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Harald Weiss

Die Mondfrauen

Kartl und Neuner ermitteln erneut - Fränkischer Krimi





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

Harald Weiss, Jahrgang 1960, geboren und aufgewachsen in Nürnberg, lange Zeit in Neunkirchen verwurzelt. Mit dem fränkischen Krimi „Die Mondfrauen“ erscheint nach „Spiel des Schattens“ sein zweites Buch.





Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Biografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie, detailliertere biografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.





















© 2016 Harald Weiß - Point of Books

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Ralph Meidl

Druck und Bindung: Stengl OHG, Neunkirchen am Brand

Printed in Germany 2016

ISBN 978-3-00-051348-0

Fränkischer Krimi

Originalausgabe

Danksagung

Besonderer Dank

gilt Brigitte Hofmann

für die geduldige und unendliche Fehlersuche.

 

 

 

 

 

Harald Weiss

Point of Books

Titel

Harald Weiss

Die Mondfrauen

Kartl und Neuner ermitteln erneut

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Harald Weiss

Point of Books

Beginn

Beginn

 

***

 

Seine Schritte knirschten leise, fast lautlos, im Schnee über die nebelverhangenen Felder. Er genoss es, alleine über die hartgefrorenen Äcker und Wiesen zu laufen. Ein Zauberwald, wie in einem Gemälde, so empfand er jedes Mal dieses Bild vor seinen Augen. Hier verbrachte er oft seine Zeit. Zeit, die er reichlich hatte.

Schemenhaft waren einzelne Häuserfassaden und -dächer der nächsten Ortschaft zu erblicken, die sich in der einsetzenden Dämmerung sanft durch das düstere Licht kämpften. Manchmal sah er auch sie. Bei ihren einsamen Runden rund um den Ort. Immer dieselbe Strecke, die sie dreimal in der Woche bestritt. Montag, Mittwoch, Samstag. Aus sicherer Entfernung verfolgte er ihre Schritte. Sie war so schön. Nur nicht zu nahe kommen. Das Blut pochte in seinen Adern. Was für ein Anblick mit ihrem roten Mantel, ihrem blondem Haar. Wie sie wohl riecht? Ich sehe sie nicht mehr. Gott sei Dank.

Sein Herzschlag beruhigte sich.

Tief sog er die kalte Luft ein, sinnierte über die letzten Jahre, wie immer, wenn er unterwegs war. Über seinen Umzug, um ungestört, alleine und ohne Fragen zu leben. Er akzeptierte seine Einsamkeit. Gewohnheit, wie so vieles.

Gedankenverloren bemerkte er sie erst gar nicht. Sie stand urplötzlich direkt vor ihm. Wie ein Blitz durchzuckte es seinen Körper. Wo kommt sie so plötzlich wieder her?

Er hatte es vermeiden wollen. Das direkte Zusammentreffen. War immer um Abstand bemüht gewesen.

Nun kroch es empor aus seiner dunklen Seele. Alles, was er die Jahre versucht hatte einzusperren. Um es nicht rauszulassen. Doch ihr Anblick machte ihn hilflos. Makellose Schönheit, Zierlichkeit, vereint mit angeborener Eleganz. Dies brachte sein Inneres in Sekunden zum Wanken. Seine über Jahre aufgebaute Fassade stürzte ein.

Blitzschnell, ohne Vorwarnung. Kein Denken mehr. Ihre überraschten Augen, die ihn voller Unschuld anblickten. Um im gleichen Moment für immer geschlossen zu bleiben.

Stille. Nur noch Stille überstrahlte die kleine Lichtung. Kein Laut mehr.

Schnell entfernte er sich mit unruhigen Schritten. Angstvoll um sich blickend, schweißgebadet, trotz der einsetzenden Kälte. Seine Vergangenheit holte ihn ein. Hatte zerstört. Leben vernichtet. Warum nur?

 

***

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

22 Uhr, Montagnacht. Kriminalrat Kartl, genannt Sepp, blinzelte verschlafen auf sein blinkendes Handy auf dem Nachttisch in seinem Schlafzimmer. Verstört und grantig öffnete er seine verschwollenen Augen.

