Über das Buch

Die ungewöhnliche Freundschaft mit einem alten arabischen Geschichtenerzähler bringt den israelischen Soldaten Uri bald in Konflikte, offenbart ihm Widersprüche und Ungereimtheiten in politischen Fragen und persönlichen Freundschaften und führt unausweichlich zu einer Situation mit tragischem Ausgang. Der Roman wurde von der israelischen Literaturkritik als Meilenstein gefeiert - zum einen, weil er das ängstlich vermiedene Thema der Besatzung aufgreift, zum anderen wegen seiner einfühlsamen Bilder und der faszinierenden Gestalt des alten Mannes.

David Grossman

Das Lächeln des Lammes

Aus dem Hebräischen
von Judith Brüll

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe

Siman Kri’a, Tel Aviv 1983.

ISBN 978-3-446-25519-7

Alle Rechte vorbehalten

© 1988/2016 Carl Hanser Verlag München Wien

Umschlag: Klaus Detjen, Hamburg unter Verwendung von Landschaft am Meer (1914) von August Macke

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1

Nein. Nein. Ich habe sie alle erfunden. Ich will, daß du mir glaubst, Chilmi. Auf diese Weise wird es für uns beide leichter sein. Schosch, die ich geliebt habe und die ich vor drei Tagen verließ, und Katzman, der weit weg in Italien blieb, und auch den Jungen, der vor Liebe starb und dessen Namen ich nicht einmal kannte. Alle. Sogar dich, Chilmi. Glaub mir, es ist besser für dich, nur mein Traumbild zu sein. Bei mir ist es ruhig und sicher, und die Dinge sind genau das, was sie zu sein scheinen. Es gibt keine Überraschungen. Natürlich würde ich nie von dir verlangen, Teil meines Lebens zu sein. Dieses Lebens, das man irrtümlich »Realität« nennt. Es ist furchtbar gefährlich und hinterhältig dort, und nichts ist so, wie es scheint. Aber als Geschichte, Chilmi, als kan-ja-ma-kan?

Wenn du damit einverstanden bist, so laß uns anfangen. Wir fangen am besten gleich an, bevor ich dein Dorf erreiche und dir das erzählen werde, was ich so sehr zu erzählen fürchte. Es ist für uns beide besser, wenn wir uns verstecken, uns aneinanderschmiegen und die Decke über den Kopf ziehen. Also, Chilmi, kan-ja-ma-kan, es-war-oder-war-nicht, wie alle deine Geschichten beginnen, während wir nur sagen: es war einmal, vor langer langer Zeit, in einem fernen Land …

Und ich dachte immer, solche Dinge seien nur neben deinem Zitronenbaum möglich. In der Dunkelheit deiner Höhle, zwischen den kleinen Hebeln und Zahnrädern, den Vorhängen aus Spinnweben. Zwischen den Töpfen aus Ton, die du eines Tages mit besonders leichter Luft füllen wirst, und mit denen du versuchst, wieder an einen anderen Ort zu fliegen. Das ist es, was ich immer gedacht habe, aber jetzt stellt sich heraus, daß ich mich geirrt habe; es scheint, als könne es kan-ja-ma-kan auch in Tel Aviv geben, im gleißenden Licht der Sonne, im grellen Neonschein, in sauberen, weißgestrichenen Zimmern, an Orten, wo jedes Wort, das man sagt, auf Tonband aufgenommen und aufgeschrieben wird. Auch dort kann es das geben.

Also – kan-ja-ma-kan, Chilmi; ich muß es so sagen wie du, den Kopf nach hinten lehnen an den Stamm des Zitronenbaumes, die Augen schließen, tief Luft holen und sie mit einem Summen wieder ausatmen, wie jemand, der einen langen Faden aus seinem Bauch zieht, und da kommt es schon, kan-ja-ma-kan, es war einmal ein Mädchen, das war so klein, daß es mir kaum bis zur Schulter reichte, und es hatte ein frisches, offenes Gesicht, und es trug eine Brille, rund und klar, und sein Name war Schosch.

Es war einmal ein gutherziges Mädchen, das sich selbst im Wald besuchen ging und sich dabei verirrte, und es verstreute – hör gut zu, Chilmi – Kerne der Liebe, damit es den Weg zu sich selbst wiederfände, und um zu sich selbst zurückzukehren, grub es Tunnel in die härtesten und schwierigsten Menschen und kroch in der Ringform durch sie hindurch, so nannte es das, kan-ja-ma-kan.

Genug. Ich spiele Komödie. Ich habe keine Kraft für diese Geschichte. Ich habe keine Kraft, zu Chilmi zu fahren und ihm zu erzählen, was geschehen ist. Hier sollte ich das Auto, das ich Katzman gestohlen habe, wenden, direkt nach Tel Aviv fahren und in ihre Geschichte einsteigen. Denn allein wird sie es nicht schaffen, das hat auch Katzman gesagt, der flehte mich an, geh zu ihr, Uri, du bist der einzige, der jetzt den Schaden wiedergutmachen kann.

Aber ich werde es nicht tun. Ich werde es nicht tun. Ich brauche jetzt all meine Kraft, um zu zerstören. Um alles zu tilgen, was ich mit ihr hatte – die Dinge, die wir uns sagten, und die Träume, die wir träumten; doch scheinbar ist es nicht so leicht, wie es sich anhört, denn schon seit drei Tagen, seit ich sie verlassen habe, versuche ich es. Ich kämpfe und zerstöre, verhöhne die Geheimnisse, die wir miteinander hatten, die kleinen Versprechen, die wir einander gaben, ich trete gegen die Möbel, die ich für uns gebaut habe, lösche mit all meiner Kraft die-so-erstaunlich-einfachen-Worte, wie sie es nannte, aber es klappt nicht, und ich verstehe das nicht, denn man könnte doch annehmen, daß diese Dinge, die Träumereien und Lügen, auf wackligen Beinen stehen und es genügt, mit dem Finger auf sie zu zeigen, um sie zum Einsturz zu bringen. Aber es ist nicht so. Und wenn ich versuche, sie aus mir herauszuziehen, kann ich genau fühlen, wo die Wurzeln sich in meinem Inneren spannen, und ich sehe, daß es einer oder zwei Lügen gelungen ist, sich als mein eigener privater Schmerz zu verkleiden, als Worte, für die es außerhalb meines Körpers keine Übersetzung gibt, und ich weiß nicht, was von mir übrigbleiben wird, nachdem all das Zerstören und Tilgen zu Ende ist.

Kan-ja-ma-kan, es war einmal – und gibt noch heute – Dörfer, die an beiden Seiten der schmalen Straße erwachen, und Prinzessinnen aus fernen Zeiten in prachtvoll bestickten Kleidern, die in der Dunkelheit hinausgehen und Mist sammeln, um die tabuns zum Brotbacken anzuzünden, und Rauch, der allmählich aufsteigt, und Felder, die noch völlig grau sind, aber in wenigen Augenblicken, wenn die Sonne aufgeht, schrecklich brennen werden.

