12. Kapitel


Meine Laune befand sich am Samstagabend weit unter dem Nullpunkt.

Im Staatstheater wird der Mann, den du dir ganz gut als deinen eigenen vorstellen könntest, ein Konzert geben. Man malt sich die Szene aus: Schick gekleidete Leute sitzen erwartungsvoll, hören zu, klatschen und trinken in der Pause Sekt. Hinterher geht man noch weg.

Ich sitze mit einem Loch im Strumpf zu Hause und muss an Nadias Radio mühsam und zunächst vergeblich nach SWR2 suchen.

Wer hörte diesen Sender schon? Nadia jedenfalls offenbar nicht. Bei ihr war Deutschlandradio eingestellt, und ich höre bekanntlich nicht gerne Musik. Als ich endlich beim Kulturprogramm angekommen war, hatte das Konzert schon angefangen. Rock Histories hieß es im Programm.

Zumindest wusste ich auch ohne den Ansager, wer an der Sologitarre saß. Ich sah Oliver vor mir, mit seinem konzentrierten ernsten Gesichtsausdruck, den er immer dann hatte, wenn ihm etwas wichtig war. Und seine Musik war ihm sehr wichtig. So wie auch Nadia ihre Skizzen und ihre Fotos sehr wichtig waren.

Das Konzert kam in guter Qualität aus dem Apparat. Ich bin kein Kenner in Sachen Rockmusik. Als andere für Mick Jagger geschwärmt hatten, hatte ich einen Starschnitt von Peter Maffay ausgeschnitten. Oder sogar peinlicherweise einen von Roland Kaiser.

Einige Songs kannte ich trotzdem, andere nicht, aber es waren schon mächtige Klänge dabei. Ob man in dreihundert Jahren von diesen Liedern sprechen würde wie heute noch von Mozarts Kompositionen? Oder ist unsere Zeit nicht mehr für Ewiges gut?

»Sailing« von Rod Stewart klang eindrucksvoll.

Und »Nights in White Satin« auch.

»Sitting on a fence«, ein eher unbekannter Titel von den Stones, den ich immer gemocht hatte. »White satin ...«, klang es in mir nach.

Oliver und ich hatten nicht gerade in Satin gelegen. Doch die Nächte hatten trotzdem in meiner Erinnerung ebenso Geschichte geschrieben wie der Song da. Verdammt. Der Kerl war liiert, drüben in Irland. Übermorgen war er wieder dort. Vielleicht dachte er kurz an mich, wenn er sie in den Arm nahm ...

Ich holte den Mountain Dew aus dem Schrank. Ich sollte eigentlich nichts mehr trinken.

Nicht mit den Tabletten. Na, ein Glas würde mich nicht umbringen.

Ich stellte das Radio lauter.

Nessie verkroch sich in ihre Höhle und rollte sich zusammen.

Rockige Klänge, eine Gitarre. Der Ire in Oliver schimmerte durch. Manchmal klang sein Spiel fast wie Folklore. Ich fühlte, wie die Musik in meine Seele eindrang.

Oliver war wahrscheinlich wirklich ein großer Gitarrist. Für Künstler gelten Sonderregeln. Auch moralisch. Ich trank noch einen ganz kleinen Whiskey.

Dann schwankte ich zum Schrank in Nadias Arbeitszimmer. Warum? Ich wusste es nicht. Und wieder wühlte ich in Nadias Sachen. So wie damals.

Ich dachte zurück an den Moment, als ich damals die Aufnahmen fand, wie ich das Foto umgedreht hatte und nach dem Datum gesucht hatte. Nur ganz dünn hatte sie mit Bleistift hingekritzelt: 23.4.2004. »Unschönes Ende im Grünen«.

2004 war auch ihre große Ausstellung in Karlsruhe gewesen. Wann eigentlich genau 2004? Sie hatte es nie erwähnt. Und doch war da irgendetwas.

Bunte Zahlen begannen in meinem Kopf verrückt zu spielen. Irgendwo hatte ich doch kürzlich etwas gelesen von Nadias Ausstellung. Begleitet von »Under my thumb« von den Stones lief ich ins Schlafzimmer, riss die Schublade auf und suchte nach dem Zeitungsartikel, der sich da hinten verhakt hatte. Nadias Ausstellung in der Deutschen Bank. Vielbeachtet. Gelobt. Ein aufgehender Stern am Himmel fotografischer Kunst. Sicher demnächst im ZKM. Ruhige Chronistin einer Zeit zwischenmenschlicher Isolierung mit einer unbestechlichen Linse.

Die Ausstellung war am 11.3.04 eröffnet worden und Anfang April bereits beendet gewesen.

Kein Problem. Die paar Tage. Sie hatte sich eben geirrt, als sie gesagt hatte, vor der Ausstellung wollte sie keinen Skandal riskieren, und deshalb hätte sie den Toten nicht gemeldet. Sie hatte sich getäuscht. Es war zwar ungewöhnlich, aber das konnte vielleicht sogar Nadia passieren. Nein, dachte ich, eigentlich konnte es ihr nicht passieren. Es war nicht typisch für sie.

Dann tauchten plötzlich noch andere Zahlen in meinem Hirn auf. Zahlen und Jahre.

Etwas, das mich irritierte. Etwas, das die ganze Zeit schon da gewesen war.

Das Bild war am 23.4.2004 entstanden. Doch was hatte die Frau im Toilettenhäuschen gesagt – übrigens, wie ich jetzt vermutete, die Tante vom Nebel? Vor drei Jahren erst waren die Bänke mit den Engelchen aufgestellt worden. Bänke, die der alte Goll mitfinanziert hatte. Das wäre also 2006 gewesen.

