Fjodor Dostojewskij

Der Spieler
oder Roulettenburg

Aus den Aufzeichnungen
eines jungen Mannes

Roman

Aus dem Russischen übersetzt
und herausgegeben von Alexander Nitzberg

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Der Spieler

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Anhang

Nachwort

Anmerkungen

Danksagung

Über Fjodor Dostojewskij

Über das Buch

Impressum

Über Fjodor Dostojewskij

Fjodor Dostojewskij (18211881), Sohn eines Armeearztes in Moskau, wurde nach kurzer Tätigkeit als technischer Zeichner im Kriegsministerium freier Schriftsteller. Vier Jahre Zwangsarbeit als politischer Häftling und beständige Geldnot wegen seiner Spielleidenschaft zeichneten den unermüdlich Schaffenden. Dostojewskij zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Weltliteratur.

 

Alexander Nitzberg wurde 1969 in Moskau geboren. Für seine Übersetzungen wurde er vielfach ausgezeichnet.

Über das Buch

Um ein Haar hätte es diesen Roman nicht gegeben. – Damit er am Ende doch erscheinen konnte, verzichtete Dostojewskij nicht nur auf seinen ursprünglichen Titel – Roulettenburg –, er erfüllte auch das Ultimatum seines Verlegers und schrieb den Roman in nicht mehr als 26 Tagen. Er brauchte das Geld, denn er war so spielsüchtig wie sein Held Alexej Iwanowitsch, und er war nicht weniger verstrickt in eine unglückliche Affäre. Eben dieser authentische Hintergrund ist es, welcher der Geschichte um einen fiktiven deutschen Kurort namens Roulettenburg bei all ihrer Rasanz eine unentrinnbare Gravitation verleiht.

 

Impressum

Titel der Originalausgabe

Игрок, Igrok

1866

 

 

 

 

2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2016

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-423-43057-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14720-0

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423430579

Der Spieler

Kapitel 1

Endlich nach zwei Wochen kehre ich zurück. Die anderen sind bereits seit drei Tagen in Roulettenburg. Ich dachte, sie erwarten mich weiß Gott wie sehnsüchtig – aber nein: Der General tut betont lässig, spricht mit mir von oben herab und leitet mich weiter an die Frau Schwester. Verstehe, sie sind – irgendwie, irgendwo – zu Geld gekommen. Ich merke sogar: Dem General ist es peinlich, mich anzuschauen. Marja Filippowna hat alle Hände voll zu tun und redet mit mir zwischen Tür und Angel. Das Geld nimmt sie dennoch, zählt es nach und hört sich meinen vollständigen Bericht an. Zum Essen erwartet man Mesentzow, das Französchen und noch irgendeinen Engländer. Tja, die feine Moskauer Art: Klimpert es einmal in der Kasse, darf es an festlichen Empfängen nicht fehlen! Polina Alexandrowna sieht mich kurz an und fragt, wo ich denn so lange gesteckt habe? Kaum will ich antworten, verschwindet sie. (Geht es vielleicht noch deutlicher? Wie dem auch sei, um eine Aussprache wird sie sich nicht herumwinden können. Zu vieles hat sich angesammelt.)

Ich bekomme ein Kämmerlein zugeteilt – im dritten Obergeschoss des Hotels. Schließlich gehöre ich, wie es so schön heißt, zum Gefolge des Generals! – Nun ja, es scheint, man hat sich hier bereits mit Bravour in Szene gesetzt. Denn alle halten sie den General für ein hohes Tier, einen steinreichen Russen. Unter anderem brachte er es fertig, mir vor dem Mittagessen 2000 Francs in die Hand zu drücken: Kleinmachen bitte! Ich tu es an der Hotelrezeption. Schon sind wir für jedermann Millionäre – und sei’s nur bis zum Ende der Woche! Eben will ich mit Mischa und Nadja spazieren gehen, doch auf der Treppe ruft man nach mir: Seine Exzellenz, der General, geruhen zu erfahren, wohin ich die beiden denn auszuführen gedenke? Dieser Mensch! Er ist einfach unfähig, einem direkt in die Augen zu sehen. Er möchte es zwar gern riskieren, aber jedes Mal schicke ich ihm einen derart trotzigen, sprich respektlosen Blick zurück, dass er schon leicht ins Schwitzen gerät. Er hält mir eine gestelzte Rede, zusammengesetzt aus lauter Hohlheiten, bis er endlich den Faden verliert und mir einbläut, ich soll mit den Kindern bloß nicht in der Nähe des Kurhauses flanieren, dann lieber irgendwo im Park. Schließlich platzt ihm der Kragen:

»Sonst bringen Sie die beiden noch zum Kurhaus und ehe man sichs versieht an den Roulettetisch! Nichts für ungut«, fügt er hinzu, »Sie sind von jugendlichem Leichtsinn und könnten durchaus auf dumme Gedanken kommen. Nun ja, ich weiß, bin weder ihr Mentor, noch gewillt, dieses Amt zu bekleiden – und doch ist und bleibt es mein gutes Recht, Sie zu ermahnen, mir wenigstens … nun ja … keine Schande zu machen …«

»Aber ich habe doch gar kein Geld«, entgegne ich ruhig, »um alles zu verspielen, muss man doch erst einmal welches haben.«

»Sie bekommen es umgehend ausgezahlt«, sagt der General, leicht errötend, wühlt in seinem Sekretär, wirft einen prüfenden Blick in die Bücher, und siehe da, es stellt sich heraus: Er schuldet mir ganze 120 Rubel!