„Hab mich doch gerade erst hingelegt“, brummte er mürrisch. „Verflucht, ja! Was gibt es denn?“, schrie er in sein Telefon.

„Sepp, du musst schnell kommen. Eine Tote.“

„Wo?“, der Kommissar verstand kein Wort.

„Ebersbach“, vernahm er noch am Schluss. „Ich erschlage ihn!“ Er schämte sich nicht für seine Gedanken. Sie machten ihn schließlich nicht zum Mörder.

Der Quälgeist am Telefon offenbarte sich als sein junger Kollege Max Neuner, seines Zeichen Kriminalhauptmeister, seit fünf Jahren seine bessere Hälfte im Dienst. Eine andere bessere Hälfte gab es nicht.

Kommissar Kartl war eher der Typ Eigenbrötler, der ewige Junggeselle, obwohl er schon einmal verheiratet gewesen war.

55 Jahre alt, stämmig, Schnauzer, graue Haare, missmutig, oft schlecht gelaunt. Aber irgendwie kam Max mit ihm klar.

Kommissar Max Neuner war alles, wovon Kartl träumte. Jung, 35 Jahre alt, schlank, blonde Haare, Frauenschwarm, immer gut gelaunt und nie um einen blöden, lockeren Spruch auf den Lippen verlegen.

Gerade im Moment, um kurz nach 22 Uhr, hasste ihn Kartl.

Beide gehörten sie zum Morddezernat der Polizeiinspektion Forchheim. Versetzt in die Fremde. Das Einzige, was sie wirklich verband. Sein Partner hatte aus Nürnberg gewechselt, er kam aus Rosenheim in Oberbayern. Seit fast 20 Jahren lebte Kriminalrat Kartl nun schon in Forchheim.

Nun aber raus aus dem warmen Bett und rein ins Auto. Schnell fuhr er durch die frostkalte Nacht nach Ebersbach. Eine halbe Stunde nach dem Anruf erreichte er schließlich den Tatort.

Die Spurensicherung war schon vor Ort. Gleißendes Licht ließ die Bäume, Sträucher und Äcker in der nebelverhangenen Luft klar erscheinen.

Mit beiden Händen tief vergraben in seine Manteltaschen näherte er sich dem bizarren Anblick.

Diese faszinierende Anziehung, die er jedes Mal beim ersten Betreten eines Tatortes verspürte. Ein Kribbeln, das ihn erfasste und antrieb, den Fall zu lösen.

„Guten Abend“, maulte er in die Runde der Anwesenden, „Was gibt es?“

„Eine Leiche“, antwortete sein Kollege Max, gewohnt lakonisch und voller Sarkasmus. Kartl verbiss sich einen Kommentar und ließ dafür seinen Blick über das Bild schweifen, das sich vor ihm abzeichnete.

Ein erster Eindruck wie beim ersten Date. Jedes Detail aufnehmen. Nichts übersehen, ermahnte er sich.

Da war er Profi. Abgeklärt und gewissenhaft. Immer wieder überraschte es ihn, was es in ihm auslöste, wenn er sich einer neuen Leiche näherte, so wie heute.

Sein Blick blieb hängen. Jetzt sah er sie liegen, in ihrem roten Mantel, der schwarzen Hose und den hellen Fellstiefeln. Eingerahmt von ihren langen blonden Haaren wirkte sie auf den ersten Blick wie ein schlafendes Mädchen.

Kurz niedergelegt.

Welch eine Schönheit, so makellos, so anmutig, so unschuldig. Und doch verloren, rang er mit sich selbst.

„Was für Drecksäcke es doch auf dieser Welt gibt. Aber ich kriege dich“, sprach Kartl lauter als er beabsichtigte.

Sein Assistent schaute ihn verstört an. Schnell ging Kartl zwei, drei Schritte weiter und beugte sich hinunter zu ihr.