Und was hatte Nadia gleich zu Beginn der ganzen Geschichte als Fundort der Leiche und Schauplatz des Fotos angegeben: »In der Nähe dieser komischen Ruine. Man bog um eine Ecke, dann war da, ja, so war es, eine Bank mit einem sitzenden Engelchen darauf und danach noch ein paar Meter weiter, rechts im Gebüsch.«

Sie musste wohl später noch einmal im Park gewesen sein. Sonst hätte sie die Engelsbank nicht gekannt. Sie hatte sich eben noch einmal geirrt.

Denn in der Nähe der Engelsbank hatte der Tote im Jahr 2004 keinesfalls liegen können. Es hatte dort damals noch gar keine Bank mit Engeln gegeben. Angeblich war sie in den letzten Jahren jedoch niemals mehr in der Nähe des Tatorts gewesen.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Stromschlag und ließ mir die Knie weich werden.

Nadia hatte mir eine falsche Stelle im Schlossgarten genannt. Oder ein falsches Datum.

Wie hatte sie einmal bei einer unserer Unterhaltungen über ihren Beruf gesagt: »Eine Straße kann überall sein. Du gibst dem Bild den Titel Straße in Mecklenburg, und die Leute werden jedem gegenüber Stein und Bein schwören, es ist eine Straße in Mecklenburg. Aber sie könnte ebenso gut im Elsass sein. Wenn keine Häuser und keine Schriften zu sehen sind, ist die Wahrheit nur relativ.«

Die Wahrheit war relativ. Alles in diesem Garten in Schwetzingen war eine harmlose, eine bezaubernde, eine heitere Täuschung. Die mythologischen Figuren, die Moschee, das Ende der Welt. Täuschungen.

Und Nadias Foto war auch eine Täuschung. Im Schwetzinger Schlosspark hätte die Polizei lange nach Blutspuren suchen können. Es gab dort keine, denn Marek hatte vielleicht niemals dort gelegen. Er war vielleicht in einem anderen Park, in einem anderen Wald getötet worden.

»Warum«, fragte ich in einen geisterhaft leeren Raum hinein, »warum hast du mich angelogen, Nadia?«


**********


Im Radio klagte Olivers Gitarre über ein Kinderschicksal im »Ghetto«, und von der Türe antwortete mir eine kühle gelassene Stimme.

»Weil ich ihn umgebracht habe, Maren. So einfach. Er wollte mir alles kaputt machen, aber das konnte ich doch nicht zulassen, oder? Dafür habe ich ein wenig zu hart gekämpft für das bisschen Karriere. Genauso wenig wie ich es jetzt zulassen kann, dass du mir alles kaputt machst. So viele Chancen haben wir nicht im Leben, nicht wahr?«

Sie hatte natürlich einen Schlüssel für ihre eigene Wohnung. War mit der für sie typischen leisen Geschmeidigkeit einer Katze in den Raum getreten. Stand da, lächelnd.

Nadia!

Zuerst sah ich es nicht, was sie da blitzend in der Hand hielt.

Dann erkannte ich es. Von den Exponaten im Spargelmuseum. Ein Spargelmesser. Wunderbar. Das perfekte zweite Verbrechen. Man würde den Mörder weiter im Milieu des königlichen Gemüses suchen, und diesmal waren die Zeichen eindeutig. Goll war bei mir gewesen. Der Nebel.

Sie würde sagen: »Mein Gott, die arme Maren. Ich kam heim, und sie lag so da. Mein Gott, wieso hat sie auch in dieses Wespennest in Schwetzingen gestochen? Und getrunken hatte sie auch. Konnte sich dann nicht mehr wehren. Sie muss denen in ihrem Rausch sogar die Tür aufgemacht haben. Wozu diese Leute in unserem Land fähig sind.«

Ein bedauerndes Schluchzen würde sie auch noch fertig bringen. Sie hatte bis hierher gelogen. Mit Lust an ihrem tödlichen Spiel hatte sie gelogen. Eiskalt und geschickt.

Wie hatte ich so blind sein können? Mich in ihr so täuschen können? Aber hatte ich mich denn wirklich so sehr getäuscht?

War mein Respekt vor ihr nicht immer mit Angst vermischt gewesen? Oder mit einer gewissen Vorsicht?

»Lady in Black« klang es aus dem Radio. Der Song von Uriah Heep hatte für mich immer zu den ganz Großen gehört.

»Stelle es lauter. Etwas lauter!«, befahl sie.

Ich starrte sie nur an. Sie machte eine abfällige Bemerkung. »Auch gut. Das Ding macht keinen Lärm.«

Ich kehrte zurück ins Jetzt. Kämpfte nicht einmal mehr um mein Leben, nur um einen Grund, warum ich sterben sollte. Niemand, außer Natalie, die auch tot war, hatte sich für den Verbleib dieses Marek interessiert. Nicht einmal die Polizei. Und er kostete mich jetzt mein Leben.

»Aber warum? Nadia, warum?«

»Dieser Marek war ein Idiot. Mich erpressen zu wollen. Ich habe ihn vor Jahren, zu Beginn meiner Karriere als Fotografin, in einer Bar in Polen kennen gelernt. Ich war nur zu Besuch in Warschau, und er hat dort für Touristen Klavier gespielt. Damals ging es den Polen noch etwas schlechter. Nur schwache Hoffnungen auf die EU oder den Euro. Doch er wusste, was er wollte, und er konnte gut deutsch. Ich habe mich öfter mit ihm getroffen. Er war jung und ehrgeizig. Geschmeichelt. Und er sah gut aus. Und er war hungrig nach Geld. Wir haben dann einen ganz netten Deal gemacht. Ich wusste, dass in der Szene in Frankfurt Bedarf an hübschen kleinen Polinnen war, die nicht allzu prüde waren. Er hat mir diese Mädchen besorgt. Und ich habe ihnen erzählt, wie gut es ihnen in Frankfurt ergehen würde. Als Hausmädchen, als Serviererinnen. Sie sind gerne gegangen.«

Sie zuckte abfällig mit ihren Schultern. »Nun ja. Auch im Westen verdient man eben kein Geld ohne eine kleine Gegenleistung, nicht wahr? Das mussten die dummen Dinger doch wissen.«

Ließ den Mantel dabei langsam von ihren Schultern gleiten und fallen, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Der Duft ihres teuren Parfüms erreichte mich noch schwach.