Hier ist es wie in der italienischen Provinz. Vielleicht zieht es mich deshalb so sehr in diese Gegend. Vielleicht verspürte ich deshalb plötzlich Sehnsucht nach mir selbst. Hier ist es wie in meinem Santa Anarella, das nach einem weiteren nächtlichen Erdbeben wieder zum Leben erwacht; und die Olivenbäume mit den blaugrauen Blättern strecken sich auch hier und gähnen aus den Löchern in ihren Stämmen. Nur daß dort die Katastrophe kurz und schnell war, während sie hier schon fünf Jahre anhält und vor sich hin dämmert. Die Zeit – so sagt Avner – drang hier durch die Poren des Unrechts ein wie ein Gift, das den Körper lähmt und die Korpuskeln der Vernunft zersetzt.

Da ist ein Esel. Hallo Esel. Du bist noch ein junges Tier. Haben sie dir nicht gesagt, daß du dich vor Autos fürchten sollst? Daß du von der Straße herunter mußt, wenn du eines kommen siehst? Na gut. Ich werde warten, bis du mir aus dem Weg gehst. Sie haben dir wohl die Beine zusammengebunden, was? Aha, ich sehe, daß ich dich interessiere. Nein? Warum schaust du mich dann so an? Du hast eine kleine Mähne, die naß ist vom Tau. Lauf nach Haus zu deiner Mutter, sie wird sie dir trockenlecken. Und nun muß ich weiter. Nein, nein, beweg dich nicht. Es fällt dir schwer, deine Beine zu rühren. Ich werde um dich herumfahren, so vorsichtig wie möglich. Wie nett von dir, zu kommen und meine Geschichte ein wenig zu verschönern. Ach, kleiner Esel, ich sah deinen toten Bruder aufgeschlitzt und verfault in der Gasse des Elsa’adije-Viertels liegen, und darum fällt es mir etwas schwer, vor dir zu sitzen und Gesichter zu ziehen, weil ich plötzlich durch dich hindurch in dein Inneres sehen kann, und verzeih mir, wirklich, aber irgend etwas in mir scheint schiefgegangen zu sein. Ich wußte nicht, daß man auch hinter die Dinge sehen muß.

Wohin fahre ich? Chilmi selbst ist doch nur kan-ja-ma-kan. Nur ein Märchen, das Märchen erfindet. Wie kann ich seinem ganzen Unsinn glauben. Hirngespinste eines Irrsinnigen. Alle seine Geschichten über Darios, seinen Erlöser und Wohltäter, und über den Jäger, der Löwen in den Sand malte, und sogar Chilmis toten Sohn Jasdi, der arme Idiot, auch er ist ein Märchen, ich schwör’s, ein unverständliches Märchen.

Nichts ist verständlich. Schosch sagte, daß die Dinge, die wir zu verstehen fähig sind, die gegebenen Tatsachen, die zurückgebliebenen Tiere in einer imaginären Herde seien. »Das darwinsche Gesetz des Bewußtseins« nannte sie das. Auf diese Weise schützen sich die anderen Tiere in der Herde vor der tödlichen Berührung mit unserem Verstand. Was uns betrifft, so sind wir gezwungen – erklärte sie –, von der schlechtesten Nahrung zu leben, und das Jagen macht keine Freude.

Es war auf unserer Reise ins Ausland, als sie plötzlich begann, vom Jagen zu sprechen und an Begriffen herumzufeilen, und ich begriff nicht, was sie mir sagte. Warum sie das Jagen überhaupt aufbrachte. Wir waren doch Bauern, die das eigene Feld bearbeiteten, Schulter an Schulter, so hatten wir es einander stets versprochen, Glückseligkeit wie Kartoffelsuppe, wie ein kleiner Faden, der in die doppelte Decke gewebt war; und wie wurden wir plötzlich zu Jägern, und wen würden wir jagen?

Kan-ja-ma-kan, der Tod ist schrecklich nah gekommen. Der Tod von Chilmis Sohn Jasdi, und der Kadaver des Esels in der Gasse, und der Junge von Schosch. Wie abgebrannte Zündhölzer sind sie alle, aber wenn ich sie zusammenbringe, wird eine Flamme auflodern, und durch ihr Licht werde ich mich selbst erkennen und wissen, was mit mir geschehen ist. Vor drei Tagen schaltete ich das Tonband auf Schoschs Schreibtisch ein und hörte, was sie dem Jungen sagte: Du weißt nicht, was du bist und was in deinem Inneren ist, Mordi, und erst wenn die Dinge zum Vorschein kommen, in Form eines Gedichts oder eines Aufschreis, oder wenn sie in Gestalt eines schönen Bildes herausströmen, erst dann wirst du dich selbst durch sie erkennen. Und ich habe bereits Angst davor, was jetzt bei mir zum Vorschein kommen wird.

Doch genug. Ich habe sie schon gelöscht. Ich gehöre ihr nicht mehr. Ich gehöre jetzt hierher. Zu dem schmalen, verschlungenen Weg, zu den braunen Hühnern, die sich unter die Räder des Autos flüchten; ich fahre in einem ganz weichen Nebel, der sich sanft bis zu den Hügeln hinzieht, zu den Olivenbäumen, den Mauern aus Schlamm, den schmutzigen Straßen und den in Staub gezeichneten Pfaden, denn dies ist Santa Anarella, es erwacht aus der nächtlichen Katastrophe, die kurz und schnell war, weshalb auch die Genesung schnell sein wird, und die Menschen hier werden lächeln wie das schmutzige italienische Baby, das Katzman auf seine Schultern hob und mit dem er rund um die Feldküche galoppierte, und ich fahre immer dorthin, zu den weißen Zelten mit den roten Kreuzen und zu der verwundeten Erde und den nachts schwer atmenden Feldern, und obwohl ich nur zwei Wochen meines Lebens dort verbracht habe, ist es der Ort, zu dem ich zurückkehren werde, zu dem, was dort geduldig auf mich wartet, zu meiner ersten Liebe zu mir selbst, denn es war dort, daß ich mich – nach dem, was aus mir hervorging – erkannte.

Halt an, Uri. Kehr um, kehr um. Niemand hat von dir verlangt, nach Andal zu fahren und Chilmi zu erzählen, daß sein Sohn Jasdi tot ist. Es ist die Katastrophe, die dich anzieht, sie ist es, zu der es dich zieht. Du bist ein Bote, den niemand gesandt hat, du wirst nur hingezogen oder hingedrängt, das war schon immer so. Kehr um, Uri, du wirrer Irrer, das ist kein Job für dich.

Die letzte Nacht war zu lang. Und auch die Nächte davor waren schwer für mich wegen der Gedanken und des Hungers. Es war fast, als hätte jemand in mir wieder einmal einen Hungerstreik ausgerufen, wie damals im Internat, im Grünen Dorf, und auch diesmal hatte ich herrliche Gründe, in Hungerstreik zu treten: wegen allem, was Schosch mir angetan hatte, wegen allem, was sie dem Jungen angetan hatte, aber das ist nicht der Grund, weswegen ich hungrig bin, der Grund ist, daß mein Magen von dem Moment an blockiert war, als Schosch die Beine übereinanderschlug und ihre Finger zu zittern begannen und sie sagte, es sei an der Zeit, ein offenes und grundsätzliches Gespräch zu führen. Und seitdem kann ich einfach nichts mehr essen.