»Tja, wie sollen wir das jetzt umrechnen«, beginnt er, »hmm, wie viel macht das in Talern? Folgendes: Sie nehmen 100 Taler, eine runde Summe, und den Rest … nun ja … den bekommen Sie noch früh genug.«

Schweigend nehme ich das Geld.

»Und was meine Worte anbelangt: Nicht beleidigt sein. Ich weiß, wie schnell Sie beleidigt sind … Wenn ich’s Ihnen sage, dann doch nur zu Ihrem eigenen Besten, um Sie zu warnen. Ich glaube, ich habe dazu ein Recht …«

Als ich vor dem Essen mit den Kindern zurückkehre, begegne ich draußen einer kleinen Prozession: Denn die anderen haben in der Zwischenzeit irgendwelche Ruinen besichtigt. Zwei prächtige Kutschen, rassige Pferde! Mademoiselle Blanche in einem Gefährt mit Marja Filippowna und Polina. Das Französchen, der Engländer und unser General hoch zu Ross. Die Passanten bleiben stehen und staunen – ein grandioser Effekt! Allein der General wird noch sein blaues Wunder erleben. Denn laut meiner Rechnung verfügen sie jetzt – zusammen mit den 4000 Francs, die ich ihnen gebracht habe, und dem Geld, das sie sich ergattern konnten – über gerade mal 7000 oder 8000 Francs. Tja, leider zu wenig für Mademoiselle Blanche …

Mademoiselle Blanche wohnt im selben Hotel, sie teilt sich ein Zimmer mit ihrer Frau Mutter. Auch unser Französchen haust irgendwo hier. Das Personal nennt ihn Monsieur le Comte und die Mutter von Mademoiselle Blanche Madame la Comtesse. Also, ich weiß nicht so recht, vielleicht sind sie ja wirklich so was wie Graf und Gräfin …

Dacht ich’s mir doch: Monsieur le Comte sieht mich zum allerersten Mal! (Dem General fiele es ja im Traum nicht ein, uns miteinander bekanntzumachen oder wenigstens mich ihm vorzustellen. Und der Monsieur war oft genug in Russland, um zu wissen, dass jemand, den er Auslärär nennt, ein vollkommener Niemand ist.) Dabei kennt er mich eigentlich ziemlich gut. Doch ich war ja nicht einmal zu Tisch geladen. Der General hat es offenbar versäumt, entsprechende Anweisungen zu geben, sonst wäre ich beim Personal gelandet. Stattdessen komme ich ganz ungefragt. Der General wirkt darüber nicht sehr erfreut, aber die gute Marja Filippowna weist mir sofort einen Platz zu. Erst Mister Astley hilft mir aus der Patsche, und schon bin ich einer von ihnen!

Diesen Engländer (ein komischer Kauz!) habe ich bereits in Preußen getroffen: Wir saßen zusammen im selben Abteil – und zwar genau vis-à-vis –, als ich versuchte, die anderen einzuholen. Dann bei der Einreise nach Frankreich. Zuletzt in der Schweiz. Also zwei Mal in zwei Wochen! Und jetzt wieder, diesmal in Roulettenburg. Ich kenne keinen Menschen, der schüchterner wäre. Seine Schüchternheit grenzt an Dummheit, und er ist sich dessen voll und ganz bewusst, denn er ist alles andere als dumm. Ach was – richtig nett und ruhig ist er. Schon bei unserer ersten Begegnung in Preußen habe ich ihn gesprächig gemacht. Er gestand mir sogar, dass er diesen Sommer am Nordkap war und liebend gern den Jahrmarkt in Nischni Nowgorod besucht hätte … Keine Ahnung, woher er den General kennt, eines aber weiß ich gewiss: Er ist unsterblich in Polina verliebt. Als sie hereinkam, hat er auf der Stelle Feuer gefangen. Er ist heilfroh, dass ich neben ihm Platz nehme, hält mich wahrscheinlich für seinen Kumpan.

Das Französchen plustert sich mächtig auf, tut wichtig, redet herablassend. Und damals in Moskau? – Nur heiße Luft. Sein geballter Wortschwall gilt jetzt den Finanzen und der russischen Politik. Der General versucht manchmal aufzumucken, aber nur so viel, wie gerade nötig ist, um sein Gesicht nicht vollends zu verlieren.

Irgendwie bin ich in seltsamer Laune. Noch mitten beim Essen stellt sich mir die übliche, langsam lästige Frage: Wieso, um alles in der Welt, plage ich mich eine halbe Ewigkeit mit diesem elenden General herum? Gelegentlich schiele ich herüber – zu Polina Alexandrowna. – Keine Reaktion. Also werde ich wütend und kratzbürstig.

Zum Warmwerden mische ich mich spontan – so mir nichts, dir nichts – in ein fremdes Gespräch ein. Hauptsache ich bringe das Französchen in Rage. Also wende ich mich an den General, falle ihm womöglich sogar ins Wort, und verkünde laut und deutlich, man könne als Russe neuerdings in keinem Hotel mehr in Ruhe speisen. Der General starrt mich erstaunt an.

»Jedenfalls nicht, wenn Sie ein anständiger Mensch sind«, lege ich nach, »sonst müssen Sie nämlich lauter Hasstiraden über sich ergehen lassen und sind gezwungen, manch eine Kopfnuss einzustecken. In Paris, im Rheinland, ja, selbst in der Schweiz trifft man beim Essen eine so große Zahl von Polacken und Franzmännern an, die sich gegenseitig auch gleich zur Seite springen, sodass Sie als Russe keine Chance haben, auch nur einen Satz von sich zu geben.«

Das alles sage ich auf Französisch. Der General sieht mich verwirrt an. Soll er sich ärgern, oder reicht es, wenn er seine Verblüffung zeigt – darüber, dass ich mich derart vergesse.