Nessie näherte sich interessiert und schnupperte.

»Ich habe gut Geld verdient mit dem Anwerben der Mädels. Irgendwann versandete der Markt. Andere, härtere Leute, tummelten sich darin, ich bin von Frankfurt nach München gezogen und habe mit der Sache aufgehört. Vor allem, nachdem sich diese naive kleine Jana das Leben genommen hatte. Stürzt sich aus dem Fenster einer Wohnung in einem Hochhaus, nur weil der Mann, der sie bestellt hat, ein bisschen grob wurde. Dummes Ding. Ein paar Jahre später, und es hätte sie sowieso keiner mehr gewollt.«

Nadia lachte ein unschönes Lachen. Im Radio wurde geklatscht. Zugaberufe kamen auf. Das Orchester, auch Oliver, wurde gefeiert, während ich bald ermordet wurde. Was würde aus Nessie?

Als ob sie meine Gedanken geahnt hätte, meinte Nadia lässig: »Tierheim. Oder Consuela, die Gute. Ich tue dem Köter nichts. Aber vorübergehend«, ein kaltes Grinsen, »muss sie jetzt ins Schlafzimmer. Vielleicht behalte ich sie sogar!«

Ich schauderte. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine gefährliche Situation erlebte, Auge in Auge mit einem Mörder oder einer Mörderin, aber noch nie war ich, eingesperrt in eine Wohnung, so lange mit ihnen alleine gewesen.

Es hatte immer noch eine vage Chance gegeben, irgendwie davonzukommen. Wegzurennen. Sich zu verstecken. Auf andere Menschen zu hoffen. Aber hier in diesen Räumen? Sie und dieses still tötende Messer. Als Gegenüber eine so kalte Frau wie Nadia.

Sie lockte meinen vertrauensseligen Hund mit einem Leckerli ins Schlafzimmer, und das dumme Vieh fiel natürlich prompt auf den Trick herein. Die Tür schloss sich hinter meinem Tier.

»Also, das war in Polen. Einige Zeit her. Dachte, ich sehe den Knaben nie mehr. Inzwischen wohnte ich in Karlsruhe. Und dann treffe ich ihn ausgerechnet in Heidelberg wieder. Hatte eine interessante Abendaufnahme vom Schloss gemacht. Er erkennt mich natürlich, und die kleine Ratte beginnt mich zu erpressen. Will mich bei der Polizei anzeigen, mein Treiben von früher an die Presse geben. Die Orte, an denen ich Ausstellungen habe, informieren. Er selbst habe nichts gewusst davon, was die Mädchen erwartet. Hatte angenommen, sie seien wirklich als Haushaltshilfen vorgesehen gewesen.«

Sie musterte mich eingehend. Mir wurde schlecht vor Angst.

»Wir haben uns ein paar Mal hier in der Nähe getroffen. Ich habe versucht, ihn erst einmal zu beobachten. Habe ihn freundlich behandelt. Sogar mit ihm geschlafen. Du weißt, mir macht das nichts aus. Ich gebe ja nicht mein Heiligstes weg, so wie du das gerne darstellst. Was getan werden muss, muss getan werden. Habe ihn ausgehorcht. Ich wusste bald, dass er zwar gearbeitet hatte, aber nicht angemeldet war. Und dass seine neue Familie nicht gerade überglücklich über die Verbindung mit der Kleinen war. Und dass seine Kollegen ihn nicht mochten. Im Ernstfall gab es da also ein paar Verdächtige.«

»Wo hast du ihn getroffen?«

Meine Zähne klapperten. Kaum konnte ich sprechen.

Wichtig war, sie am Dozieren zu halten. Dafür zu sorgen, dass sie sich selbstherrlich an ihrem eigenen Rausch ergötzte. Solange sie sprach, holte sie nicht mit diesem entsetzlichen Messer nach mir aus.

Ich versuchte unauffällig nach Fluchtmöglichkeiten zu suchen, aber sie wohnte im dritten Stock und blockierte die Tür. Und mein Fuß war nicht einsatzfähig.

»Auf meinem Grundstück an der Alb. Anfangs war er mit einer teuren Uhr und dem Sex zufrieden. Doch eines Tages rückte er he­raus – er wollte nun Geld, um mithalten zu können bei seiner reichen Schwiegerfamilie. Viel Geld. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da wuss­te ich schon, dass er fällig war. Haben die nicht einen Fehler gemacht, als sie mich nicht genommen haben bei den Schauspielschulen, diesen miesen Klitschen? Ich habe gelächelt: ›Da kann man was machen, Marek. Morgen Nachmittag, nach dem Casting für das Mozartspektakel, feiern wir. Und bring deinen Ausweis mit. Ich kann da vielleicht was für dich arrangieren‹. Das war wichtig. Alles hätte Marek zurückgelassen, aber nicht seinen Ausweis. Nur die Gitarre, die habe ich vergessen, das war ein Fehler. Er ist jedenfalls darauf reingefallen. Ich habe einen Treffpunkt mit ihm ausgemacht, am Abend, habe ihn am Bahnhof abgeholt und habe ihn mitgenommen in mein kleines Haus und meinen kleinen Garten. Den hat er nie mehr verlassen. Es war herrlich, seinen Verfall zu beobachten in meinem damaligen kleinen Gewächshaus. Niemand hat sich an dem Gestank gestört. Und irgendwann habe ich seine Reste vergraben. Doch es sind vorher wunderbare Bilder entstanden. Und damit meine ich nicht nur die Bilder, die du leider kennst. Es gab noch ganz andere. Die Farben der Fliegen, die auf ihm saßen – wunderbar! Und die Limonen kürzlich stammten noch aus der Erde, gedüngt mit seinem Körper. Alles gedieh dort so herrlich. Leider musste ich nach einem Jahr ausziehen. Inzwischen war er aber schon fast eins mit dem Erdreich. Da kann man chemisch ein wenig nachhelfen. So etwas lernt man im Labor.«

Ich schauderte. Und schlecht wurde mir auch. Kotzübel.