Der Doc beschäftigte sich gleichzeitig damit, die Todesursache festzustellen. „Hallo Günther, so ein Scheiß oder? Weißt du schon was?“

Günther, der Gerichtsmediziner der Polizei Forchheim, befand sich in seinem Element. „Du weißt es doch, Sepp. Du bekommst morgen einen Bericht von mir. Nur so viel. Wahrscheinlich erwürgt. Keine Gegenwehr. Vermutlich vor zwei bis drei Stunden, also noch nicht so lange her.“

„Max“, schrie Sepp in den sternenklaren Nachthimmel. „Wissen wir schon, wer sie ist?“ Auch wenn es Kartl nicht gerne zugab, Max recherchierte sehr schnell und gewissenhaft.

„Ja, eine gewisse Magdalena Huber, 23 Jahre alt, Föhrenweg, irgendwo in Dormitz, ledig. Zumindest laut ihren Papieren. Alles noch vorhanden. Handy, Geldbeutel. Raubmord schließe ich deshalb aus. Gefunden hat sie übrigens ein Jäger. Wir haben ihn schon befragt. Kein Tatverdächtiger.“

„Das Denken kannst du mir überlassen“, murmelte der Kommissar leise vor sich hin. „Habe ich auch gesehen, dass kein Raubmord vorliegt. Auf jeden Fall läuft da draußen ein Verrückter durch die Gegend. Gefährlich und nicht berechenbar“.

Er sah sich um, prägte sich alles ein.

Sie ist überrascht worden. Vermutlich blieb ihr nur eine Sekunde, bevor sie begriff, dass es zu spät ist, um zu reagieren. So jung. So ein Mist. Kaum zwei Wochen ist es her, da haben wir den letzten Fall abgeschlossen. Nochmal so eine verzwickte Jagd brauche ich nicht, seufzte Kartl. Dieses Mal muss der Täter schneller gefunden werden. Die Lokalpresse freut sich sonst ungemein über unsere langwierigen Ermittlungen.

Also verteilte er die Aufgaben, die es zu erledigen galt. Seinen Partner Max schickte er nach Dormitz, um die Wohnung der Toten zu überprüfen. Dafür forderte er auch die anwesende Spurensicherung, genannt SpuSi, auf, dort mit hinzufahren, wenn die Arbeit am Tatort erledigt war.

Ein Schlüssel befand sich bei ihren Sachen. Vielleicht der von der Haustüre, wenn sie Glück hatten.

Zudem mussten die Nachbarn befragt und Bekannte ausfindig gemacht werden. Feststellen, ob sie liiert war oder nicht.

„Max, ich schau mich mal im Ort um. Vielleicht fällt mir was auf. Ob wir hier mit den Spuren weiterkommen? Gehen ja in alle Richtungen weg. Treffen wir uns später im Präsidium?“

„Geht klar“, entgegnete Max und machte sich auf dem Weg.

So räumte Kartl erst einmal das Feld für die weitere Arbeit der SpuSi. Schlug seinen Mantelkragen hoch und machte sich auf in Richtung der ersten Häuser.

Was mag in dem Täter vorgegangen sein? Hat er den Mord geplant oder spontan zugeschlagen? Ist das Opfer zufällig gewählt worden oder haben sie sich gekannt? Wie hat er sich vom Tatort entfernt? In Panik oder ganz ruhig, fast schon gelassen? An irgendetwas erinnert mich dieser Fall. Er musste nachdenken.

 

 

***

 

 

Er sah keine Bäume mehr. In der einsetzenden Dunkelheit schlugen ihm die Äste nur so ins Gesicht. Gehetzt eilte er durch die noch junge Nacht mit dem immer gleichen Bild vor seinen Augen.

Ihrem Gesicht, das ihn fragend ansah. Doch bevor sie einen Satz mit ihren Lippen formen konnte, legten sich seine Hände schon um ihren zarten Hals. Nichts hielt ihn auf. Bis er sie leblos zu Boden gleiten ließ.

Weiter, er musste weiter, trieb er sich an, schnell nach Hause. Duschen, seine Unschuld bewahren. Sich reinwaschen. Warum hast du das getan?