»Ihnen hat wohl jemand irgendwo eine kräftige Abreibung verpasst, nicht wahr?«, lässt das Französchen verächtlich fallen.

»Ich habe mich in Paris als Erstes mit einem Polen angelegt«, pariere ich, »und anschließend mit einem französischen Offizier, der dem Polen beistand. Doch bekam ich Unterstützung von einigen Franzosen, als ich erzählte, wie ich vorhatte, Eminenz in den Kaffee zu spucken.«

»Zu spucken?«, der General echauffiert sich verdutzt und sieht die anderen hilflos an. Das Französchen mustert mich ungläubig.

»Exakt«, antworte ich, »zu spucken. Zwei Tage lang war ich überzeugt, in unserer Angelegenheit einen Abstecher nach Rom unternehmen zu müssen. Also stattete ich in Paris dem Konsulat seiner Heiligkeit einen Besuch ab, um das Visum zu beantragen. Dort empfängt mich so ein kleiner Abbé. Der ist um die fünfzig, ziemlich dürr, mit einer leicht unterkühlten Visage. Er hört mich an, durchaus höflich, doch sehr reserviert, und bittet mich, ein wenig zu warten. Ich bin zwar in Eile, nehme aber Platz, ziehe die Opinion nationale hervor und lese eine üble Russlandhetze. Dabei sehe ich, wie jemand seine Eminenz vom Nachbarzimmer aus aufsucht, einer, vor dem mein Abbé lauter Kotaus macht. Erneut wende ich mich an ihn und wiederhole meine Bitte. Er fordert mich auf – eine Spur reservierter als zuvor –, ich möge ein wenig warten. Kurz darauf kommt ein weiterer Unbekannter, in einer überaus wichtigen Sache, jawohl – irgendein Österreicher. Er wird auf der Stelle angehört und schnurstracks nach oben geleitet. Da werde ich langsam ungemütlich, stehe auf, nähere mich dem Abbé und sage ihm in aller Schärfe: Eminenz empfängt doch offensichtlich, dann wäre es jetzt wohl höchste Zeit, auch mich einmal dranzunehmen? Da weicht der Abbé entsetzt zurück und macht ein zutiefst verdattertes Gesicht. Es will einfach nicht in seinen Kopf hinein, dass irgend so ein lausiger Russe die Frechheit besitzt, sich mit den Gästen seiner Eminenz auf eine Stufe zu stellen! Unerhört! Gewissermaßen froh darüber, dass er mich jetzt offen beleidigen darf, misst er mich von Kopf bis Fuß und ruft: ›Glauben Sie wirklich, Monseigneur würde Ihretwegen auf seinen Kaffee verzichten?‹ Darauf rufe ich – noch lauter als er: ›Ich pfeife herzlich auf Monseigneurs Kaffee! Und wenn Sie mir nicht sofort das Visum geben, dann gehe ich zu ihm und hole es selbst!‹

›Wie! Dieweil er den Kardinal empfängt!‹, kreischt der kleine Abbé erschrocken, stürzt zur Türe, breitet die Arme aus – kreuzförmig, um mir deutlich zu zeigen: Lieber sterbe ich, als dass ich Sie durchlasse!

Darauf ich zu ihm: Bin ein Ketzer und Barbar, je suis hérétique et barbare, und diese Kardinäle, Erzbischöfe, Monseigneurs und so weiter und so fort sind mir alle schnurzpiepegal! Kurzum, ich gebe ihm zu verstehen, dass ich keinesfalls die Absicht habe, locker zu lassen. Der Abbé sieht mich hasserfüllt an, entreißt mir den Pass und flitzt nach oben. Nach einer Minute erhalte ich das Visum. Voilà, wenn Sie mir nicht glauben wollen! …« Ich zücke den Pass und präsentiere den Anwesenden meine römische Einreisegenehmigung.

»Tja, da sind Sie allerdings …«, stammelt der General.

»Was Sie gerettet hat, war die Tatsache, dass Sie sich selbst als einen Barbar und Ketzer bezeichnet haben«, bemerkt das Französchen mit schiefem Lächeln. »Cela n’etait pas si bête

»Soll ich mir etwa eine Scheibe von unseren Russen hier abschneiden? Die ducken sich allesamt doch nur, sitzen mucksmäuschenstill, könnten glatt ihre Herkunft verleugnen. Jedenfalls wurde ich im Pariser Hotel seit meiner Rauferei mit dem Abbé sehr viel respektvoller behandelt. Der fettleibige polnische Herr, mein ärgster Feind am Gästetisch, rückte auf einmal in den Hintergrund. Die Franzosen schluckten es sogar, als ich ihnen von meiner Begegnung mit dem Mann erzählte, auf den im Jahr 1812 ein französischer Jäger gefeuert hatte, einzig um sein Gewehr zu entladen! Dieser Mann, damals ein zehnjähriger Bub, war aus einer jener Familien, die Moskau nicht rechtzeitig verlassen konnten.«

»Das ist ganz und gar ausgeschlossen«, entsetzt sich das Französchen, »ein französischer Soldat würde niemals auf ein Kind schießen!«