»Als du das Foto fandest, war ich zuerst schockiert. Musste schnell reagieren. Emotionen vorspielen und dir dann eine Antwort geben. Ich blieb dann zumindest teilweise bei der Wahrheit und stellte eine Verbindung nach Schwetzingen her, wo er wirklich gelebt hatte. Ob das wirklich eine gute Idee war, bezweifle ich heute. Ich beschloss, dir vorzuspielen, ich wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Was solltest du ohne Beweis und ohne meine Hilfe herausfinden? Doch irgendetwas musst du mir verheimlicht haben, nicht wahr? Eine Information, woher auch immer. Und dann kam diese kleine schlaue Ana mit ihrer Äußerung, der Tote sähe wie ein Pole aus. Pech und Glück gleichzeitig für mich. Jetzt geriet das Spargelmilieu in Verdacht, und die Entwicklung war also nicht mehr aufzuhalten. Also ließ ich dich in die Richtung laufen. Noch immer würde sich dadurch keine Verbindung zu mir herstellen lassen. Inzwischen habe ich es manchmal fast genossen. Ich war wirklich erstaunt, wie schnell du dich darin verstrickt hast.«

»Und dein Wutanfall? Als du das Foto verbrannt hast? Alles gespielt, Nadia?«

»Na, was denkst du wohl? Ich sage doch – die Schauspielschulen hatten Tomaten auf den Augen, als sie mich nicht nahmen. Außerdem hattest du danach ein herrlich schlechtes Gewissen. Dein mieses Foto durfte ich leider nicht zerstören, das hätte mich sogar bei dir verdächtig gemacht.«

Beinahe wie Kichern klang ihr Lachen. Ich hätte früher darauf kommen können. Ein Schloss in Deutschland, hatte Oliver gesagt, sah für seine Kumpels aus wie jedes andere. So sieht auch ein Stück Waldlichtung aus wie irgendein anderes. Und wenn eine Fotografin sagt, sie habe ein Bild im Schwetzinger Schlossgarten aufgenommen, dann glaubt man ihr das. So hatte ich den Ort niemals hinterfragt, obwohl Grünpflanzen und Büsche überall wachsen können. Auch in einem verwilderten Karlsruher Garten. Ein tödlicher Fehler. Ich schielte immer noch nach Fluchtwegen aus dieser Wohnung. Es gab keine.

Der Hass, der sie zum Töten gebracht hatte, schlich sich in ihre Stimme, die sonst so distanziert und amüsiert klang. Zwischen sie und ihre Karriere würde sich niemand stellen.

»Ich musste mich natürlich gegen diesen Marek und seine Gier wehren. So wie jetzt auch gegen dich und dein Gerechtigkeitsempfinden. Er hätte keine Ruhe gegeben und meine Karriere zerstört, und das erlaube ich ihm nicht und dir auch nicht.«

»Nadia«, ich versuchte mich ihr vorsichtig zu nähern, aber sie fuchtelte mich mit dem Messer zurück. Nessie bellte heiser aus dem Schlafzimmer.

»Ich habe ihn mit einer netten kleinen Pistole erlegt. Damals sogar in Polen gekauft. Ironie der Geschichte. Frauen wie ich leben gefährlich. Ich habe früher viel im Obdachlosenmilieu fotografiert. Da braucht man schon ein wenig Unterstützung!«

Sie kam auf mich zu, mit dem Messer in der Hand.

Man liest so gerne, in den Augen von zum Töten entschlossenen Mördern stehe Irrsinn zu lesen, doch ich sah keinen Irrsinn in ihrem Blick. Nur kalte gefühllose Berechnung.

Dieses Messer. Wie es sich wohl anfühlte, wenn ein Spargelmesser die Eingeweide zerfetzte?

Jetzt war es also soweit.

Ich musste wirklich sterben. Für ein lächerliches Hobby. Dafür, dass ich mich in die Angelegenheiten von Toten einmischte.

Ich starrte ihr in die Augen.

Dann kam von ihr ein unglaubliches Geräusch.

Sie lachte.

Lachte mir ins Gesicht.

Öffnete die Schlafzimmertür und ließ den Hund heraus, der sich schwanzwedelnd freute. Nessie freut sich immer, wenn sich eine Tür öffnet.

»Maren«, sagte sie und gluckste auf eine unwirkliche Weise gut gelaunt, »setz dich hin. Ich werde dich nicht umbringen. Aber du fällst immer wieder darauf rein, nicht wahr? Auf alle meine Tricks.«

»Du bringst mich nicht um?«, wiederholte ich stupide. »Nein?«

Tut mir leid, dass ich in den Schlussszenen meiner Abenteuer nie wirklich souverän aussehe. »Nein« antwortete sie. »Und weißt du, warum? Nicht, weil ich dich lebend sehen will. Du bist mir egal. Eine dauernd liebeskranke Romantikerin. Nein, weil ich rechnen kann. Wenn ich dem Richter erzähle, wie Marek mich bedroht hat, erpresst und vergewaltigt hat, wenn ich es nur richtig erzähle, dann komme ich glimpflich davon. Nicht vorbestraft. Mein Vater früh gestorben. Familie verarmt. Du kennst das alles. Bringe ich dich aber auch noch um, dann sieht es anders aus. Vergiss nicht, Marek war nur ein Pole!«

Und sie lachte wieder. Schwang das Messer in der Luft.