Die Erinnerungen erschreckten ihn so sehr.

Ein letztes Mal schallte sein irres Lachen noch über die stillen Felder, dann schlich er sich vorsichtig dorthin, wo er herkam.

 

***

 

 

Kartl schlenderte die Straße entlang bis zum Ortseingang. Vereinzelt sichtete er die ersten Häuser. Links das Gemeindehaus, neu gebaut, und anschließend begann der Ort, der sich recht verzweigt schlängelte.

Er kannte Ebersbach nur zu gut. Als Liebhaber fränkischer Küche war er während ihres letzten Falles oft im Gasthaus zur Traube eingekehrt.

Als er sich auf der Höhe des Gemeindehauses befand, hörte er Musik aus den Räumen auf die Straße hinaus dringen.

„Komisch, von vorne habe ich nichts wahrgenommen“, flüsterte er sich selbst zu. „Kann der Täter hierher geflüchtet sein?“

Aber eigentlich glaubte Kartl nicht daran. Also näherte er sich dem Objekt, ging hinein und betrat die Stufen in den ersten Stock, der Musik folgend, freudigen Gesichtern begegnend, bis er am Ziel ankam.

Er stand in einem großen Veranstaltungsraum. Fetzige Musik dröhnte um ihn herum, ein paar Pärchen auf der Tanzfläche, Barbetrieb, heitere Stimmung und ungezwungene Ausgelassenheit.

Innerlich grinste Kartl bei diesem Anblick. Da wollen wir doch mal den Spielverderber spielen.

Zielstrebig ging er zum Musikanten in der Ecke, zeigte seine Dienstmarke und schnappte sich das Mikrofon. „Guten Abend, die Herrschaften“, legte er los.

Schlagartig wurde es ruhig bei der feiernden Gesellschaft. „Kommissar Kartl mein Name, Kommissariat Forchheim. Heute Abend ist unweit von hier ein Mord passiert. Hat jemand von Ihnen irgendetwas Verdächtiges gesehen oder bemerkt?“, fragte er in die entsetzte Runde.

Schweigend blickten die Anwesenden durch die düstere Atmosphäre der wenigen Lichter. So still wie auf der Lichtung. Kein Wort fiel.

Wie immer, wenn er in ein Dorf wie Ebersbach kam. Die Mauer des Schweigens. Könnte ja einer von ihnen gewesen sein. Erst mal nichts äußern oder preisgeben, ging es Kartl durch den Sinn.

Zwar glaubte er nicht, den Mörder hier zu finden, aber er behielt seine Vermutung erst einmal für sich. Deshalb hinterließ er seine Karte für den Fall der Fälle. Vielleicht gab es ja jemanden, der eine Kleinigkeit wahrgenommen hatte oder dem noch etwas Ungewöhnliches einfiel.

Voller Schadenfreude darüber, die Feier gründlich verdorben zu haben, verließ er das Gemeindehaus.

„Ich brauche einen Kaffee, und ich muss nachdenken“, sprach er zu sich selbst.

Er machte sich auf den Rückweg zu seinem Auto. Grübelnd blieb er noch eine Weile am Tatort stehen. Die Tote wurde gerade abtransportiert. Irgendetwas habe ich übersehen. Sein Kopf brummte. An was erinnert mich das Ganze?

Er fuhr unzufrieden zurück in seine Dienststelle nach Forchheim. In ihrem Büro machte er es sich mit einem starken Kaffee gemütlich. Die letzten Stunden zogen immer wieder an ihm vorbei. Er wollte warten, bis Max ins Büro kam, um zu besprechen, wie sie weiter vorgehen sollten.

 

 

 

***

 

Seit einer Ewigkeit stand er unter der Dusche. Doch das Gefühl wollte sich nicht verändern. Flucht. Sein erster Gedanke. Abhauen. Weit weg. Vielleicht habe ich Glück und entkomme unerkannt.

Aber er entschied sich zu bleiben. Nicht davonlaufen. Abwarten, was geschehen würde. Er würde sich morgen eine Zeitung kaufen, denn er besaß keinen Fernseher.