Und die letzte Nacht war die schwerste, weil in Dschuni gekämpft wurde, und am frühen Morgen kehrten die Soldaten ins Hauptquartier zurück, und ich hörte, wie der Gasofen in der Küche zu brummen begann, und der Geruch von Kaffee und die Stimmen leise, zu leise sprechender Menschen kamen mir entgegen, und ich bekam ein wenig Angst, denn vorher hatte ich auch einen Hubschrauber abheben hören, und ein Hubschrauber bedeutet nie Gutes. So lag ich also in der Haftzelle, die man für mich hergerichtet hatte, und betrachtete die Fenstergitter. Ich konnte die ganze Zeit den Kadaver riechen, aber das war nur Einbildung, denn die Gasse liegt weit vom Hauptquartier entfernt. Und obwohl ich das wußte, roch ich ihn immer noch, und ich dachte schon, ich fange an durchzudrehen vor lauter Hunger und Gedanken.

Da hörte ich, wie Katzman die Treppe herunterkam, und atmete erleichtert auf. Bei diesen Schritten kann man sich nicht irren. So hatte ich ihn zum ersten Mal in Santa Anarella gesehen. Er ging wie ein krankes Tier, mitten auf der Straße, als würde er ständig gegen Wände stoßen, obwohl sie alle eingestürzt waren. Aber jetzt hatte er eine Maschinenpistole bei sich. Alles ist irgendwie in die Brüche gegangen. Alles, was wir miteinander hatten.

Und er kam und fummelte mit den Schlüsseln und schloß die Tür auf. Dann stand er über mir und sagte ohne Zorn, hör auf, dich wie ein Kind aufzuführen, Uri, und mach die Augen auf. Ich weiß, daß du nicht schläfst. Also machte ich die Augen auf und sah ihn an. So dünn. Seine gelähmte Oberlippe hing traurig über seinen Mund. Ich fragte, ob es Verletzte gebe.

Er sagte: »Nur auf ihrer Seite. Drei.«

»Und der Hubschrauber?«

»Ist vom Oberst. Er war die ganze Nacht über hier. Es war eine miese Sache, Uri.«

Er setzte sich aufs Bett und legte den Kopf zwischen die Hände. Sein schütteres Haar war dreckig und zerzaust und er stank nach Schweiß, und alles in allem tat er mir leid, denn er würde mich noch heute loswerden müssen, und wirklich, nach all dem, was ich ihm angetan hatte, konnte er nicht zulassen, daß ich länger in Dschuni blieb.

»Willst du Kaffee, Uri?«

Und da hätte ich ihm alles erzählen sollen. Du sollst wissen, Katzman, daß ich schon seit drei Tagen, genauer gesagt: seit über sechzig Stunden jegliche Nahrung verweigere, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, und ich werde damit fortfahren, bis du den Kadaver aus der Gasse wegräumst. Aber es ist natürlich nicht wegen des toten Esels, daß ich nicht einen Krümel Nahrung zu mir nehmen kann, sondern aus einem ganz anderen Grund – aber ich sagte nur, soviel ich wüßte, seien Häftlinge nur zu einer lauwarmen Tasse Tee am Morgen berechtigt, und er sagte leise und ohne Zorn, du kannst mich mal am Arsch lecken, Uri, du weißt genau, warum du hier bist. Und damit hatte er recht.

Und dann: »Uri –«

»Was?«

»Einer von dreien, die letzte Nacht getötet wurden –«

»Ja?«

»Der Sohn deines Freundes.«

»Welcher Freund?«

»Der Alte. Der aus Andal.«

O Mann, wie ich zusammenzuckte. Einen Augenblick lang konnte ich hören, wie Chilmi mir sagte, so deutlich, als wäre er mit uns im Zimmer: »Jasdi, das Kind, ist ein Idiot«, und gleich danach sah ich Chilmi an unserem letzten gemeinsamen Abend vor mir, wie er in der Höhle saß und mir mit einer seltsamen, sehnsüchtigen Glückseligkeit zulächelte und leise, wie ein schüchterner Verführer, sagte, daß auch ich, wenn ich nur damit einverstanden wäre, ein herrlicher Idiot sein könnte; und an was erinnerte ich mich noch in diesem Moment – ich erinnerte mich an Schosch, deren Gesicht hart und entschlossen wurde und an deren Hals kranke, blaue Venen anschwollen, als sie zu mir sagte, du hast keine Ahnung, Uri, wie schnell eine Lüge sich mit Schichten lebender Haut zudeckt.

Ich sagte im Flüsterton zu Katzman: Jasdi war ein Idiot, ein zurückgebliebener Junge, der von der Fatach ausgenutzt wurde. Chilmi hat Jasdis Mutter für Geld bekommen, für ein Bündel feuchter Geldscheine, das erzählt er immer. Ihr Vater brachte sie zu Chilmis Höhle, als sie selbst nicht mehr als ein verängstigtes, schwangeres Mädchen war. Katzman rieb sich die Augen und sah noch blasser und erbärmlicher aus als sonst, und ich hob verzweifelt die Augen, und da sah ich, daß der Schlüssel im Schloß steckte.

Jemand hat sie geschwängert, hörst du, Katzman, einer aus dem Nachbardorf, es passiert öfter als man denkt, und sie töten das Mädchen nicht immer gleich, um die Familienehre zu retten, wie die Leute glauben, sie versuchen, es stillschweigend zu regeln, und ihr Vater brachte sie zu Chilmi, damit er sie heiratete und die Schande verschleiert würde – Mensch, war ich nervös, und mein Kopf arbeitete wie verrückt, denn ich sah, daß ein einziger schneller Sprung genügen würde, um die Tür zu erreichen, und ich redete weiter, das eine auf meinen Lippen, etwas anderes in meinem Herzen (ich habe ja doch etwas gelernt in den letzten Tagen) – denn sie verheirateten alle Mädchen, die in Schwierigkeiten geraten waren, mit ihm, und sie verhöhnten ihn dafür, daß er sich bereit erklärte, es zu tun, und sie, Jasdis Mutter, stand dünn und angeschwollen da und sah aus wie eine Schnur mit einem Knoten in der Mitte, und er ließ sie in dem Glauben, daß sie ihn hintergingen, denn nicht mit ihnen führte er Krieg, hörst du, Katzman, es ist etwas kompliziert, das jetzt zu erklären, man muß ihn kennen – und mit einem Satz sprang der Wolf direkt vor Rotkäppchen aus dem Bett, wobei er nicht vergaß, nach dem Militärhemd auf dem Stuhl zu greifen, und dann war er draußen in seinen Unterhosen und schloß die Tür ab, ja, ja, eine ungeheuer große Überraschung, als er sie abschloß und davonlief, schrecklich frei.