»Nadia«, ich zitterte, »sag das nicht. Sei nicht so schrecklich gefühllos.«

»Ich kann mir keine Gefühle leisten. Aber trotzdem: Chapeau. Für eine so beschränkte Person hast du ganz hübsch gelernt, eins und eins zusammenzuzählen. Ich habe übrigens von Anfang an geahnt, dass mein Spiel verloren war. Erinnere dich, dass ich dir sagte, der Verfall ist nicht aufzuhalten. In dem Moment, als du die Fotos gefunden hast, stand ich mit einem Bein im Gefängnis. Doch die wenigen Wochen in Freiheit wollte ich noch genießen. Und ein bisschen mit dir spielen. Doch jetzt, glaube ich, kommt dein Hilfstrupp, um dich zu retten.«

Sie schubste Nessie wieder ins Schlafzimmer und schloss die Tür.

»Besser so!«, meinte sie.

Gelassen stellte sie sich vor den Spiegel im Gang, zupfte ein Haar zurecht. Und öffnete die Wohnungstür.

Ein letztes Mal lächelte sie mich spöttisch an, während sie das Spargelmesser in der Hand wog. »Ein unschönes Ende!«, sagte sie, »Was soll’s!« Dann warf sie es spielerisch in meine Richtung. Mit einem lauten Knall fiel es zu Boden und blieb vor meinen Füßen liegen.

Da erst hörte ich mich Schreien.

Plötzlich schien alles in Bewegung. Lärm im Treppenhaus.

Und durch die Tür stürzten Elfie Kohlschröter-Oberst sowie eine mir unbekannte Beamtin in Zivil, gefolgt von zwei uniformierten Polizisten.

Die Männer hatten Waffen in der Hand. Elfie hatte ihre Hand in ihrer Jackentasche. Nessie in ihrem Schlafzimmer bellte frenetisch mit sich überschlagender Stimme, die in ein heiseres Grollen mündete. Endlich war was los, und sie mal wieder nicht dabei.

Im Fernsehen sehen diese Szenen immer anders aus. Dauern länger. Wirken dramatischer. Totaleinstellungen. Verzerrte Mienen. Schreie. Da gibt es einen filmgerechten Kampf zwischen Täter und Polizei, der uns eine Weile um die Gerechtigkeit fürchten lässt.

In der Realität bezahlen wir unsere Beamten eben genau dafür, dass es keine langen Kämpfe gibt, und das Ganze ist eine stumme und rasche Angelegenheit.

Der Kleinere der beiden Polizisten legte Nadia routiniert Handschellen an, die Beamtin tastete sie blitzschnell ab. Draußen im Gang wurden Stimmen von Nachbarn laut, Türen schlugen.

Ein Kind heulte sirenenartig.

Nadia war ganz ruhig. Mein Hund nicht.

Nessie drehte durch und kläffte in höchsten Tonlagen mit überschnappender Stimme.

Der Größere ließ sie schließlich hinaus. Sie schoss in den Flur und bellte die Polizisten an, um Nadia zu verteidigen.

»Sie wollte mich nicht umbringen«, erklärte ich Elfie töricht, bevor mir schwindlig wurde. Ich lehnte mich an die Wand. Das Foto mit den erotischen Avocados verrutschte. »Sorry«, meinte ich und rückte es gerade. Nadia nickte anerkennend.

Nessie knurrte.

Nadia lachte. »Jetzt verstehe ich endlich die Redewendung ›dummer Hund‹.«

Das nahm ich ihr allerdings übel.

Im Radio spielte man »Bridge over troubled water«

Die Töne rollten. Sie rollten wie meine Erleichterungstränen. Meine Beine zitterten. Die Knie schlugen aneinander. Ich setzte mich.

Noch nie war ich so froh gewesen, diesen Song zu hören. Und als Olivers Gitarre lauter wurde, anschwoll und wieder leise zu flüstern schien, da wusste ich, dass ich nicht nur überlebt hatte, sondern dass ich verliebt war.

Und dass sich etwas ändern würde in meinem Leben.

Diesmal würde ich gegen die andere Frau, die in Irland, kämpfen.


**********


»Oliver hat uns informiert. Er wusste von dir, dass sie heute Abend aus Berlin zurückkommen würde. Während sie weg war, haben wir neue Erkenntnisse gewonnen, die für eine vorläufige Festnahme reichen. Dass wir dir dabei so rein zufällig das Leben retten oder auch nicht retten konnten, ist ein hübscher Nebeneffekt. Ich weiß aber nicht, wie oft wir das noch machen können, Maren. Irgendwann kostet es mal Gebühren. Mit An- und Abfahrt.«

»Sehr witzig. Nur würde ich jetzt ganz gerne wissen, wieso ihr mich wie eine Idiotin behandelt habt, den Fall scheinbar ebenso wenig ernst genommen habt wie meine Hinweise, und jetzt taucht ihr genau zum richtigen Zeitpunkt auf. Hab ich da was übersehen?«

»Maren, du hast bei dieser Frau gelebt. Mit dieser Frau gelebt. Bei deinem eher schwach ausgeprägten schauspielerischen Talent: Man hätte dir jede Information von unserer Seite sofort angesehen. Zudem fehlten uns entscheidende Hinweise. Wir mussten erst sicher gehen.«

»Ihr habt den Fall also ernst genommen.«

»Natürlich. Wir trauen dir schon zu, dass du einen Ermordeten erkennst, wenn du einen siehst.

Nachdem du das Vorkommnis gemeldet hast, hatten wir Nadia Rixinger sofort im Verdacht. Uns machte stutzig, dass sie dir das ›Geständnis‹ ihres Fundes freiwillig gemacht haben wollte. Das war nicht lebensnah. Und auch deine Beschreibung von der traumatisierten Nadia, die kopflos vom Tatort geflohen sein soll, passte nicht zu der Frau, die wir vernommen haben. Da stimmte etwas nicht.

