aufgeräumt hatte, hatte Pierre-Léon Martin Ladouceur einen Spaziergang durch die Rue Saint-Denis vorgeschlagen.

»Dann kann der kabrit ein letztes Mal laufen, und morgen fühlst du dich leicht wie eine Gazelle.«

Gleich bei ihren ersten Schritten durch die kalte Nacht hatte der Taxifahrer Martin erklärt, dass das Gästezimmer von nun an ihm gehöre. Die Tür seines Hauses werde ihm so lange offen stehen, wie es nötig sei.

»Hier kannst du in Ruhe nachdenken.«

Ohne Pierre-Léon zu unterbrechen, hatte Martin Ladouceur ihm anschließend aufmerksam zugehört, als er von seinem Leben in Haiti erzählt hatte und der Auswanderung, die ihn hierhergeführt hatte, als er ihm die Gefühle geschildert hatte, die er im Laufe seiner Suche nach einem besseren Leben empfunden hatte. Pierre-Léon hatte von jenem Kind gesprochen, auf das sie so lange gewartet hatten. Von jenem Zorn gegen das Leben, das nicht kommt. Jener Ungerechtigkeit, geboren zu sein und dieses Geschenk nicht weitergeben zu können. Er hatte so lange unter diesem Schmerz gelitten, bis ihm klar geworden war, dass sich nichts ändern würde, wenn er sich weiter in diese Vergangenheit ohne Zukunft vergrub, sie ständig wiederkäute, ohne sie jemals zu verdauen.

»Das schleppt man mit sich herum wie eine Eisenkugel. Man kommt nicht mehr vorwärts. Und wenn irgendwann der Boden, auf dem du dich bewegst, bröckelig wird, dann zieht sie dich in die Tiefe, bis du vollständig versinkst.«

 

Als Martin Ladouceur an diesem Morgen mit dem Journal, das ihn auf der Titelseite zeigte, vom Zeitungskiosk zurückgekommen war, hatte Pierre-Léon, der gerade von seiner Nachtschicht zurückgekehrt war, vor seinem Taxi auf ihn gewartet und ihm den Brief gegeben, den Charles-David ihm ans Ende der Taxischlange vor dem Hotel gebracht hatte.

»Grüß Martin unbedingt von mir. Es ist so langweilig hier ohne ihn. Und sag ihm, ich weiß es jetzt. Er wird das schon verstehen.«

Der Bote war in das kleine Haus gegangen, um Rosi-Anne mitzuteilen, dass sie an diesem Tag nicht zu Yveline Mode fahren würden, um das versprochene Kostüm zu kaufen. Er hatte eine wichtigere Mission.

»Se bon dye ki konnen!«

Fünf Minuten später war Pierre-Léon, Reste von Rasierschaum noch am Ohrläppchen, die vier Stufen vor der Vordertür hinuntergestürmt und zu seinem Taxi gerannt. Dabei hatte er die letzten Knöpfe an seinem Hemd geschlossen, das noch nicht in der Hose steckte. Im Vorbeilaufen hatte er Martin Ladouceur die Beifahrertür geöffnet, woraufhin dieser sich widerstandslos in den Wagen gesetzt hatte. Sie waren noch nicht angerollt, als Rosi-Anne auftauchte und beide Hände auf die Motorhaube legte, um sie aufzuhalten. Sie hatte den Fahrgast aus dem Taxi gezogen, ihn in die Arme genommen und ihm von ganzem Herzen Glück gewünscht. Pierre-Léon hatte sogar hupen müssen.

»Wenn wir heute Abend wieder zurück sein wollen, müssen wir jetzt los.«

 

Am Straßenrand tauchte das Ortsschild von Sainte-Claire auf. Martin Ladouceur biss sich auf die Unterlippe, als er die vereinzelt stehenden Gebäude sah, diese weit verstreuten Bauernhöfe und Lagerhallen in der Monotonie einer vollkommen weißen Landschaft, die beinahe durchsichtig wirkte, weil sie ausschließlich Leere bot. Das Taxi folgte der Hauptstraße des kleinen Weilers. Vor ihnen tauchte ein in der Sonne funkelnder Weißblechkirchturm auf. Ein Dutzend Kinder kämpfte vor der Kirche, gegenüber dem Tante-Emma-Laden und der Genossenschaftsbank, auf der Eisbahn um den Puck. Zwar trugen die meisten von ihnen das blaue, liliengeschmückte Trikot der Nordiques de Québec, doch vier Spieler schwitzten unter dem roten Banner der Canadiens de Montréal. Auf dem Rücken ihrer Trikots war in großen weißen Buchstaben »Ladouceur« aufgestickt.