»Und dennoch ist es genauso passiert«, entgegne ich, »das erzählte mir wahrheitsgemäß ein ehrwürdiger Exkapitän, und ich habe mit eigenen Augen auf seiner Wange die Schramme gesehen.«

Darauf ist das Französchen in seinem Geschnatter kaum noch zu halten. Der General schickt sich an, ihm beizustehen, und ich empfehle seiner Aufmerksamkeit doch wenigstens ein paar Abschnitte aus den Erinnerungen von General Perowski – immerhin war er im Jahr 1812 in französischer Gefangenschaft. Doch jetzt ist Marja Filippowna an der Reihe: Schnell redet sie los, um das Thema zu wechseln. Der General ist maßlos über mich verärgert. Kein Wunder: Das Französchen und ich haben uns schon beinahe in den Haaren. Allein Mister Astley scheint mein Streit mit dem Französchen zu imponieren. Beim Aufstehen schlägt er mir vor, mit ihm zusammen einen Drink zu nehmen. Abends, wie erwartet, gelingt es mir, mit Polina Alexandrowna ein paar Worte zu wechseln. Das Gespräch findet während des Spaziergangs statt. Alle machen sich auf den Weg zum Park in der Nähe des Kurhauses. Da nimmt sie Platz auf einer Bank vor dem Brunnen und lässt Nadja mit den anderen Kindern spielen. Ich meinerseits gestatte Mischa, zum Brunnen zu laufen. Wir sind endlich allein.

Erst das Geschäftliche, natürlich. Polina wird wütend, als ich ihr nur 700 Gulden überreiche. Sie ist davon ausgegangen, dass ihre Brillanten – wenn man sie als Sicherheit hinterlegt – in Paris für mindestens 2000, vielleicht sogar mehr gut sind.

»Ich brauche Geld, und zwar dringend«, sagt sie. »Ich muss, koste es, was es wolle, welches bekommen, sonst bin ich erledigt.«

Ich beginne, sie auszufragen, was in meiner Abwesenheit denn vorgefallen ist.

»Nichts, wenn man von zwei Briefen absieht, die wir aus Petersburg erhalten haben. In dem einen heißt es, der Großmutter gehe es wirklich sehr, sehr schlecht. In dem anderen, der ein paar Tage später eintraf, sie sei möglicherweise sogar schon tot. Die Nachricht stammt von Timofej Petrowitsch«, fügt Polina hinzu, »und auf den ist Verlass. Jetzt warten wir nur noch auf die Bestätigung.«

»Das heißt, alles hier sitzt nur und wartet?«

»O ja, alles, was Odem hat. Das geht schon seit einem halben Jahr so. Die letzte Hoffnung.«

»Etwa auch für Sie?«, frage ich.

»Ach, ich bin mit ihr doch gar nicht verwandt, bin doch nur das Stiefkind des Generals. Aber ich hege keinen Zweifel daran, dass sie mich in ihrem Testament bedenkt.«

»Ich bin überzeugt: sogar sehr üppig«, sage ich, um ihr Mut zu machen.

»Ja, sie hatte mich wohl sehr gern … Doch was gibt Ihnen diese Gewissheit?«

»Verraten Sie mir«, antworte ich mit einer Gegenfrage, »Ihr Marquis ist, allem Anschein nach, in sämtliche Familiengeheimnisse eingeweiht?«

»Und warum, um alles in der Welt, interessiert Sie das so?«, erwidert Polina und wirft mir einen strengen und bösen Blick zu.

»Aber natürlich ist er das. Wenn ich die Lage richtig einschätze, hat der General sich bei ihm auch schon ein hübsches Sümmchen geliehen.«

»Und ob Sie die Lage richtig einschätzen!«

»Würde er ihm denn auch nur einen Groschen leihen, wenn er von Omilein nicht wüsste? Ist Ihnen das eigentlich aufgefallen: Bei Tisch, da hat er Großmutter vielleicht zwei oder drei Mal erwähnt und nannte sie jedes Mal Omilein, la baboulinka, sagte er. Na, wenn das keine rührende Freundschaft ist!«

»Wohl wahr. Und sobald er erfährt, dass auch ich etwas erben soll, wird er sofort um meine Hand anhalten. Ist es nicht das, was Sie wissen wollten?«

»Um Ihre Hand anhalten? Ich dachte, das hätte er längst getan.«

»Nein, und das wissen Sie ganz genau!«, ärgert sich Polina. »Und übrigens, wo haben Sie diesen Engländer aufgetrieben?«, fragt sie nach einer Minute des Schweigens.

»Ich wusste, dass Sie das jetzt fragen würden.«

Also erzähle ich ihr von meiner Reisebekanntschaft mit Mister Astley.

»Er ist schüchtern und schnell mit dem Herzen dabei. Ich könnte wetten, er ist in Sie verliebt!«

»Ja, er ist in mich verliebt«, antwortet Polina.

»Und ich könnte außerdem wetten, er hat zehnmal mehr Geld als der Franzose. Hat der Franzmann denn überhaupt etwas? Und wäre das auch wirklich erwiesen?«

»Absolut. Er besitzt irgend so ein Château. Der General erwähnte es gestern mit Bestimmtheit. Genügt Ihnen das als Sicherheit?«

»Also ich an Ihrer Stelle würde den Engländer heiraten.«

»Wieso das?«, fragt Polina.

»Der Franzose ist zwar hübsch, aber auch sehr platt. Der Engländer dagegen ist nicht nur ein Ehrenmann, sondern auch noch zehnmal reicher«, erkläre ich.

»Nein, der Franzose ist ein Marquis und außerdem klüger«, sagt sie gefasst.