Eine Profifotografin, die in einem Park mit der Kamera unterwegs ist, eine Leiche entdeckt und keine Aufnahme macht? Sehr unwahrscheinlich. Aber da du uns das Foto des Toten unterschlagen hast, dauerte es länger als nötig, bis wir sie festnageln konnten.«

»Ich wollte sie schützen.«

»Spricht für deine enorme Menschenkenntnis. Oliver misstraute ihr ebenfalls schon länger, auch wenn er sich dir gegenüber wahrscheinlich nicht so deutlich geäußert hat. Zuerst mehr aus einem Gefühl heraus, sagt er. Doch da war noch etwas, das ihn misstrauisch machte. An dem Abend, als ihr diese Balkonparty gefeiert hat, ist er mehrmals zu der Schublade gegangen und hat sich die Aufnahme noch einmal genau angesehen. Einen Verdacht hatte er schon vorher, doch dann sah er, was ihn auf deiner Kopie von Nadias Foto gestört hatte, die du ihm gezeigt hattest. Ganz verschwommen, am Rande des Bildes, ist eine bestimmte Stechpalmenart zu sehen, und es wachsen keine solchen Stechpalmen im Schwetzinger Schlossgarten. Er ist extra noch mal hingefahren, um sicher zu gehen. In Nadias früherem Garten an der Alb, auch das konnten wir dann herausfinden, gab es aber durchaus die eine oder andere Stechpalme.«

»Warum hat er mir das nicht gesagt? Er konnte mich doch nicht in die völlig falsche Richtung denken lassen?«

Meine vermeintliche Retterin musterte mich kühl. »Ich dachte immer, du legst großen Wert darauf, selbst zu denken. Und es ist eine heikle Sache, einer Frau, die man noch nicht lange kennt, zu sagen, sie lebe vielleicht mit einer Mörderin zusammen. Einer, die sie für ihre Freundin hält. Solche Anschuldigungen wollen abgesichert sein. Oder würdest du ohne weiteres jemandem Glauben schenken, der dir von mir erzählt, ich hätte einen Menschen umgebracht?«, dozierte Elfie. Ich nickte stumm. Sie sah mich böse an.

Mein Blick wanderte zu Melchior, der inzwischen eingetroffen war und schweigend am Küchenschrank lehnte. Nadia war nicht mehr da. Ohne ein Wort hatte sie mit ihrer uniformierten Begleitung die Szene verlassen.

Melchior räusperte sich. »Tja, Maren. Oliver hat den entscheidenden Hinweis gegeben. Er war früher Gärtner. Mein Bruder, der Tausendsassa. Für einen irischen Gärtner ist Grün eben nicht Grün. Und dann musste er uns doch über das Foto informieren, Maren, auch wenn er dir versprochen hatte, es nicht zu tun. Und auch deshalb hat er dir wohlweislich nichts von seinem Vorgehen erzählt. Wollte dein Vertrauen nicht verlieren. Unglaublich, wie konsequent du uns Beweismaterial unterschlagen hast. Das hat noch ein Nachspiel, Maren.«

Es war wie immer.

Wir saßen zusammen. Ich zitterte. Meinen Zeh spürte ich nicht mehr. Dafür war mir schlecht. Nie wieder würde ich mich in Polizeiarbeit einmischen. Nie wieder!

Inzwischen hatte sich Melchior auf einen Stuhl gesetzt. Blätterte in einem Block herum. Es war wie immer, nur, dass mir diesmal wirklich elend war. Der Whiskey, die Tabletten und der Anblick des Spargelmessers waren zuviel gewesen.

»Dies war mein letzter Mordfall. Ich schwöre.«

»Das glaubt niemand. Aber zurück zu deiner sauberen Freundin. Bei uns fragte man sich: Wenn sie gelogen hat, was den Ort der Tat anging, dann vielleicht in anderen Dingen auch. Es ist immer die alte Geschichte: Betrügt ein Mann seine Frau, betrügt er irgendwann auch dich. Lügt jemand in deinem Beisein, so belügt er vielleicht auch dich, denn er oder sie hat gezeigt, er ist grundsätzlich dazu fähig. Und als wir erst einmal auf ihrer Spur waren, kamen weitere Ungereimtheiten zutage. Frau Rixingers Vorleben ist mehr als farbenfroh. Jugendfrei ausgedrückt. Sie war in einer Bar beschäftigt und war wohl selbst auch gelegentlich etwas entgegenkommender als üblich gegenüber zahlungskräftigen Kunden. Sie kannte die Mädchen, die dort mit Körpereinsatz tätig waren und angeblich kümmerte sie sich auch um sie. Den Deal mit Marek hat sie so diskret abgewickelt, dass wir außer ein paar Randbemerkungen von Leuten aus der Szene nichts darüber herausfinden konnten. Anfragen in Warschau bei der Kripo laufen noch, dauern etwas länger. Dennoch war es für sie eine kleine Katastrophe, durch die Fotos ins Visier der Kripo zu kommen.«

»Sie hat das sehr geschickt gemacht«, sagte ich. »Hat bei euch behauptet, sie könne sich an Blut gar nicht genau erinnern. Hat damit hinter meinem Rücken die ganze Geschichte eher unwahrscheinlich klingen lassen. Karina hat mir gegenüber so eine Andeutung gemacht, aber ich habe nicht geschaltet. Mir hat sie davon natürlich nichts gesagt. Damit hat sie euch suggeriert, es habe vielleicht keinen Toten gegeben, und den Fall verharmlost. Und wollte mich als fantastische Träumerin erscheinen lassen. Ich habe mich noch schuldig gefühlt, dass ich sie da hineingezogen habe. Raffiniert.«

Melchior nickte und übernahm. Elfie und er waren wirklich ein harmonisches Paar.

