Am nächsten Morgen fuhr ich mit Opa nach Bremen zum Nachlassgericht. Ich hatte am Nachmittag des Vortags endlich jemanden erreicht, und wir konnten heute kurzfristig vorbeikommen, wofür ich dankbar war. Ansonsten hätte sich meine Aufregung sicher ins Unendliche gesteigert. Vielleicht war es gar nichts Wertloses, das ich erbte. Möglicherweise etwas ganz Persönliches. Eine silberne Kette oder einen Armreif. Ich besaß so gut wie gar keinen Schmuck. Die ganze Nacht hatte ich mich hin- und hergewälzt und war unausgeschlafen.
Opa hingegen genoss die Spazierfahrt durch die flache Landschaft Niedersachsens mit ihren Alleen und vereinzelten Gehöften und entdeckte auf jedem Hof mindestens einen Traktor, dessen nähere Bezeichnung er genau kannte.
»Ich vermisse die See«, brummte er dennoch nach einer Weile und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Als wären wir nicht unterwegs nach Bremen, sondern als entführte ich ihn in den Grand Canyon. Aber ich wusste, worauf er wieder einmal anspielte: darauf, dass ich endlich meinen Job in Oldenburg aufgeben und zu ihm nach Langeoog ziehen sollte. Er lebte nicht gern allein. Fürchtete immer, er könnte eines Tages stürzen und ins Krankenhaus müssen – der schlimmste Gedanke. Seiner Erfahrung nach kamen ältere Menschen, wenn sie einmal in einer Klinik waren, nicht wieder heraus. Er hatte mir sogar ans Herz gelegt, mir sein Haus zu überschreiben. Er begriff einfach nicht, dass ich noch nicht mal zu Besuch nach Langeoog kommen konnte – geschweige denn dorthin umziehen. Überhaupt wollte ich jetzt nicht darüber nachdenken.
Tobi hatte mir angeboten, mitzukommen. Er war abends noch bei mir vorbeigekommen und hatte den Brief vom Nachlassgericht studiert. Zu gern hätte er mir heute zur Seite gestanden, sich sogar dafür freigenommen. Aber Opa war ja bei mir. Und der war schließlich mit mir und Mathilda Petersen verwandt.
»Kurz bevor Ihre Mutter gestorben ist, war sie bei Mathilda Petersen, wussten Sie das?«, fragte mich wenig später der Beamte, nachdem Opa und ich endlich das richtige Gebäude gefunden und die Stufen nach oben in den ersten Stock erklommen hatten.
»Bevor meine Mutter starb, war sie in Fischerhude?«, fragte ich. »Was hat sie da gewollt?«
Der Beamte, ein blonder hochgewachsener Mann, sah mich über seine Brillengläser hinweg an. »Sie kennen das Testament nicht, richtig?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich würde es Ihnen eigentlich gern vorlesen, befürchte aber, dass es Sie etwas mitnehmen könnte.«
»Mitnehmen?« Ich schluckte. So langsam wurde mir die Sache unheimlich. Opa nahm meine Hand und sagte: »Jetzt mal Butter bei die Fische. Worum geht es, junger Mann?«
Der ›junge Mann‹, den ich auf Mitte vierzig schätzte, nahm ein Blatt Papier mit handschriftlichem Gekritzel. Er räusperte sich und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann begann er:
Liebe Svea!
Ich werde wohl tot sein, wenn du diese Zeilen liest. Wäre ich mutig genug gewesen, hätte ich mich schon längst bei dir gemeldet, aber ich habe mich nicht getraut, bin ich doch eine alte Frau, die viel Schuld auf sich geladen hat. Es geht um deine Mutter und wie sie und dein Vater gestorben sind.