»Wow! Du bist hier ja noch immer ziemlich beliebt!«

»Träum nicht, Pierre-Léon. Sie tragen die zehn Jahre alten Sachen ihres großen Bruders. Hier haben die Eltern nicht das Geld, um jedes Jahr ein neues Trikot zu kaufen.«

Das Taxi fuhr an der Eisbahn und der Kirche vorbei. An der ersten Kreuzung hing ein Schild mit der Aufschrift »Chez Romuald« an der Regenrinne eines grün gestrichenen Hauses. Am Fenster der einzigen Kneipe des Ortes verkündete ein handgeschriebenes Plakat »Montags, 5 bis 7 Uhr, Bingo«. Martin Ladouceur senkte den Blick, aus Angst, seinen Vater hinter der Scheibe zu entdecken, mehr noch aber fürchtete er, sein Vater könne ihn sehen. Doch als Pierre-Léon wieder anfuhr, konnte er nicht widerstehen und schaute auf.

»Halt an!«

Das Taxi bremste. Martin Ladouceur starrte schon nicht mehr den Mann an, den er seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, sondern den, der ihm gegenübersaß und mit dem er selbst vor nicht einmal zwei Tagen gesprochen hatte. Den Mann, der ihm versichert hatte, dass er im Winter keinen Fuß ins Dorf setzte.

»Lügner!«

Hinter der Scheibe spielte Henri Ladouceur nicht Bingo, sondern unterhielt sich angeregt mit Gaëtan, dem Nachtwächter des Forums. Jenem Gaëtan, der sich für heute Morgen beim Training mit ihm verabredet hatte. Gaëtan, der seit dreißig Jahren kein einziges Training versäumt hatte.

»Und mir hat er gesagt, dass er ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat! Was, zum Teufel, hat er hier zu suchen?«

Hinter der Scheibe schwenkte sein Vater wutentbrannt das Journal de Montréal und deutete auf die Titelseite. Gaëtan riss ihm die Zeitung aus der Hand und warf sie auf den Boden. Dann stürzte er sich in einen langen, von ausladenden Gesten begleiteten Monolog. Er imitierte einen Mann, der in ein Mikrofon spricht, und deutete dabei auf sich selbst. Danach ahmte er einen Autofahrer nach, kniete sich dann hin, wobei sein Kopf kaum über die Tischkante reichte, und machte typische Bewegungen eines Torhüters nach.

»So klein bin ich nun auch wieder nicht …«

Diesmal lachte der Fahrgast nicht über Pierre-Léons Scherz. Gaëtan stand wieder auf und legte eine Hand an seine Hüfte, um eine Größe anzuzeigen. Die eines Kindes. Verwirrt kratzte sich Henri Ladouceur am Kopf. Dann imitierte Gaëtan einen fulminanten Schuss und tat so, als griffe er erneut zum Mikrofon, um ihn zu kommentieren.

»Wow!«

Martin Ladouceur sah, wie sein Vater den Kopf in beide Hände legte, als wäre die schlimmste Katastrophe über ihn hereingebrochen. Ungläubig und geschlagen starrte der Sechzigjährige Gaëtan an, der sich bemühte, ihn zu trösten. Aber nichts schien ihn beruhigen zu können.

»Los, fahr weiter!«

Der Chevrolet Caprice brauste los und fuhr eine Weile mit hoher Geschwindigkeit durch die Gegend, ohne einer bestimmten Route zu folgen. Bis Pierre-Léon genug davon hatte, ziellos herumzufahren, an einer Kreuzung anhielt und sich seinem Fahrgast zuwandte, der unverwandt auf seine Füße starrte.

»So, wohin jetzt?«

Martin Ladouceur hob den Kopf und sah sich um. Alles war weiß, weit und breit die gleichen Bäume.

»Nach rechts! Nein, nein, nach links… Oder besser geradeaus! Ich hatte doch gesagt, nach rechts! Wenn du nicht auf mich hörst, kommen wir nie an!«

Nachdem Pierre-Léon zwölf Meter gefahren war, und zwar alle in unterschiedliche Richtungen, brachte er sein Taxi mitten auf der Kreuzung zum Stehen.