Und so schnell ich kann, ziehe ich draußen im Korridor mein Hemd an, fummele an Knöpfen und Knopflöchern, erlaube Schosch, meinen Kragen im Nacken in Ordnung zu bringen, während ich still vor mich hin lache, öffne eine Tür im zweiten Stock, taste im Dunkeln, ergreife ein fremdes Paar Hosen und einen Khaki-Pullover, und schon bin ich draußen. Ich probiere die Hose an, sie ist zu groß. Macht nichts. Ich renne schnell am Speisesaal der Offiziere vorbei, höre Schaffer über den gestrigen Kampf reden. Ein richtiger Bär, dieser Schaffer. Gestern wäre er fast über mich hergefallen. Auf dem Boden, neben den Toiletten, liegt ein Funkgerät. Jemand ist dort drin, er pinkelt und pfeift dabei vor sich hin, und inzwischen ist sein Funkgerät weg. Du mußt besser aufpassen, mein Freund. Ich renne weiter. Im Hinterhof stehen die Fahrzeuge. Die Motoren dampfen noch. Ich entscheide mich für Katzmans Carmel, mit dem ich mich am besten auskenne. Die Schlüssel stecken noch im Zündschloß. Der Wachtposten öffnet irritiert ein Auge, und ich hupe ihn ohne Probleme aus dem Weg.

Danach öffnet sich alles.

Aber davor: bevor ich mich auf den Weg mache, bevor ich hinausfahre in den weiten Raum, zu den bemalten Dörfern und zu Chilmi, kehre ich noch einmal zum Esel zurück, rase durch die Gassen, die aus dem Markt herausführen, an den verschlossenen Eisengittern der Läden vorbei, flüstere den Kanarienvögeln und Stieglitzen, die noch in ihren Käfigen schlafen, guten Morgen zu, fahre um das runde Podest von Abu Marwan, Dschunis feschestem Polizisten, herum, streife den alten Wasserbrunnen, spritze Schlamm aus der vertrauten Pfütze vor der Moschee, erreiche die Gasse und halte an.

In der klaren Morgendämmerung scheint selbst der Gestank erstarrt zu sein. Auf dem aufgeplatzten und aufgeblähten Kadaver stehen jetzt einige Vögel, die sich bei Tage nicht herangewagt hatten. Auch zwei auf dem Bauch liegende Hunde mit tückischem Ausdruck in den Augen starren mich hinter dem Rücken des Esels mißtrauisch an. Aber nur für einen Moment. Dann machen sie sich wieder an die Arbeit. Und in der absoluten Stille höre ich die Geräusche. In Santa Anarella machten uns die Hunde nachts wahnsinnig, als sie die Toten aus den Ruinen oder Massengräbern herauszerrten und auffraßen, und wir hatten nicht mehr genug Kraft, sie fortzujagen. Und jetzt, hier – hier höre ich geräuschvolles Saugen und Nagen und knirschende Zähne. Ich sehe genauer hin: die Vögel stolzieren zierlich auf den bloßen Rippen entlang. Sehr dicht an den Zähnen der Hunde vorbei. Aber sie haben nicht die geringste Angst. Beide Seiten wollen, daß die Sache ruhig verläuft. Wofür habe ich das nötig. Warum bin ich hierhergekommen. Aber es ist gut so. Ich bin gekommen, um vom Esel Abschied zu nehmen. Um zu sehen, wie er im Staub der Gasse und in den Hunden und Vögeln aufgeht. Jetzt beginne ich zu begreifen.

Langsam lasse ich den Motor an, wende, fahre an einem mit Kisten voller Trauben beladenen Dreirad vorbei, an Häusern, die ihre Nachttöpfe und Nachtmenschen ausspeien, und die ganze Zeit über erinnere ich mich, prüfe die einzelnen Punkte, die wichtigsten Worte. Meine Gedanken kommen nicht einen Augenblick zur Ruhe. Aber es macht keinen Sinn, denn Chilmi, zum Beispiel, erzählt sich Geschichten, um sie in Erinnerung zu behalten, wiederholt sie sich immer wieder, und ich erzähle meine, um sie zu vergessen, sie bis ins kleinste auseinanderzunehmen und sie auf diese Weise loszuwerden, um alles loszuwerden, was mich in den letzten Jahren eingesponnen hat – Schoschs wachsender Erfolg am Institut, die problematischen Jungen, die sie knackte, als handelte es sich um Nüsse, und auch die verrückten Fahrten entlang der Biegung bei der Militärverwaltung zur Gasse und wieder zurück, die Beschwerden der Bewohner von Dschuni über die Festnahmen und Beschlagnahmen und Erniedrigungen, ihre müden, klagenden Stimmen, und auch Katzman und Schaffer, die mich von beiden Seiten packen und mich, während ich trete und schreie, zur Haftzelle zerren – es gibt so viel, von dem man sich erbarmungslos befreien muß. Auch von Sussia mit seinem riesigen Körper, der immer nach Frauenparfums riecht, uns von den geheimen Skizzen in seinem Zimmer, den Entwürfen der Drachen-für-den-Massenverbrauch, die er anfertigt, und auch von Avner und den herrlichen Nächten, die wir bei der Bürgerwehr verbringen, wenn wir durch die stillen Straßen gehen und nicht aufhören können zu reden, und von Lea, Schoschs Mutter, und ihrem starken Gesicht und von der Klugheit, mit der sie Avners Willen bezwingt.

Ich vertreibe sie, und sie kommen zurück. Und ich vertreibe sie von neuem. Am Ende werden sie aufgeben und nicht mehr zurückkehren. Ich darf nicht sentimental werden. Die Zeit mit Schosch hat mich weich gemacht, hat mich zu sehr entblößt. Vorher wäre mir das nicht passiert. Zu schnell habe ich mich alldem hingegeben, was ich in ihrem Haus, im Haus von Avner und Lea, vorfand, und ich hatte es schrecklich eilig, alles, was ich vorher war, zu vergessen, und ich hüllte mich in die Familie ein, die sie mir anboten, in ihre so-einfache-Liebe, und ich vergaß, vorsichtig zu sein.