»Ist das auch wahr?«, lasse ich nicht locker.

»Aber ja doch.«

Meine Fragen schmecken ihr wohl nicht, und ich merke, dass sie mich mit dem Tonfall und der ganzen Art ihrer Antworten offenbar auf die Palme bringen will. Also spreche ich sie darauf an.

»Was soll ich sagen, Sie haben recht: Es amüsiert mich ungemein zu sehen, wie Sie sich vor Wut die Haare raufen. Ich finde, Sie sollten allein schon dafür, dass ich Ihnen solche Fragen und Gedanken erlaube, ordentlich büßen.«

»Ich halte mich in der Tat für berechtigt, Ihnen diverse Fragen zu stellen«, antworte ich seelenruhig, »und zwar gerade deshalb, weil ich bereit bin, dafür zu büßen, ganz egal, wie. Denn mein Leben hat für mich jetzt keinerlei Wert.«

Polina lacht lauthals auf:

»Das letzte Mal auf dem Schlangenberg sagten Sie mir, Sie wären bereit, auf ein einziges Wort von mir kopfüber von der Klippe zu springen. Und das in tausend Fuß Höhe! Und wissen Sie was: Eines Tages werde ich dieses Wort sprechen. Nur um Sie einmal springen zu sehen. Und glauben Sie mir, ich werde es verkraften. Denn ich hasse Sie. Insbesondere dafür, dass ich Ihnen so vieles durchgehen lasse, und noch mehr, weil ich Sie so sehr brauche. Aber solange ich Sie noch gebrauchen kann, muss ich Sie wohl oder übel ungeschoren lassen.«

Schon fängt sie an, nervös aufzustehen. Schon redet sie gereizt. In letzter Zeit beendet sie unsere Gespräche auch immer gereizt und fuchsteufelswild. Ich meine wirklich fuchsteufelswild.

»Und was ist mit Mademoiselle Blanche?«, will ich sie noch zum Reden bringen, bevor sie geht.

»Sie wissen doch selbst, was mit ihr ist. Es gibt seitdem keine neuen Entwicklungen. Sie können ruhig davon ausgehen, dass Mademoiselle Blanche Generalin wird. Natürlich nur, wenn das Gerücht von Großmutters Tod bestätigt wird. Denn Mademoiselle Blanche, ihre werte Frau Mutter und ihr Cousin dritten Grades, der Marquis, sind allesamt bestens darüber im Bilde, dass wir pleite sind.«

»Und der General ist verliebt bis über beide Ohren?«

»Was spielt das jetzt für eine Rolle? Hören Sie mir genau zu: Sie nehmen fein hübsch diese 700 Florine und gehen ins Casino. Dort begeben Sie sich an den Roulettetisch und gewinnen mir gefälligst so viel Sie können. Ich brauche jetzt Geld, ganz unbedingt.«

Sie sagt es, ruft Nadja und geht Richtung Kurhaus, wo sie zu den anderen stößt. Ich dagegen folge dem erstbesten Weg nach links – gedankenverloren, verwundert. Der Befehl, mich an den Roulettetisch zu setzen, trifft mich im Nachhinein wie ein Blitz. Seltsam, ich hätte jetzt wahrlich genug Stoff, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen, aber stattdessen vertiefe ich mich in die Analyse meiner Gefühle für Polina. Und da kann ich nur sagen: Die beiden Wochen, die ich weg war, habe ich leichter ertragen als den heutigen Tag, den Tag meiner Rückkehr. Und das obwohl ich unterwegs wie ein Verrückter an sie dachte, hin und her hüpfte wie ein Hamster im Käfig, und selbst im Schlaf unentwegt ihr Gesicht vor mir sah. Einmal (es war auf der Fahrt durch die Schweiz), bin ich im Waggon eingenickt und habe im Schlaf – aber offenbar laut – mit Polina geredet – zur Belustigung der Mitreisenden. Und zum zigsten Mal frage ich mich: Liebe ich sie oder liebe ich sie nicht? Und zum zigsten Mal habe ich keine Antwort. Beziehungsweise ich sage mir, dass ich sie hasse – zum zigsten Mal. Ja, sie ist mir zutiefst verhasst. Gelegentlich (oder vielmehr jedes Mal gegen Ende unserer Gespräche) ließe ich liebend gern mein Leben, könnte ich ihr einmal an die Gurgel packen! Bestünde die Möglichkeit, ein scharfes Messer schön langsam in ihre Brust zu bohren, ich schwöre, ich täte es mit Freuden gern. Dabei, hätte sie dort auf dem Schlangenberg, diesem Aussichtspunkt, nur ein Wort gesprochen: Springen Sie! … – Bei allem, was mir heilig ist, ich wäre auf der Stelle hinabgesprungen, sogar mit dem allergrößten Vergnügen! Ich wusste es, ich wusste es. So oder so, das musste ja kommen. Und sie selbst hat alles perfekt im Griff: Der bloße Gedanke daran, dass ich weiß – und zwar in aller Deutlichkeit – wie unerreichbar sie für mich ist und dass all meine Fantasien eben nur Fantasien sind, erfüllt sie mit unsäglicher Lust. Oder wie lässt sich sonst erklären, dass sie – eine kluge, umsichtige Frau – vor mir jede Maske fallen lässt? Ich glaube, sie hat mich bislang ähnlich gesehen, wie jene antike Herrscherin, die sich vor einem Sklaven auszog, weil sie ihn nicht für einen Menschen hielt. So hat auch sie mich, weiß Gott wie oft, nicht für einen Menschen gehalten …

Aber jetzt ist da dieser Befehl, unbedingt am Roulettetisch zu gewinnen. Keine Zeit, sich groß Gedanken zu machen, wofür, wie schnell ich gewinnen soll? Oder was dieser ewig berechnende Kopf sonst noch so ausbrütet? Außerdem sind wohl in den letzten zwei Wochen jede Menge Fakten hinzugekommen, von denen ich überhaupt nichts weiß. Das alles gilt es nun herauszufinden, nachzuvollziehen – und das schnell, schnell, schnell. Doch vorerst, wie gesagt: Keine Zeit. Rasch an den Roulettetisch!