Er lebte seit vielen Jahren für sich alleine und war glücklich über diesen Zustand. Bis heute die Vergangenheit zurückkam. Zu sicher hatte er sich gefühlt, alles ausgestanden zu haben.

Verdrängt, verarbeitet, mit sich im Reinen. Aber nichts war nun mehr so wie es gewesen war. Eine Sekunde, ein Reflex, wie schon mal, nur woanders, genauso kalt und düster in der damaligen Nacht. Als er sie sah. So rein, so wunderbar, so unverzeihlich schön.

Er hasste sie so sehr in dieser Sekunde. In ihrer letzten Sekunde. Erinnerungen an seine Kindheit kamen in ihm hoch. Aufgewachsen in einem Heim. Erinnerungen an diese Frau, die er verehrte. Viele Jahre später. So zierlich, so unverwundbar, so unschuldig.

Bis sie ihn ausgrenzte, auslachte. Er konnte es nicht vergessen. Auch nicht in dieser Nacht.

 

 

***

 

 

Kartls Partner Max kam gegen vier Uhr ins Büro. Übernächtigt, müde und doch schaute er unverschämt gut aus.

Wie er das nur macht? „Was hast du erfahren?“, legte Kartl ungeduldig los.

Max setzte sich erst einmal gemütlich in den Stuhl gegenüber, genoss sichtlich die Neugierde seines Chefs und zögerte innerlich erfreut die Antwort noch ein wenig in die Länge. „Magdalena war erst seit drei Monaten in Dormitz gemeldet.“

Kurz unterbrach er, als müsse er überlegen.

„Kommt ursprünglich aus Köln. Hat in Erlangen Politikwissenschaften studiert. Ledig, kein Lebensgefährte weit und breit. Ich habe mich mit den Nachbarn unterhalten. Ab und zu besuchten sie ein paar Freunde und Studienkollegen. Aber nichts Festes. Sie war viel alleine. Lebte zurückgezogen. Keine Anhaltspunkte, die zum Täter führen. Und bei dir? Neuigkeiten?“

„Nein“, antwortete er.

Es enttäuschte ihn, dass wieder mal kein Ansatz vorlag. So tappten sie völlig im Dunkeln.

Kommt mir so bekannt vor.

Die Tür ging schwungvoll auf und Günther, der Gerichtsmediziner, betrat das Büro der Kommissare. „Leute, euer Obduktionsbericht.“

„Mensch Günther“, fiel ihm Kartl ins Wort, „hast du eine Nachtschicht eingelegt?“

„So bin ich zu euch.“

Kartl griff wie selbstverständlich als Erster danach und überflog die Seiten. „Aha, okay, mmhh“ war das Einzige, was in dem mucksmäuschenstillen Zimmer vernehmbar war.

Max trat inzwischen unruhig von einem Bein auf das andere. „Was steht drin?“, fragte er voller Neugierde. Diesmal war es Kartl, der sich Zeit nahm, um ihn aufzuklären.

„Nichts Neues. Sie ist erwürgt worden, kräftige Abdrücke auf ihrem Hals, männlicher Täter, keinerlei Spuren auf eine Sexualstraftat, Tatzeit um den Zeitpunkt der einsetzenden Dämmerung. Nur eines ist seltsam. Ihre Augen sind geschlossen gewesen. Muss aber nichts bedeuten.“

Bedrückende Stille erfasste alle im Raum. Bis Günther die Beklemmung löste und mit einem „Ich geh dann mal“ verschwand.

„Danke“, schrie Kartl ihm hinterher.

Irgendwas stimmt hier nicht. Streng dich an, spornte er sich an.

Sie vereinbarten, sich einige Stunden Ruhe zu gönnen, um sich um zehn Uhr morgens wieder im Präsidium zu treffen.

 

 

 

***

 

 

Er wälzte sich unruhig in seinem Bett. Aufgewühlt hatte er sich am Vormittag hingelegt. Wollte zur Ruhe kommen. Nachdenken.