Und darum ist es besser, nicht mehr an sie zu denken. Besser, zur Armee zurückzufahren, zu der Verzweiflung, die mich dort Tag für Tag ausgesaugt hat, zu den Monaten nach der Trennung von Ruthi, dem Mädchen, das ich gar nicht kannte und das ich schrecklich liebte und durch kindische Forderungen tötete. Und noch weiter zurück, zum landwirtschaftlichen Internat, dem Grünen Dorf, und zu den Radieschen und Erdbeeren, die einem beim Pflücken den Rücken brachen, und zu den Spöttern, zu dem du-darfst-nicht-mitspielen-aber-du-kannst-die-Punkte-aufschreiben-Uri, und zu meinen Tauben, die sie schlachteten, und zu Sinder, dem Lehrer, der sagte, daß ich Talent zum Schreiben hätte, wenn ich nur durchhielte, aber wer hatte schon Kraft durchzuhalten, und ich bahne mir meinen Weg durch die klebrigen Klumpen der Erinnerungen, der guten Erinnerungen und der schlechten, und schon ist Chilmis Dorf am Horizont zu sehen, und ein Stück davor mein flüsternder, durchsichtiger Großvater, und nun, im Morgennebel, kann ich mir auch in einem fernen Hof eine hohe Hundehütte mit einer runden Öffnung ausmalen, in der ein rotäugiger Hund mit Schlappohren und einem warmen Körper und großen Wunden auf dem Rücken voller Liebe auf mich wartet. Und wie mein Großvater Amram im Unabhängigkeitskrieg, als ich vier Jahre alt war, ein Gebetbuch und ein bißchen Zwieback nahm und sich damit unter sein Bett legte. Er war damals auf dem Höhepunkt seiner Kraft und auch auf dem Höhepunkt seiner Angst; er lehrte mich, Fremden nicht die Tür zu öffnen und die Melodie eines Bußgebets zu pfeifen, sobald sich die Militärpolizei dem Haus näherte. Seine Söhne, mein Vater und mein Onkel Mosche, wurden von den Jordaniern gefangengenommen, und nur mein Vater kehrte zurück. Er nannte meinen Großvater einen Feigling und Deserteur und schwor sich, nie mehr am selben Tisch mit ihm zu sitzen. Er war ein hartnäckiger, nervöser Mensch, und in der Gefangenschaft drehte er, glaube ich, ein bißchen durch. Er dachte sich ein Gebet aus, damit die Araber schnell und unter großen Schmerzen stürben, und wir mußten es ihm jeden Tag nach dem Morgengebet nachsprechen, aber das reichte ihm noch nicht. Er begann, sein ganzes Geld für den Druck eines besonderen Gebetbuchs auszugeben, das verschiedene von ihm verfaßte Gebete und eine Zahlenmystik enthielt, die er in bezug auf die Araber erfunden hatte, und er pflegte Leute auf der Straße anzuhalten und zu versuchen, sie zu bekehren. In unserem Garten stand ein Schuppen voller Trödel, und er vertrieb meinen Großvater dorthin, und innerhalb weniger Tage, vielleicht sogar Stunden, begann mein Großvater zu altern. Ich habe so etwas noch nie gesehen: er fing an, arabisch zu reden und war sicher, daß er sich im Irak befand, und seine Haut hing in ausgetrockneten Falten an ihm herunter, ich glaube sie raschelte sogar ein bißchen, wenn er sich bewegte. Aber er bewegte sich kaum. In den Ritzen zwischen den Fußbodenplatten des Schuppens gab es rote Ameisen, deren Zukunft er zu prophezeien pflegte, und er erzählte mir wahre Geschichten über sie. Er wurde schrecklich dünn und durchsichtig, lag im Dunkeln auf seinem Bett und halluzinierte im Flüsterton über seine Kindheit, gab mir seltsame Namen, steckte kleine Zettel in seine Matratze und verriet mir Dinge über mich selbst, die ich nicht kannte, da sie mir nie widerfahren waren.

Und mit meinem kindlichen Verstand entschlüsselte ich den verrückten Kode seiner Halluzinationen, kan-ja-ma-kan, es war einmal, es war einmal ein Mann, der lebte in Israel zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges, in Zeiten glorreicher Heldentaten, und er legte seinen Mund an eine andere Brust und saugte mit leidenschaftlicher Hingabe an der Angst. Es war einmal ein kleiner Junge, der haßte seine Eltern und die Schule und die Spötter, die dort waren, und das hier-kommt-Laniado-junior-der-Sohn-des-Verfassers-von-Die-Schuld-von-Samaria, und der Junge pflegte den Unterricht zu schwänzen und zu einem Hof nicht weit von zu Hause zu gehen und dort fast jeden Morgen in der Hundehütte, im Geruch zerdrückten Strohs, neben der großen, warmen Hündin zu liegen und Bücher zu lesen, die er sich aus der Bücherei des Allgemeinen Arbeiterverbandes auslieh, und er erblindete fast vom schwachen Licht, das durch die Ritzen der Hundehütte fiel, und als er heraustrat, war er Michel Strogoff oder David Copperfield oder Ben-Hur und war so glücklich, daß er, wie immer, vergaß, vorsichtig zu sein, und schon kamen die Kinder, die von der Schule nach Hause gingen, legten ihre Ranzen auf den Boden und begannen, im Kreis um ihn herumzugehen.

Fahr weiter. Alles ist Schwindel. Der Platz, zum Beispiel, an dem du jetzt vorbeifährst, mit dem riesigen Eisengerüst einer großen Maschine, die sicher aus der Zeit der Türken stammt, auch dieser Platz und die Dinge, die hier angeblich geschehen sind, und Chilmi, der über ihn hinwegflog wie ein stiller Vogel aus uralten Zeiten, man kann das alles unmöglich glauben, und auch andere Dinge, die an anderen Orten geschahen, kann man unmöglich glauben. Katzmans Vater, der seine eigenen Erinnerungen dem Gedächtnis Katzmans einprägte, und Schosch, die es gelernt hat, die Struktur von der Haut der Lügen so schön aufzusagen, man kann keinem von ihnen glauben, und nicht nur Sussia ist eine Art unergründlicher Held, wie Avner von ihm sagt, den man so lassen muß, wie er ist, und den man nicht zu weit in Richtung Logik drängen darf, wir sind alle nur kan-ja-ma-kan, erfundene Helden aus erfundenen Geschichten, und das einzig Wahre an uns ist der Schmerz, den wir zufügen.

Und da steht Ajesch auf dem Platz vor dem Café aus Blech, mitten im Gähnen erstarrt beim Anblick des Carmels oder vielleicht auch beim Anblick meines Gesichts, aber ich habe jetzt keine Zeit für ihn. Ich halte mitten auf der Straße, vor Chilmis Hügel, renne den Kiesweg hinauf, falle hin, stehe wieder auf, mir ist plötzlich ganz kalt vor Angst, bloß nicht daran denken, was ich ihm zu erzählen habe, nur noch diese schrecklichen Worte aus mir herausspucken, und da ist schon die Wegbiegung vor mir und die Weinlaube am Eingang der Höhle, und neben dem Eingang, auf dem Kalkhang des Hügels, die Aufschrift, die mir in Arabisch, in hellgrüner und unpassender Farbe, »Chaen«, »Verräter«, entgegenschreit, und da ist er, da ist Chilmi, sitzt auf seinem Schemel, sein Kopf ist an den Stamm des Zitronenbaumes gelehnt, und das Radio, das mit einem Strick um seinen Hals gebunden ist, trällert im Flüsterton vor sich hin, und jetzt hat er mich gesehen.