Deine Mutter hatte mich um die Jolle gebeten, weißt du. Sie verstaubte doch sowieso nur da in meinem Schuppen. Also hab ich ihr erlaubt, sie zu nehmen. Ich hab ihr gesagt, das Ding taugt nichts mehr. Aber deine Mutter hat sich direkt in die ›Mathilda‹ verliebt.
Eine Gänsehaut machte sich auf meinen Unterarmen breit. Daher war mir der Name Mathilda bekannt vorgekommen. Es war der Name des Bootes, mit dem meine Eltern verunglückt waren. Tief Christian hatte es an einem 28. Oktober auf die See hinausgetrieben, und dann war es mit meinen Eltern an Bord einfach auseinandergebrochen. Sie ertranken im Sturm. Dieses Unglücksboot war Mathildas Boot gewesen? Mama hatte Papa mit dieser Segeltour zu seinem Geburtstag überraschen wollen – und hatte an ihrem Vorhaben festgehalten, obwohl es eine Sturmwarnung gab. Niemand hatte mir je sagen können, wem dieses Boot eigentlich gehört hatte.
Ich sah zu Opa hinüber, der in sich zusammengesunken dasaß. Eine Träne rann über sein Gesicht.
Mir zog sich das Herz zusammen. Ich hatte ihn bisher nur zwei Mal weinen sehen. Einmal nach Oma Inges Tod, die an Krebs gestorben war, und nach dem Tod meiner Eltern. Schnell sprang ich auf und umarmte ihn. Meinen geliebten Opa Hannes, der nach Maggi und Rasierwasser roch. Ich gab ihm einen Kuss auf die stopplige Wange.
Der Beamte räusperte sich und zog mit geübtem Handgriff ein Papiertaschentuch aus seiner Schublade.
»Soll ich weiterlesen?«, fragte er.
Opa schnäuzte sich kräftig und nickte.
Ich setzte mich wieder und der Nachlassverwalter fuhr fort:
Es tut mir entsetzlich leid, was geschehen ist, aber es lässt sich nun einmal nichts rückgängig machen, schon gar nicht der Tod.
Jedenfalls erzählte mir deine Mutter, liebe Svea, dass du von einer Tapasbar auf Mallorca träumst. Ich fand das eine hervorragende Idee, aber die liebe Sylke hing nun mal so an dir. Eine Bar auf Mallorca kann ich dir zwar nicht hinterlassen, Svea, dafür aber eine Pinte auf Langeoog. Sie hat meinem verstorbenen Mann Fiete gehört, der sie vor Jahrzehnten beim Sanddornschnapstrinken gewonnen hat. Seither ist sie verpachtet. Meine Kinder wollten sie nie haben, viel zu viel Mühe für das bisschen Lohn, sagen sie. Ich hoffe sehr, du trittst dein Erbe an und eröffnest die erste Tapasbar auf meiner Heimatinsel.
Opa zog die Augenbrauen hoch. »Was?«
Ich sah ihn verständnislos an. Eine Pinte auf Langeoog? Opa kannte auf der Insel jeden Stein. Hatte er etwa nicht gewusst, dass einer seiner Verwandten dort eine Bar besaß?
»Wie heißt der Schuppen?«, fragte mein Großvater nach und hielt sich eine Hand hinters Ohr.
Der Beamte warf einen Blick in seine Unterlagen. »Die Spelunke«, antwortete er schließlich.
Opa lachte auf. »Die Spelunke gehörte denen? Das ist doch das Letzte …! Wer geht da rein?«
Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Horde Seeräuber mit Augenklappen im Zwielicht an einem Tresen sitzen.
»Darf ich weiterlesen?«, fragte der Beamte und räusperte sich.
Ich nickte und griff nach Opas Hand.
Nun, wie gesagt, es ist nicht Mallorca. Und du müsstest mit meinem Pächter reden, er ist ein guter Kerl. Ich vermache dir die Bar, meine liebe Svea, sie ist schuldenfrei, mach das Beste daraus. Viel Glück auf Langeoog.
Deine Mathilda