Immer wieder spulte sich dieselbe Szene in seinem Kopf ab und hinterließ einen bitteren Beigeschmack. Endlosschleife. Lass mich los, verdammt. Ich muss es verdrängen.

Er schlug mit den Fäusten gegen die Wand in seinem Zimmer.

Warum immer dieses Frauenmuster, das mich verlieren lässt? Mich zerstört. Sie sind nicht mehr da, doch es verändert sich nichts. Immer wieder aufs Neue steigt es empor. Von wegen geheilt.

Laute Musik erklang in den Räumlichkeiten. Gregorianische Gesänge. Eintönige musikalische Kontraste, die mit ein paar Tönen auskamen.

Ich kann es nicht mehr hören. Du weißt doch gar nicht, was gut ist für mich. Du hast keine Ahnung von der Einheit von Raum, Weihrauch, Licht, Klang, Mythos, Mystik. Du glaubst doch gar nicht an Gott. Dann höre dir diesen Mist nicht dauernd an. Es fühlt sich so geheimnisvoll an wie mein Leben.

Mit demselben irren Lachen, das gestern durch die Nachtruhe geschallt war, verfiel er in den nächsten Albtraum.

 

 

***

 

 

Sie trudelten nacheinander am Vormittag wieder in ihrer Dienststelle ein. Keine Spur, kein Hinweis auf das Motiv. Nur Anfragen von Pressevertretern, Fernseh und Radiosendern. Und das alles am frühen Tag.

Kartl verhängte eine absolute Nachrichtensperre. Sollen die doch selbst ihre Geschichte schreiben.

Er wusste auch, je länger sie den Mörder nicht präsentierten, desto ungeduldiger wurden alle.

Allerdings verspürte er noch immer das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Nochmal nahm er sich den Obduktionsbericht zur Hand, las ihn immer und immer wieder durch. Ihre geschlossenen Augen brachten ihn nicht weiter bei seinen Überlegungen.

„Ich muss hier raus“, sagte er ungehalten zu Max.

Im selben Moment wählte er eine Nummer über sein Diensttelefon. Nach einem kurzen Moment des Wartens legte er erfreut los. „Mensch Prantl, wie geht es dir?“, prustete er gut gelaunt in die Sprechmuschel.

Max bekam nicht viel vom Inhalt des Gespräches mit, nur dass sich die beiden am Ende anscheinend auf ein Bier verabredeten.

„Also dann bis später“, beendete sein Chef das Gespräch und lehnte sich zufrieden in seinen Stuhl.

„Na, ein Date?“, frotzelte Max.

„Ja“, grinste Sepp nur. „Wir treffen uns später mal wieder. Kommen eh nicht weiter“.

„Alles klar“, entgegnete Max.

Nachdem die nächsten Stunden wirklich keine Änderungen der Sachlage erbrachten, beschlossen sie frühzeitig Feierabend zu machen. Max fuhr nach Hause und Kartl begab sich auf den Weg nach Erlangen.

 

Sie trafen sich wie immer im Stammlokal vom Prantl in der Stadtmitte, dem Steinbachbräu-Keller. Prantl saß schon wie gewohnt auf seinem Lieblingsplatz, und heute stand sogar schon für Kartl das Bier auf dem Tisch.

„Das nenne ich ja mal eine Begrüßung. Servus Prantl.“

„Servus Sepp. Setz dich her.“

Herzlich wie immer begrüßten sich die beiden. Mit Kommissar Prantl, mit vollem Namen Michael Prandlhuber von der Polizeiinspektion Erlangen-Höchstadt, verbanden Kartl eine lockere Freundschaft und einige Gemeinsamkeiten, wie dass beide geschieden waren.

„Wie geht es dir denn so?“, wollte Prantl wissen.

„Nicht so gut, zumindest beruflich. Wir haben wieder so einen blöden Fall, bei dem es nicht die Spur einer Lösung gibt. Kein Motiv, keine Tatverdächtigen.“

„Aber ihr habt doch zumindest eine Leiche. Mit dem letzten Fall hast du schon mehr Leichen als ich in den letzten eineinhalb Jahren“, zog Prantl ihn auf.