Und von einer gewaltsamen physischen Erkenntnis getrieben, fliegen wir aufeinander zu. Chilmi fragt mit ängstlichem Flehen: Jasdi? Und ich nicke mit dem Kopf, weil ich nicht sprechen kann. Und ich sehe, daß eines seiner Augen, das sehende, fast aus der Augenhöhle tritt. Die dicke blaue Ader, die sich über dem anderen Auge schlängelt, atmet schwer. Er sagt: Gestern morgen war er hier. Und ich bat ihn, es nicht zu tun. Und befremdet fügt er hinzu: Warum hat er nicht auf mich gehört, warum.

Er tastet seinen Weg zurück, bis sein Fuß gegen den Schemel stößt und er kraftlos niedersinkt. In seinem griechischen Mantel aus Seide, mit seinem kleinen festen Buckel und der schwarzen Baskenmütze auf der Stirn und vor allem mit seinem zerfurchten, beinah gelben Gesicht, schaut er mich wie das Gehäuse eines großen bunten Käfers an, der in der Sonne ausgetrocknet ist.

Und er stöhnt. Zerteilt mich mit einem Messer präzise in der Mitte meines Körpers. Nein, das ist kein Stöhnen. Das ist ein blindes Bohren. Eine verwirrte und verzweifelte Suche nach der Öffnung im Fleisch, durch die der Schmerz endlich heraus kann.

2

Katzmans Zornausbruch war äußerst kurz. Fast in demselben Augenblick, als die Tür von außen abgeschlossen wurde, löste sich etwas in seinem Körper, erleichtert, dankbar. Sehr schnell löschte er jeglichen Gedanken an Uri und das, was er getan hatte. Dachte nicht einmal über seine eigene peinliche Situation nach. Er legte sich aufs Bett, rollte sich seitlich zusammen und gab sich mit aller Kraft dem unerklärlichen Gefühl der Erleichterung hin.

Es war schon lange her, seit er in sich hineingehorcht hatte. In den letzten Monaten war er dem beinah ausgewichen. Und jetzt – jetzt war er eher von innen als von außen gefangen. Aber er empfand keinerlei Bedrohung. Im Gegenteil: auf einem fernen, tiefen Grund zu liegen, als verstecke er sich vor seinen Verfolgern – das war doch ein Zustand, nach dem er sich stets gesehnt hatte. Er zog die rauhe Wolldecke über den Kopf. Möglicherweise schlief er ein paar Minuten ein. Dann zuckte sein Körper vor Schreck zusammen. Er lauschte.

Noch hatte man sein Verschwinden nicht bemerkt. Er trommelte mit dem Finger auf die Eisenkante des Bettes und stellte überrascht fest, daß es womöglich innerhalb der Einsamkeit, die er gewohnt war, noch eine Einsamkeit gab. Diese Entdeckung tat ihm einige Augenblicke lang wohl. Dann befiel ihn Unruhe. Die Decke war sehr verstaubt. Uris Körperwärme im Bett war greifbar und sprach mit lauter Stimme. Katzman dachte an Schosch. Schon war seine eine Einsamkeit von seiner anderen Einsamkeit abgelöst. Schon stieg er schnell aus dem Augenblick der Gnade auf.

Er streckte sich im Liegen, ließ den wohltuenden Schauder mit Vernunft langsam von den Füßen bis zum Nacken laufen. Er war sehr müde von der anstrengenden Nacht und von den zwei Nächten zuvor. Er hatte dunkelblaue Ringe unter den Augen.

Jetzt galt es nachzudenken.

Mit neununddreißig Jahren täuschte Katzman noch immer jeden, der den jungenhaften Körper und das alterslose Gesicht betrachtete. In Wirklichkeit war sein Körper nicht jungenhaft, sondern sehr schmächtig und erweckte den Eindruck von Schwächlichkeit. Sein Gesicht war schmal und etwas länglich und seine Wangen so hohl, daß es schien, als saugte er sie in seinen Mund hinein. Schosch, die sich gewöhnlich den kindlichen Zügen im Gesicht eines Erwachsenen zuwandte, der sich ihr nicht so leicht entschlüsselte – eine Art instinktive Taktik von ihr –, gelang es nicht, sich ihn als kleinen Jungen vorzustellen. Es schien, als hätten die Unklarheiten, die sich auf der schmalen Fläche seines Gesichts angesammelt hatten, nicht einmal dem Echo kindlicher Unschuld Platz gelassen. Auch sein magerer Körper sah wie die widersprüchliche Zusammensetzung einander feindlich gesonnener Glieder aus.

Er wußte das. Noch als Junge, als Waisenkind, das nach dem großen Krieg von Europa in einen kleinen Kibbuz im Zentrum des Landes geraten war, um sich dort möglichst schnell von einem versiegelten Rätsel (das darauf beharrte, Polnisch zu sprechen und wie ein verwundetes Tier jeden Versuch, in sein Gebiet einzudringen, mit bitterem Mut bekämpfte) in einen Sabre, einen waschechten Israeli zu verwandeln, in dessen Muskeln die Sonne strömte – schon damals begriff er die Verlegenheit, die er bei anderen auslöste.

Die Blicke derer, die sich mit ihm unterhielten, pflegten flüchtige und staunende Diagonalen auf ihm zu zeichnen, während sie von den stark abstehenden Ohren zu den Abgründen der Wangen wanderten; von den blutleeren Lippen – die obere war gelähmt – zu den Augen: schon damals sehr sensibel und sinnlich, von dichten schwarzen Wimpern umrahmt, seltsam weit voneinander entfernt, sozusagen weit über die Breite des Gesichts hinaus. Verlegen schreckten die Blicke vor der spitzen, gebogenen Nase zurück, die so leicht rot wurde, und fielen auf ein enttäuschendes Kinn, formlos und ein wenig nach hinten eingesunken, das dem Betrachter den Weg zu der schmächtigen Brust und den schmerzhaft mageren Schultern wies.

In jenen Tagen im Kibbuz pflegte sich Katzman mit der Überheblichkeit des Ausgestoßenen zu rühmen, daß er für seine Umwelt unfaßbar war und in ein Geheimnis gehüllt blieb, aber diese offensichtliche Verlegenheit sickerte mit den kühlen Strahlen der Wahrheit und Bedrückung in ihn ein. Er begann, eine Selbstgenügsamkeit, die hart war wie ein angespannter Muskel, eine Art wilden und bitteren Mut, der an Selbstverachtung grenzte, und die Fähigkeit zur haarfeinen und distanzierten Beobachtung von Menschen in sein Inneres einzuflechten.

Eingesperrt in das schmale Zimmer versuchte Katzman, die Lage abzuschätzen. Er wußte, wohin Uri sich flüchten würde. Im Geiste konnte er sehen, wie er dem Alten in Andal um den Hals fallen und mit ihm restlos in seinen Kummer versinken würde. Vielleicht sogar seinen eigenen Schmerz vergessen würde. Er erinnerte sich amüsiert an seinen Besuch in Andal vor ungefähr zwei Monaten. Dort hatte anscheinend alles angefangen. Uri, der sein Amt mit besorgniserregender Begeisterung angetreten hatte, machte das Dorf bei einer seiner intensiven Erkundungsfahrten durch die Gegend ausfindig und hatte ihn, Katzman, gezwungen, mit ihm dorthin zu fahren. Er hoffte, die Militärverwaltung würde ihm ein phantastisches Budget für die Entwicklung des Dorfes genehmigen und erzählte Katzman den ganzen Weg über von dem blühenden Park, den er im Herzen der Stadt anlegen würde. Man hätte meinen können, Uri fahre bereits auf gepflasterten Straßen und pflücke Rosen in den Gärten. Das naive, törichte Lächeln, das Lächeln des Lammes, wie Schosch es wütend zu nennen pflegte, strahlte auf seinem Gesicht.