»Martin, ich glaube, wir haben uns verfahren.«

»Se bon dye ki konnen!«

»Nein, nein, nein, Martin! Gott hat das nicht gewollt. Er hat damit nichts zu tun. Glaub mir, ich rede jeden Tag mit ihm, ich kenne ihn gut. Er will niemals, dass du dich verirrst, ganz im Gegenteil!«

Martin Ladouceur betrachtete seinen eingepackten Donut, den er immer noch in der Hand hielt. Er öffnete das Fenster und warf ihn weit hinaus in den Schnee.

»Ich glaube, wir waren ein bisschen voreilig. Lass uns nach Montréal zurückfahren und ein andermal wiederkommen, was hältst du davon?«

Immer noch mitten auf der Kreuzung, schaltete Pierre-Léon den Motor aus. Er nahm sich Zeit, bevor er antwortete, wog seine Worte sorgfältig ab, denn er wusste, dass dies ein entscheidender Moment war.

»Martin, wenn du jetzt nicht hinfährst, wirst du nie wiederkehren. Du bittest mich nicht, nach Hause zu fahren, du willst, dass ich dir bei der Flucht helfe. Willst du das wirklich? Denk darüber nach, Martin. Denk gut darüber nach. Ich habe Zeit…«

 

Eine Stunde später wurde es dunkel, und die Umrisse der Bäume verschwammen in der Ferne. Der grau gewordene Schnee funkelte nicht mehr. Die Scheinwerfer des Taxis trafen auf ein Schild, das rechts nach Montréal wies.

»Fahr rechts!«

»Bist du sicher, Martin?«

»Ja, ich bin sicher!«

»Ich würde ja eher nach links fahren.«

»Aber ich sage dir, fahr nach rechts!«

»Ich glaube, wir sind hier vor einer halben Stunde schon einmal vorbeigekommen.«

»Aber da sind wir nach links abgebogen.«

»Vielleicht hast du recht.«

Der Chevrolet bog nach rechts auf eine erst kürzlich geräumte Landstraße ein. Ab und zu drehten die Hinterräder durch. Vor Konzentration schob Pierre-Léon die Zungenspitze vor, während er sich bemühte, mit seinem schönen, am Vortag blank polierten Auto nicht gegen die hohen Schneewälle zu stoßen, die den schmalen Weg säumten.

»Ja, das ist es, das ist die richtige Straße! Fahr einfach durch bis zum Lac Martin, und danach ist es gleich auf der rechten Seite.«

Die kurvige Straße führte durch einen Wald. Zwischen den Bäumen tauchte plötzlich ein orangefarbenes Blinklicht auf, das sich an den schwarzen Stämmen brach. Martin Ladouceur schrie auf.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Nicht jetzt!«

Kurz darauf sahen die beiden Männer nur noch die Rücklichter des Gemeindeschneepflugs, der behäbig vor ihnen herkroch.

»Können die das nicht an einem anderen Tag machen?«

Immer noch genauso konzentriert, um nur ja nicht vom Weg abzukommen, warf Pierre-Léon dem ungeduldig auf seinem Sitz herumzappelnden Martin Ladouceur einen raschen Seitenblick zu. Dieser Mann hatte achtzehn Jahre gewartet, ehe er nach Hause zurückgekehrt war, hatte eine halbe Stunde mitten auf der Kreuzung gestanden und nachgedacht, und jetzt hielt er nicht einmal mehr die letzten Sekunden aus.

»Wir sind da!«

Der Chevrolet verlangsamte seine Fahrt, ließ den Schneepflug zwischen den Bäumen entschwinden und hielt schließlich vor einem blau gestrichenen Holzhaus, dessen Eingang von einer einfachen Glühbirne beleuchtet wurde. Martin Ladouceur drehte sich zu Pierre-Léon um, der ihm aufmunternd zunickte. Er ging die kurze, sorgfältig von Schnee gesäuberte Auffahrt hinauf und sah sich selbst wieder, wie er sie dreißig Jahre zuvor mit einem Kloß im Magen entlanggerannt war, voller Angst vor Monstern oder Gespenstern, die ihn entführen und töten würden. Er vergewisserte sich, dass der Baum, an dessen dickstem Ast die von seinem Vater selbst gebaute Schaukel hing, noch da war. Im Halbdunkel entdeckte er ihn. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er rings um den Baum Fußspuren im Schnee. Die Schaukel war vor Kurzem benutzt worden.