Kapitel 2

Tja, es ist alles andere als angenehm. Zwar habe ich mir gesagt: Ich spiele, aber ich meinte damit: Für mich und nicht etwa: Für jemand anderes. Es verwirrt mich reichlich, ich betrete die Spielbank mit mehr als gemischten Gefühlen. Und nichts von dem, was ich sehe, gefällt mir. Ich hasse ja ohnehin die servilen Bücklinge in der (beinahe gesamten!) Weltpresse, insbesondere in unseren russischen Gazetten, wo jahraus, jahrein das Feuilleton im Frühjahr zwei Dinge bejubelt: Erstens, die rheinischen Casinostädte mit Spielbanken voller Glanz und Glorie, zweitens, diese ganzen Berge von Gold, die sich dort überall auf den Spieltischen türmen. Die Redakteure bekommen ja kein Honorar dafür, sie tun es unentgeltlich, aus freien Stücken, gleichsam im vorauseilenden Gehorsam! Nur dass diese lumpigen Hallen alles andere als glanzvoll sind, und was die Berge von Gold anbelangt, so fehlt von ihnen schlicht jede Spur (wie auch überhaupt von Gold). Natürlich – hie und da – im Verlauf der Saison – kommt es mal vor (wie in diesem Sommer), dass irgend so ein komischer Vogel, ein Engländer, ein Asiate, ein Türke auf einen Schlag sehr viel verliert oder gewinnt. Doch der Rest spielt kleinmütig, macht mickrige Einsätze, und für gewöhnlich liegen auf dem Tisch kaum nennenswerte Beträge. Ich betrete den Saal (wohlgemerkt: zum ersten Mal in meinem Leben) und kann mich nicht gleich zum Spiel entschließen. Auch fühle ich mich von der Menge beengt. Aber selbst wenn ich allein wäre, ich glaube, ich würde eher gehen als spielen. Ehrlich gesagt, ich habe Herzklopfen und bin nicht gerade die Ruhe in Person. Ich wusste es, ich habe es geahnt! Ohne Zwischenfälle werde ich Roulettenburg nicht verlassen! Irgendetwas wird unbedingt passieren, etwas Einschneidendes, etwas Fatales. Was geschehen muss, wird geschehen. Es mag ulkig erscheinen, dass ich so sehr aufs Roulettespiel setze – ich selbst jedenfalls finde es weitaus ulkiger, brav zu glauben, dies sei naiv. Ist das Spiel etwa schlechter als jedes andere Mittel der Geldbeschaffung – als Handel, zum Beispiel? Es ist schon wahr: Es gewinnt nur einer von hundert. Was aber kümmert’s mich?

Wie dem auch sei, ich beschließe, mich erst einmal umzuschauen und nichts Ernstes zu unternehmen – jedenfalls nicht heute Abend. Denn heute Abend – sollte da etwas geschehen, dann höchstens spontan und nichts von Belang. Das beschließe ich jetzt. Außerdem muss ich mich selbst erst einmal in das Spiel hineindenken. Aus den vielen Beschreibungen, die ich immer wieder eifrig studiert habe, konnte ich den Ablauf bisher nicht wirklich nachvollziehen. Es geht doch nichts über eigene Erfahrung.