Auch die Dorfbewohner, die sie empfingen, lächelte er auf diese Weise an. Sein Gesicht war verzerrt und seine Hände zappelten aufgeregt. Sie verbargen ihr Lächeln hinter der keffije. Alle Dorfbewohner hatten sich eingefunden, auch die fünf Sippenhäupter und der Muchtar. Uri hielt eine kurze und enthusiastische Ansprache in einem überraschend guten Arabisch. Man nickte zustimmend. Der junge Muchtar, aalglatt im Aussehen und sehr verschwitzt, antwortete mit einer stilisierten Rede. Katzman verfolgte gelangweilt seine kunstvoll ausweichenden Formulierungen. In den sechs Monaten seiner Amtszeit in Dschuni hatte er nicht nur die Grundsätze der Sprache, sondern vor allem die Gedankenwindungen der Einwohner erlernt. Die Dinge, die hinter den Worten stehen. In dieser Hinsicht fiel es ihm leicht, sich mit den Bewohnern zu verständigen, und er machte es besser als Uri, obwohl Uri Arabisch wie ein Einheimischer sprach. Der Muchtar bat um Geld. Das war der Kern seiner Worte. Viel Geld und – das Recht, es nach Ermessen des Dorfrates zu verteilen. Katzman kannte die Worte und den Ton von zahllosen Zusammentreffen mit den Muchtars, die in seinem Büro in Dschuni stattgefunden hatten. Uri war etwas verlegen. Eine solche Antwort hatte er nicht erwartet. Er sah Katzman erstaunt und um Hilfe bittend an. Katzman verschloß sein Gesicht. Mit heimlicher Schadenfreude verfolgte er Uris Bedrängnis; die sich windende Spur der Worte, der er zu folgen hatte. Mit einer Daumenbewegung zogen die Sippenhäupter ihre keffije über den Mund. Der Muchtar schwitzte stark, obwohl es noch früh am Morgen war, und wischte sich das Gesicht alle Augenblicke mit einem vergilbten Taschentuch ab. Er wollte Uri gerade antworten und Katzman sah bereits verstohlen auf die Uhr, als ein alter Mann mit krähender Stimme zu schreien und mit den Händen zu fuchteln und Uri und Katzman und die Sippenhäupter freigiebig zu verfluchen begann, und auch den Muchtar verschonte er nicht mit seiner bösen Zunge.

Katzman erinnerte sich an die Spannung, die ihn damals ergriffen hatte. Der gekrümmte, bucklige Alte verströmte eine Feindseligkeit, die wie eine Fackel in der Luft schwebte und nach der Windrichtung tastete. Einen Augenblick lang schlossen sich unsichtbare Kreise um Katzman und Uri. Aber dann gab der Muchtar ein hastiges Zeichen, und ein paar Jugendliche gingen auf den Alten zu und jagten ihn fort. Katzman glaubte, der kleine Zwischenfall hätte sich erledigt, und wandte seinen Blick wieder dem Muchtar zu, Uri jedoch ging mit einem schmerzhaft naiven Gesichtsausdruck, wie ein Kind, das einem Schmetterling nachtaumelt, auf den schreienden Alten zu, blieb vor ihm stehen und berührte verwundert seine Hand.

Plötzlich packte Katzman die Wut. Er stand auf und trat ans vergitterte Fenster. Die Morgendämmerung deutete sich bereits an. Der neue Tag erblickte im Fenster ein sehr schmales, weißes, mit Bartstoppeln bedecktes Gesicht. Katzman sah aus wie einer, der sein Leben lang im Dunkeln gelebt hat. Ein leichter Wind wehte in die Nebelschwaden, die sich draußen vor dem Gebäude gebildet hatten, und für einen Moment schien es, als sei ein Vorhang beiseite geschoben worden. Einen Augenblick lang konnte Katzman die Leute sehen: eine kleine Gruppe von Häftlingsfamilien, die zum wöchentlichen Besuch ins Gefängnis der Militärverwaltung gekommen waren. Sie standen still da, rieben sich die Hände, um sich ein wenig aufzuwärmen, und stießen warmen Atemdunst aus. Kinder schliefen zusammengerollt zwischen den randvollen Eßkörben. Von seiner Zelle im Kellergeschoß aus erschien ihm das Bild wie aus einem Theaterstück, das auf einer Bühne hoch über ihm aufgeführt wurde. Er schaute neugierig zu. Der Nebel verdichtete sich wieder. Noch einen Augenblick war das bunte Kleid einer Frau zu sehen, die schwarze Wollmütze eines Mannes, das hübsche und wache Gesicht eines Mädchens. Dann verschwand alles. Katzman wandte sich vom Fenster ab. Die zarte, intime Erinnerung daran, wie Uri vor den Augen des ganzen Dorfes die Hand des Alten berührt hatte, machte ihn erneut verlegen. Wie der Alte plötzlich verstummt war. Als hätte Uri mit einem Schlag dessen ganze Bitterkeit in sich aufgesogen. Katzman wurde unruhig. Rüttelte energisch an der Türklinke und ließ sie wieder los. Er beschloß, noch ein wenig zu warten. Die Augenblicke seines Verschwindens auszunutzen, auch wenn er sie jetzt nicht mehr genießen konnte. Die ganze Zeit stiegen in seinem Inneren kleine Schimmer ferner Bilder, deutlicher Erinnerungen auf. Sein nervöses Aufundabgehen in dem engen Raum war eine genaue Wiederholung der Route der Freiheit, die sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Er bewegte sich hier genau so, wie sein Vater sich dort bewegt hatte. Von der »Bibliothek« bis zur Wolldecke, auf der seine Mutter dahinsiechte. Selbst die Bewegung der scharfen, entschiedenen Wendung wurde jetzt wieder lebendig. Wenn sein Vater sich auf diese Weise umdrehte, pflegte sein schönes weißes Haar einen Augenblick lang wie Wellenschaum in der Luft zu schweben. Der Vater war ein gutaussehender Mann mit einem zarten Körperbau gewesen, und Katzman ahnte, daß die Frauen ihn geliebt hatten. Nach einer Weile waren ihm nach und nach die Haare ausgefallen. Das war während des Weltkrieges gewesen, als die drei sich in einem Loch in der Erde Polens versteckt hatten. Am Ende des Krieges war die Mutter nicht mehr bei ihnen, und Katzmans Vater hatte nicht mehr genug Verstand, um zu begreifen, daß sie gerettet waren. Katzman trug das Loch sein Leben lang in sich. So wie er dort gelernt hatte, die Welt über ihm nur anhand von schwachen Hinweisen zu erraten – einem plötzlichen Luftzug, einem unvorsichtigen Lichtstrahl, einem ängstlichen Zucken in der Wange seines Vaters –, so verfolgte er nun aufmerksam jeden Hinweis, der sich ihm andeutete. Er registrierte mikroskopisch kleine Geschehnisse, als seien es Ausbrüche von Naturkräften. Vor Schosch rühmte er sich, eine Art Fachmann für menschliche Vorgänge zu sein. Sie merkte, wie das Wort »Vorgänge« ihn anzog, begriff jedoch nach einiger Zeit, daß er nicht von Vorgängen, sondern nur vom Abklingen sprach. Von der Abnutzung des menschlichen Mechanismus in allen seinen Aspekten. Darin war er tatsächlich ein Fachmann.