Kartl klopfte seinem Spezl auf die Schultern. „Ja, aber das Ergebnis am Anfang ist dasselbe. Kein Erfolg. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass mich der Mord an irgendetwas erinnert. Ihre Augen waren geschlossen. Vielleicht ein alter Fall?“ erwiderte er zerknirscht.

Nach diesen Worten verließen sie den Pfad des Beruflichen und widmeten sich dem guten Bier, der guten Laune und den gegenseitigen Späßen.

Irgendwann zu fortgeschrittener Stunde wurde Prantl auf einmal sehr nachdenklich und still.

„Was ist los?“, fragte Kartl, der dies sofort bemerkte.

„Dein Fall. Beschreibe mir doch mal den Tatort, wie du ihn vorgefunden hast.“

Kartl schilderte seine Eindrücke, informierte ihn über die Ergebnisse des Gerichtsmediziners und die momentane Beweislage.

„Das ist alles, mehr gibt es nicht?“

„Was stellst du für eine komische Frage?“

„Vor zwölf Jahren, glaube ich, hat es mal einen Mord in Nürnberg gegeben“, erklärte ihm Prantl. „Meines Wissens ist er nie aufgeklärt worden. Aber er ähnelt vom Muster her deinem Fall. Ein junges Mädchen, blond, jung, hübsch. Mit verschlossenen Augen. Das hat mich stutzig gemacht.“

Gebannt hing Kartl an seinen Lippen.

„Woher weißt du das?“

„Ich bin damals bei der Kripo in Nürnberg gewesen. Zwar nicht direkt mit dem Fall befasst, aber nah genug dran, um das mitzubekommen.“

„Warum hast du gefragt, ob das alles war?“

„Weil bei diesem Mord ein ganz markantes Detail vorgekommen ist.“

„Was für ein Detail?“, wollte Kartl mit zusammengekniffenen Augen wissen.

„Ihre Hände lagen nebeneinander unter ihrem Mantel. Nur die beiden Daumen waren miteinander verkreuzt. Wie ein Zeichen, vielleicht auch zufällig, aber sehr auffällig.“

„Ich habe mir ihre Hände in der Nacht nicht angesehen. Vermutlich habe ich mir gedacht, sie hätte sie bei der Kälte in ihre Manteltaschen geschoben“, erläuterte Kartl. „Verdammt, da muss ich mir die Fotos der SpuSi nochmal genauer anschauen“.

„Ja, mach das und sag mir Bescheid. Vielleicht kann ich dir mit Nürnberg weiterhelfen. Habe noch so meine Kontakte.“

„Danke dir Prantl, melde mich sofort morgen früh bei dir.“

Mit diesen Worten beendeten sie ihren gemeinsamen Abend.

Kartl fuhr sehr nachdenklich nach Hause. Haben wir es mit einem Wiederholungstäter zu tun? Diese Frage werden wir vielleicht morgen klären, überlegte er sich, bevor er ein paar Stunden Schlaf fand.

 

 

***

 

Die Hölle holte ihn ein, der absolute Albtraum. Nach außen hin wahrte er den Schein, seine Identität. Behielt seinen gewohnten Tagesablauf bei.

Nur nicht auffallen. Ich habe mich doch unter Kontrolle gehabt“, rechtfertigte er sich laut.

Schweißgebadet und mit irrem Blick lag er auf dem Sofa. Warum stand sie auf einmal da vor ihm? Ohne Ankündigung? Es darf mir nicht mehr passieren. Ich muss mich in Acht nehmen. Nicht noch einmal. Dreimal schon. Das muss aufhören. Alles ist gut, du musst dir keine Sorgen machen.

Du lebst doch in einer völligen Traumwelt. Nichts ist mehr real. Doch es ist alles so nah, so wirksam, so tief.

Völlig dem Wahn verfallen, brach aus ihm wieder dieses irre, laute Lachen seiner gestörten Persönlichkeit hervor.

 

***