Zunächst einmal muss ich feststellen, dass hier alles sehr schmutzig ist – im moralischen Sinne – abstoßend, schmutzig. Und damit meine ich nicht all diese Gesichter, gierig und fiebrig, die sich zu Hunderten, ja Tausenden um die Spieltische tummeln. Ich kann in dem Wunsch, schnell reich zu werden, nichts, aber auch gar nichts Schmutziges entdecken. Ich erinnere mich an das ausgesprochen alberne Wort eines wohlbeleibten, gut betuchten Moralapostels, der auf jemandes Beschwichtigungsversuch, schließlich spielte man um kleinere Beträge, antwortete: Umso schlimmer, dann ist es eben die kleinliche Gier. Die kleinliche Gier, die gewaltige Gier, wo ist da bitte der Unterschied! – Es ist bloß eine Frage der Dimension! Was für Rothschild klein ist, ist für mich gewaltig. Und was den Geiz und die Habsucht anbelangt, so kann ich nur sagen: Menschen versuchen sich doch überall übers Ohr zu hauen, nicht nur am Roulettetisch! Und ob Gewinn und Profit an sich widerlich sind, ist eine völlig andere Frage, und die will ich hier überhaupt nicht erörtern. Nur noch so viel dazu: Da ich selbst im höchsten Maße von der Gewinnsucht besessen bin, scheint mir diese ganze Raffgier und dieser ganze, wenn man so will, raffgierige Schmutz bereits beim Eintreten irgendwie vertraut und heimelig. Das ist doch ohnehin das Beste, wenn man nicht allzu zimperlich ist, sondern offen und zwanglos handelt. Und wozu auch sich selbst betrügen? – Die dümmste und sinnloseste Sache der Welt! Das Hässlichste an diesem Pack ist bereits auf den ersten Blick jene Hochachtung vor dem eigenen Tun, jene Ernsthaftigkeit, ja, sogar Ehrfurcht, mit der sie alle an den Tisch treten. Das ist der Grund dafür, warum hier die Dinge so scharf voneinander getrennt sind: So gelten einige Spiele als verpönt, andere wiederum als schicklich. Es gibt zwei Arten von Spielen – das eine ist für Gentlemen, das andere für den Pöbel (schäbige Schieberseelen, Geschmeiß). Hier sind sie scharf voneinander getrennt – und wie ist diese Trennung doch im Kern perfide! Ein Gentleman, zum Beispiel, kann fünf oder zehn Louisdors setzen – selten mehr –, er kann aber auch 1000 Francs setzen, wenn er besonders reich ist – aber alles nur so zum Spaß, nur zu seinem eigenen Vergnügen. Mehr oder weniger allein, um den Prozess von Gewinn und Verlust zu erkunden. Nicht weil er sich für den Gewinn interessiert. Er könnte zum Beispiel nach dem Gewinnen laut loslachen oder einem der Spieler gegenüber eine Bemerkung machen. Er könnte sogar noch einmal setzen, den Einsatz verdoppeln, einzig aus Neugier, um seine Chancen zu studieren – der Statistik, nicht des schnöden Gewinns wegen. Kurzum, in all diesen Spieltischen mit Roulette und trente et quarante soll er nichts weiter als Unterhaltung sehen, ersonnen zu seinem Zeitvertreib. Die ausgefuchsten Tricks der Bank (gewissermaßen ihre Existenzberechtigung) darf er indes nicht einmal erahnen. Mehr noch, er gibt eine umso bessere Figur ab, je weniger er in den übrigen Spielern das Gesocks erblickt, welches da um einen lausigen Gulden bangt, sie vielmehr für genauso begüterte Gentlemen hält, wie er selbst einer ist, die nur aus reinem Zeitvertreib spielen. Ja, ein blauäugiges Menschenbild und die völlige Unkenntnis der wahren Verhältnisse wirken gewiss besonders vornehm. So manch eine Mutter schiebt ihr unschuldiges, hübsch gekleidetes Töchterchen vor – so ein Fräulein von fünfzehn, sechzehn Jahren –, drückt ihm ein paar Goldstücke in die Hand und zeigt, wie man Einsätze macht. Das gute Kind gewinnt oder verliert mit demselben bezaubernden Lächeln auf den Lippen und verlässt den Tisch sichtbar zufrieden. Und da erscheint am Spieltisch unser General – solide und würdevoll. Ein Lakai stürzt herbei und hält ihm einen Stuhl hin, doch der General bemerkt ihn nicht. Sehr langsam holt er seine Brieftasche hervor, sehr langsam entnimmt er ihr 300 Goldfrancs, setzt sie auf Schwarz und gewinnt. Er nimmt das Geld nicht, es bleibt auf dem Tisch. Wieder Schwarz, wieder bleibt es auf dem Tisch. Als die Kugel beim dritten Mal auf Rot fällt, verliert er 1200 Francs. Er verlässt den Spieltisch mit einem Lächeln, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich weiß aber, welche Qual ihn durchfährt! Wären die Einsätze doppelt so hoch, er würde sofort aus der Rolle fallen, nervös werden. Und doch hat direkt vor meinen Augen ein Franzose an die 30000 Francs verspielt und das ohne die geringste Regung. Was nämlich ein echter Gentleman ist, verliert womöglich sein gesamtes Vermögen, aber niemals seine Fassung. Geld hat stets unter seiner Würde zu sein – es ist nichts, worüber man sich Sorgen macht. Noblesse oblige! Das Edelste wäre, diesen Schmutz, dieses Pack, dieses ganze Milieu einfach nicht zu beachten. Doch nicht weniger edel wäre auch das schiere Gegenteil davon: Es sehr wohl zu beachten, zu betrachten, ja, sogar zu bestaunen – von mir aus durchs Opernglas – als eine Art Amüsement, als eine Attraktion speziell für Gentlemen. Sie könnten jetzt mitten in der Menge sein, aber sich auf eine Weise umsehen, dass auf der Stelle deutlich wird: Ich bin nur ein distanzierter Beobachter und gehöre keinesfalls dazu. Freilich – zu viel ist ungesund und wäre nicht allzu gentlemanlike, denn diese Form von Unterhaltung verdient an sich keine gesteigerte Aufmerksamkeit. Überhaupt gibt es nur wenige Spektakel, die eine gesteigerte Aufmerksamkeit seitens des Gentlemans verdienten. Dabei habe ich selbst eher den Eindruck: Dies alles verdient sehr wohl eine gesteigerte Aufmerksamkeit, insbesondere für denjenigen, der nicht zum bloßen Beobachten herkommt, sondern sich mit vollem Herzen und gutem Gewissen zu all diesem Dreck dazuzählt. Und was meine innigsten moralischen Überzeugungen anbetrifft, so haben sie in diesen Randbemerkungen selbstverständlich nichts verloren. (Was soll ich sagen: So ist es nun mal. Ich erwähne es auch nur ehrlichkeitshalber.) Und was ich noch feststellen muss: Seit Neuestem empfinde ich es als im höchsten Maße widerlich, meine Handlungen und Gedanken an moralischen Normen auszurichten, und zwar: an egal welchen. Etwas anderes treibt mich an …