Die Erinnerung an das Loch war nicht mehr nur ein lästiges Gefühl in einem Winkel seines Bewußtseins. Katzman zwang sich, auf der Bettkante Platz zu nehmen und sich auf diese Belästigung zu konzentrieren. In Santa Anarella, während er Uri die Geschichte seiner Jahre im Loch erzählte, hatte er etwas begriffen, das ihn deprimierte. Daß, seitdem er dort herausgekommen und ein Mann geworden war, seine Aufmerksamkeit stets auf jene gerichtet war, die vielleicht unten, unter ihm lebten, und sich in der Tiefe der Erde oder der Gedanken versteckten. Er würde stets zu ihnen gehören. Das waren keine Menschen, sondern, allerhöchstens, angedeutete Beklemmungen, unterdrückte Wünsche, Geheimnisse, zwischen denen und dem tödlichen Sonnenlicht er die einzige Schranke war. Als er sich darüber klarwurde, noch während er mit Uri sprach, begann es ihn zu bedrücken, als sei es eine Verurteilung zu ewigem Exil. Irgendwo an einer der dunkelsten Wände in den Korridoren seines Gehirns erhellte sich einen Augenblick lang ein Bild: der Anblick eines doppelten Katzman, sich selbst entgegengesetzt, wie die Figuren auf den Spielkarten.

Er sah auf die Uhr. Viertel nach sechs. Dann erinnerte er sich und sank mit theatralisch ausgebreiteten Armen aufs Bett. Zusätzlich zu den ganzen nächtlichen Plagen und dem Arger, der ihn in den nächsten Stunden noch erwarten würde, hatte er heute Geburtstag. Katzman reichte sich die Hand und drückte sie feierlich. Es ist so: ein Geburtstag ist ein Wegzeichen, und ein Wegzeichen weist auf Beständigkeit hin, auf die Wiederholung und Verwirklichung irgendeiner Symmetrie, die im Wesen aller Dinge steckt.

Katzman war ein begeisterter Erforscher dieser Symmetrie, da sie ihm angst machte. Es war ihm bisher nicht einmal gelungen, sie zu definieren. Er konnte Schosch nur vage Dinge über sie sagen, zum Beispiel, daß sie eine Art letzte und endgültig ausgeglichene Abrechnung mit allen Dingen sei. Aber diese Erklärung genügte nicht. Um jene magische Symmetrie kennenzulernen, war ein besonderes Gespür nötig: eine Art feiner innerer Fühler. Katzman stellte sich die Symmetrie als eine große Ruhe vor und gleichzeitig als Ausdruck einer grausamen Strafe, die ihn erwartete. Den Widerspruch, der darin lag, vermochte er nicht zu lösen. Er suchte die Symmetrie in jedem Ereignis, stellte endlose kleine Experimente an, um sie in seinem eigenen Leben aufzuspüren. Es war ihm noch nie gelungen. Wenn sich tatsächlich irgendeine versteckte Logik in der Natur der Dinge verbarg – Katzman hatte sie nie enthüllt. Er mußte feststellen, daß er Menschen, die er mochte, Leid zufügte. Daß gerade alltägliche Gebrauchsgegenstände, daß konkrete Einzelheiten der Wirklichkeit eine Bedrohung für ihn bargen, die nicht abzunehmen schien.

Er wußte, daß eine gewaltige Sammelarbeit nötig war, um den Faden der schlüpfrigen Logik ausfindig zu machen, ihn einen Augenblick zu berühren, um vielleicht – ein wenig erlöst zu werden. Vielleicht verbrauchte er daher derart fieberhaft, beinah gewaltsam die wenigen Menschen, mit denen er Kontakt hatte. Jeder von ihnen war ein Hinweis. Eine Gedankenrichtung. Aber er brauchte mehr als das: er brauchte die Kenntnis aller Einzelheiten, aller Teile des Mosaiks; einen Blick, der mit einem Mal alles Lebende streifen und ihm dadurch wenigstens die symmetrische Logik erhellen würde, die im Wesen des Lebens eines Menschen liegt. Er war vernünftig genug, nicht die Hoffnung zu haben, mit diesem Blick sich selbst zu erkennen. Manchmal meinte er, daß Uri dafür geeignet sein könnte. Uri war voraussehbar und ohne Launen. Aber auch er entschlüpfte ihm jedes Mal, wenn er meinte, ihn verstanden zu haben.

Als er Uri zum ersten Mal in Santa Anarella begegnete, kam er ihm vor wie einer dieser Idioten Gottes, wie das verwöhnte Kind einer zu satten Welt, das mit seinem Leben und mit dem Leben von anderen spielt. Aber sehr schnell erkannte er seinen Irrtum. Er begann aufzuhorchen. Begriff, daß ihn Uri, ohne es zu wollen, etwas lehrte. Uri war unvorsichtig, da er die Welt in sein Inneres einsickern ließ, und Katzman sah erstaunt, wie es einer entblößten Seele gelang, auch in Phasen der schweren Katastrophen zu überleben.

Katzman war in Santa Anarella nicht so erregt wie Uri. Er hatte schon oft genug in seinem Leben Grauen und Tod gesehen, um sich darüber noch aufzuregen. Katastrophen waren in seinen Augen nur eine Beschleunigung aller Routinevorgänge, wie ein Kinofilm, der durchgedreht war. Es war nichts Besonderes an den einfachen Komponenten der Katastrophe. Die Erde bebte stets unter Katzmans Füßen, und ständig töteten die Menschen um ihn herum einander, nur daß sich die Dinge gewöhnlich sehr langsam und behutsam ereigneten und nur wenige es spürten wie er.

Es war mehr die Berührung mit dem erregten Uri als mit der bebenden Erde, es war Uri, der Katzman aufmerksam werden ließ. In dem großen Flüchtlingslager in Sichern hatte Katzman einmal das gleiche süße Gefühl gespürt, das Uri in Italien hatte, aber jetzt war er nicht mehr fähig, es noch einmal zu fühlen, obwohl er sich danach sehnte. Dunkel begriff er, daß er Uri als Vermittler zwischen sich und jenem Gefühl brauchte. Seitdem hörte Uri nicht auf, für ihn zu vermitteln.