»Sie wusste, dass du bei uns für Überreaktionen bekannt bist. Und rechnete damit, dass man ohne einen Beweis den Toten nicht ernst nehmen würde. Nach so vielen Jahren. Keine Spuren im Schlossgarten, keine Leiche. Kein Vermisster. Nur ein Foto. Von dem die Polizei nichts wusste. Dennoch war es ein riskantes Spiel. Sie konnte nicht sicher wissen, dass die Golls Mareks Verschwinden so erleichtert vertuschen würden. Dass sich seine Spur verlieren würde. Aber sie hat die Wahrheit gesagt, dass sie in den folgenden Tagen und Wochen die Zeitungen verfolgt hat, ob etwas über ihn drin stand. Sie hat dir selbst die Zeitungsausschnitte gezeigt. Sie hatte Glück, dass nach deinem unerwünschten Fund alles so gut zusammenpasste.

Doch dann hatte sie Pech. Du hast dich an den Besuch des Mädchens vor fünf Jahren erinnert und die richtigen Schlüsse gezogen. Zwar hast du ihr davon nichts erzählt, doch als sie merkte, deine Ermittlungen laufen in Richtung der Golls, hat sie umgeschwenkt und nur zu gerne gesehen, dass du die gesamte Spargelbranche verdächtig hast. Sie ist eiskalt und hochintelligent. War sie wohl immer schon. Damals ein echter Gewinn für die Frankfurter Zuhälterszene.«

»Die Leiche ...?«

»Wir haben bereits Proben aus Nadias ehemaligem Garten untersucht – mit sehr aufschlussreichem Ergebnis. Nun graben wir den Garten um. Der neue Besitzer, ein Frauenarzt, ist wenig begeistert, wie du dir denken kannst. Ich denke, wir finden den armen Marek. Nicht mehr ganz vollständig, aber immerhin.«

Ich schüttelte den Kopf. Mir war immer noch schlecht.

»Ich habe mit ihr gelebt und sie doch nicht richtig gekannt. Wie in einer ganz normalen Ehe.«

Elfie zuckte zusammen und warf mir einen bösen Blick zu.

»Ich vermute, das Ganze war für sie zum Schluss ein Experiment, wie weit ihre Intelligenz sie tragen würde. Tief in ihrem Inneren muss sie gewusst haben, dass es aus war, als du die Fotografie fandest. Eine echte Lady Macbeth. Ich habe selten eine so kaltblütige Verbrecherin erlebt.«

Ohne dass wir es bemerkt hatten, wurden im Radio die Nachrichten verlesen. Das Konzert musste längst vorbei sein. Ich setzte mich mit zitternden Knien. Auch meine Zähne klapperten unvorteilhaft.

Auf der Treppe hörte man eilige Schritte. Jemand hetzte die Stufen hoch.

Oliver stand vor uns, sein sonst so sorgfältig sturmzerzaust frisiertes Haar wirkte feucht, wie verschwitzt.

»Ist ihr etwas passiert? Was ist hier los?«

Und als er hereinkam, sah ich, dass er sich ernsthafte Sorgen um mich gemacht hatte.

Das war ein verdammt gutes Gefühl.


**********


»Ich bin tatsächlich nicht alleine, Maren.«

Olivers Gesicht, nah an meinem, das Ganze in Elfies und Melchiors Haus. Unter dem Dach. Im Gästetrakt. Ausgestattet mit nach frischer Wäsche riechenden Gästehandtüchern, auf denen kleine Entchen schwammen. Auch das Bettzeug roch frisch. Wie aus der Werbung.

»Ich habe eine Tochter. Kelly. Sie ist 13. Und sie ist ...«, er lachte, »nicht gerade einfach. Sie will eigentlich kein Mädchen sein. Sondern hat sich für das Geschlecht des Monsters entschieden. Wie sie mit Frankreich klar kommen wird, weiß ich nicht. Sie ist Irin durch und durch.«

»Frankreich?«

»Ich habe ein Angebot aus Straßburg. Musikhochschule. Ein verdammt gutes Angebot. Natürlich müssten wir in Straßburg wohnen. Oder in der Nähe. Da gibt es zum Beispiel dieses schöne Städtchen, Sélestat...«

»Wir?«

»Na ja. Oliver, Kelly, Nessie und Maren.«

»Sélestat!«, sagte ich. »Ob es da günstige Wohnungen gibt?«

»Warum«, fragte er, »fängst du eigentlich nicht an, zu suchen?«

Die Autorin


Eva Klingler, geboren 1955, ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitete als Redakteurin beim SWR und für verschiedene Tageszeitungen und veröffentlichte bisher zahlreiche Romane und Kurzgeschichten. In der Maren-Mainhardt-Reihe sind die Bände »Erbsünde«, »Blutrache«, »Kreuzwege« und »Blaublut« erschienen.

Impressum


Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.


© 2016 Der Kleine Buch Verlag | Lauinger Verlag, Karlsruhe


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ISBN: 978-3-7650-2143-5

Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen: ISBN 978-3-7650-8530-7


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Gewidmet meinem langjährigen Freund und Leser

Dr. Marduk Buscher in Baden-Baden


Eva Klingler


WEISSGOLD


Ein badischer Krimi


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Prolog


Eine Entschuldigung für mein Verhalten damals?

Die kann ich nicht wirklich geben. Höchstens eine Erklärung. Es war seinerzeit nicht gerade die glücklichste Phase in meinem Leben gewesen, und wahrscheinlich hatte ich deshalb die junge Frau so abblitzen lassen, als sie mich um Hilfe in ihrem kleinen persönlichen Liebesdrama gebeten hatte.

Ich hatte meine eigenen Liebesdramen zu bewältigen. Die Ratschläge, die ich ihr gab, hätte ich lieber selbst beherzigen sollen. Kämpfte ich doch damals mit den Erinnerungen an Rüdiger, seine Tochter, die kleine Isobal, und vor allem gegen den Wunsch, bei ihm anzurufen, um ihn umzustimmen. Ein sinnloses Unterfangen, selbst in Gedanken. Diese Erkenntnis hatte mich unfreundlicher gemacht, als es sonst meine Art war.