Das Pack spielt in der Tat sehr unsauber. Ja, ich bekomme allmählich den Eindruck: Hier am Tisch findet tagtäglich Diebstahl statt. Auf jeden Fall haben die Croupiers, die an den Tischenden sitzen, die Einsätze prüfen und die Gewinne auszahlen, alle Hände voll zu tun. (Noch so ein Pack! Die meisten sind Franzosen.) Im Übrigen beobachte ich hier nicht das Roulettespiel, um es zu beschreiben, sondern nur, um mich selbst darauf einzustellen, um zu wissen, wie ich mich verhalten soll. So ist es zum Beispiel nichts Außergewöhnliches, wenn am Tisch irgendeine Hand erscheint und einheimst, was du gewonnen hast. Ein Tumult bricht los, oft genug mit Gekeife. Und versuch du dann einmal zu beweisen und glaubhafte Zeugen dafür zu finden, dass es auch wirklich dein Einsatz war! Viel Spaß dabei!

Anfangs kommt mir dieser ganze Hokuspokus reichlich spanisch vor. Ich erkenne nur – und selbst das mit einiger Mühe: Gesetzt wird auf Zahl oder auf Farbe, auf Gerade oder Ungerade. Von Polinas Geld rühre ich an diesem Abend versuchsweise 100 Gulden an. Die Tatsache, dass ich nicht für mich, sondern für jemand anderes spiele, stört mich. Ein höchst ungutes Gefühl, das ich schnell loswerden will. Es ist, als würde ich, indem ich für Polina spiele, mein eigenes Glück im Keim ersticken. Ach, es ist offenbar nicht möglich, an den Spieltisch zu treten, ohne sich im gleichen Moment von Aberglauben anstecken zu lassen … Als Erstes nehme ich fünf Friedrichsdor (das ist so viel wie 50 Gulden) und setze sie auf Gerade. Das Rädchen dreht sich, die Kugel fällt auf Dreizehn – und ich verliere. In überreizter Stimmung und einzig nur, um das hier irgendwie abzuschließen und mich losreißen zu können, setze ich noch einmal fünf Friedrichsdor, diesmal auf Rot. Rot gewinnt. Nun setze ich alle zehn Friedrichsdor – und wieder einmal gewinnt Rot. Ich bekomme 40 Friedrichsdor bar auf die Hand und setze 20 davon auf die zwölf mittleren Zahlen, ohne zu wissen, was daraus wird. Da bekomme ich das Dreifache ausgezahlt. Aus zehn Friedrichsdor sind 80 geworden. Ein bizarres, seltsames Gefühl – unerträglich! Ich beschließe, auf der Stelle zu gehen. Für mich selbst hätte ich zweifellos anders gespielt. Dennoch setze ich alle 80 Friedrichsdor noch einmal auf Gerade. Und dieses Mal gewinnt die Vier. Das ergibt noch weitere 80 Friedrichsdor. Ich sammle den ganzen Haufen von 160 Friedrichsdor ein und gehe Polina Alexandrowna suchen.

Sie alle flanieren irgendwo im Park, darum sehe ich sie erst beim Abendessen. Diesmal ist der Franzose nicht dabei, und der General nimmt sich mir gegenüber folgendes heraus: Er möchte doch abermals freundlichst drum bitten, dem Casino fernzubleiben. Das wäre doch für ihn ausgesprochen blamabel, sollte ich einmal zu viel verlieren. »Aber selbst wenn Sie einmal zu viel gewinnen, bin ich genauso kompromittiert«, fügt er bedeutungsvoll hinzu. »Natürlich habe ich nicht das Recht, Ihnen zu diktieren, aber Sie wissen ja selbst …« – Wie gewohnt, spricht er nicht zu Ende. Ich versetze kühl, ich hätte nicht genug, um mit meinem eventuellen Verlust zu viel Aufsehen zu erregen, selbst wenn ich spielen sollte. Oben angelangt, schaffe ich es noch, Polina ihren Gewinn auszuhändigen und ihr mitzuteilen, dass ich nächstes Mal nicht mehr für sie zu spielen gedenke.

»Aber warum denn nicht?«, fragt sie aufgebracht.

»Weil ich für mich spielen will«, antworte ich und sehe sie verwundert an, »und das stört.«

»Dann sind Sie also nach wie vor der Überzeugung: Nur das Roulettespiel kann Sie retten?«, fragt sie spöttisch. Worauf ich – sehr ernst – mit Ja antworte. Und was meine Siegesgewissheit anbelangt, so mag das sehr lustig sein, meinetwegen. Dennoch wünsche ich, in Ruhe gelassen zu werden.

Polina Alexandrowna will unbedingt meinen heutigen Gewinn mit mir teilen. Sie versucht, mir 80 Friedrichsdor, also die Hälfte, in die Hand zu drücken, dies sei auch die Bedingung für weiteres Spielen. Ich schlage es aus, ein für alle Mal, und erkläre, ich kann nicht für andere spielen, nicht weil ich es nicht möchte, sondern weil ich mit ziemlicher Sicherheit verlieren werde.

»Auf die Gefahr hin, dass es albern klingt, aber ich selbst habe höchstwahrscheinlich auch keine andere Hoffnung als das Roulette«, sagt sie nachdenklich. »Und darum müssen Sie ganz unbedingt das Spiel fortsetzen, und wir teilen uns den Gewinn. Sie müssen und Sie werden!« Da dreht sie sich um und lässt mich stehen, ohne sich meine weiteren Ausführungen anzuhören.

Kapitel 3