»Martin, bist du den ganzen Weg gefahren, um diese Schaukel zu sehen?«

Er drehte sich zur Haustür um. Im Gegenlicht erkannte er seine Mutter. Als er bei ihr ankam, trat sie zurück, um ihn hereinzulassen, und schloss die Tür hinter ihm. Mutter und Sohn schauten sich eine Weile an, keiner von beiden wagte den ersten Schritt zu machen.

»Ziehst du deine Schuhe nicht aus?«

Martin Ladouceur bückte sich, zog sie aus und stellte sie ordentlich auf die Fußmatte, einen neben den anderen, so wie man es als Kind von ihm verlangt hatte. Als er sich wieder aufrichtete, breitete seine Mutter die Arme aus, und er fiel ihr um den Hals.

»Maman!«

»Du hast dir ja Zeit gelassen.«

Martin biss sich auf die Lippen, um nicht zu weinen. Er folgte seiner Mutter ins Wohnzimmer und fragte sich, ob er dort sein würde, in seinem Sessel. Er war da. Der alte Mann lächelte nicht beim Anblick seines Sohnes, aber seine Miene war wohlwollend. Er stützte sich auf die Armlehnen und stand auf. Sein Sohn ging die letzten Schritte auf ihn zu. Lange hielten die beiden Männer einander umarmt.

»Wenn du möchtest, kannst du Pierre-Léon reinholen.«

»Du kennst ihn?«

»Gaëtan hat mir von eurem Besuch im Forum erzählt.«

»Später…«

Vater und Sohn lösten sich voneinander, doch sie hielten einander weiter bei der Hand. Martin Ladouceur hätte gerne geredet, sein Herz ausgeschüttet. Er hatte so viel zu sagen: Er wollte seinem Vater danken für alles, was er für ihn getan hatte, sich dafür entschuldigen, dass er ihn nicht zu seinem Agenten gemacht hatte, versuchen, sich für seine Eskapaden in Montréal zu rechtfertigen, ihm zurufen, dass er ihm nichts nachtrug, die richtigen Worte finden, um sein Schweigen zu entschuldigen, ihm ganz einfach sagen, dass er ihn liebte, er wollte ihm von dieser Nacht erzählen, in der er den wahren Sinn des Lebens gefunden hatte, aber die Schamhaftigkeit überwog, und wie immer kam etwas ganz anderes über seine Lippen.

»Wer spielt denn da draußen mit meiner Schaukel?«

Als er die ernste Miene seines Vaters sah, der sich zu seiner Frau umgewandt hatte, begriff er, dass seine so albern anmutende Frage alles andere als belanglos war. Er schaute zu seiner Mutter, die den Fernseher fixierte. Martin Ladouceur folgte ihrem Blick. Seine Beine begannen zu zittern. Aus einem ersten Bilderrahmen lächelte ihm ein Kind entgegen, genauso dunkel wie er, die gleichen blauen Augen, das gleiche Gesicht. Auf einem anderen Foto saß dasselbe Kind zwischen Pauline und Henri Ladouceur. Das Glück, das sie unverkennbar einte, war das des Blutes. Das letzte Foto zeigte das Kind auf dem Schoß einer Frau, die auf dem Wohnzimmersofa saß. Er ging zum Fernseher und nahm es in die Hand, um besser zu sehen. Er erkannte sie sofort. Sie war die Frau von damals. Michel Mercier hatte nicht gelogen, und Gaëtan wusste das. Dieses Kind existierte tatsächlich, und es war seins.

»Sie ist zu uns gekommen, sie wusste nicht, wohin, sie hatte kein Geld. Der Verein wollte nichts davon wissen. Wir haben sie überzeugt, es zu behalten, und ihr versprochen, sie zu unterstützen, bis du wieder zurückkommst.«

Martin Ladouceur wusste nicht nur, dass er bereit dafür war, nein, er freute sich darauf. Er würde so lange warten, wie nötig, bevor er sie traf. Er wollte sich nichts ausmalen, nichts planen, nichts verlangen. Er würde das Leben auf sich zukommen lassen. Diese Zukunft würde er gestalten, indem er den wahren, echten Gefühlen Zeit ließ zu wachsen. Jetzt wusste er es, und vor allem wollte er es: dass sein Leben schön sein würde.