Ein Fehler, den ich fünf Jahre später bereuen sollte. Und doch führte er dazu, dass ein Mörder, der sich schon sicher gefühlt hatte, aufgeschreckt wurde aus seiner trügerischen Ruhe.

Es ist wie mit den Staubflusen, die man unter die Vitrine kehrt, oder dem Aschenbecher, den man mit schlechtem Gewissen hinter einem Stapel Bücher verbirgt, wenn Besuch kommt: Dinge verschwinden nicht einfach. Sie haben die Tendenz, im ganz unpassenden Moment wieder aufzutauchen. So verhält es sich auch mit Mord. Manchmal. Diesmal …

Die Tat steht auf gegen den Frevler. Meist, wenn er es nicht mehr erwartet.


**********


Zurück zum Frühjahr 2004, als eine zarte, leise, aber auf ihre Weise doch bestimmte Frauenstimme telefonisch um ein Gespräch bat. Ein berufliches Gespräch, erklärte sie. So vermutete ich eine genealogische Anfrage, denn schließlich bin ich Ahnenforscherin.

Ich hörte bereits am Telefon, dass es sich um eine junge Frau handeln musste, und seltsamerweise hatte ich ein Bild von ihr vor Augen, das sich bei der ersten Begegnung sofort bewahrheitete.

Ich traf das Mädchen – ich muss sie so unpersönlich benennen, denn sie verriet mir so gut wie nichts über sich – auf ihren Wunsch im Café Palaver, einem stark alternativ angehauchten Ort am Lidellplatz, der als einer der wenigen Plätze von Karlsruhe etwas Altstädtisch-Studentisches ausstrahlt.

Sie saß alleine an einem Tisch, wirkte verloren und sah so aus wie ihre Stimme klang. Sie war mittelgroß und so schlank, dass sie beinahe mager war. Mit ihrer elfenbeinfarbenen Haut, den schwarzen Augen und dem lackschwarzen glatten Haar hob sie sich zwar von der Masse ab, doch sie wirkte nicht exotisch. Nase und Mund waren ebenfalls das, was der Engländer ›delicate‹ nennen würde und wofür es kein deutsches Wort gibt. Vergeistigt und zart, aber nicht zu unterschätzen, dachte ich.

Obwohl sie es war, die das Treffen herbeigeführt hatte, verhielt sie sich kühl, ja beinahe abweisend. Sie war eine dieser Frauen, mit denen man sich besser nicht anlegte, da unter dem Mantel der Zartfühlenden meistens ein erstaunlich harter Panzer lauerte. Oft kombiniert mit einer scharfen Zunge.

Das Mädchen saß vor einem Mineralwasser, das noch unberührt war. Wahrscheinlich hatte sie Angst, sie würde davon zunehmen.

»Frau Mainhardt, ich hatte eigentlich angenommen, Sie sähen ganz anders aus«, eröffnete sie das Gespräch auf eine ziemlich direkte Weise. »Eine Bekannte hat Sie mal erwähnt. Dass Sie Ahnenforschung betreiben. Vor allem für Frauen. Und dass Sie gut sind. Deshalb dachte ich, ich kann mit Ihnen reden.«

Ich blickte gespielt bescheiden in meinen fair gehandelten Kaffee.

»So, wie sie von Ihnen gesprochen hat, dachte ich allerdings, Sie sind noch jung.«

»Nun«, ich räusperte mich, »ich bin zwar nicht mehr zwanzig, aber auch noch keine achtzig. Ich würde mich durchaus noch als jugendlich bezeichnen.«

»Da Sie nicht mehr jung sind«, fuhr sie mit der Unverfrorenheit derer fort, die lebenslänglich auf dem Ticket ›Ich-bin-so-zart‹ reisen und damit glänzend durchkommen, »verstehen Sie mein Problem vielleicht nicht mehr. Meine Mutter begreift auch nichts. Nicht meine Schwester und mein Vater erst recht nicht. Manchmal hatte ich Angst um ihn.«

»Um Ihren Herrn Vater?«, erkundigte ich mich vorsichtig.

»Nein, um ihn. Marek. Und jetzt ist er fort. Sie haben ihn alle gehasst. Vor allem meine Mutter und meine Schwester. Die leben nur für Geld und Erfolg! Das bedeutet alles für sie.«

Ich nickte so neutral wie möglich. Auch ich liebe Geld und Erfolg. Eine unerfüllte Liebe.

»Worum«, erkundigte ich mich vorsichtig, »geht es nun konkret?«

Sie fing nicht gleich an zu erzählen, musterte mich stattdessen noch einmal mit einem langen, prüfenden Blick aus ihren schwarzen Augen, die nichts Samtiges, Weiches hatten, sondern wie eine glatte polierte Fläche waren.

Dann schilderte sie ihr Problem.

Ihr Freund war verschwunden. Sie wollte ihn wiederfinden. Um jeden Preis. Er sei etwas Besonderes. Ein Künstler. Ihre Seelen befänden sich im Gleichklang. Und sie müsste wissen, ob ich derartige Fälle auch übernähme. Ohne meine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter.

Es handele sich um einen Ausländer.

»Was für ein Ausländer?«, fragte ich.

Sie musste jetzt wieder lange nachdenken und mich prüfend mustern, bevor sie sich zu einer Antwort entschließen konnte. Zicke, dachte ich.

»Ein Osteuropäer«, kam es schließlich halblaut.

Und dann, als sei das etwas Peinliches: »Ein Pole.« Hier suchte sie trotzig in meinem Gesicht nach einer Reaktion. Sie würde keine finden. Was hatte sie denn gedacht? Dass ich mich bekreuzigte und ausrief: »Mein Gott, ein deutsches Mädel und ein Pole?«

War mir doch egal, woher ihr Liebhaber kam. Schlechte Laune keimte in mir auf.

Man sei so gut wie verlobt gewesen, fuhr sie fort, der Marek und sie.

Habe sich – auch da musste sie lange prüfen, ob sie mir vertrauen konnte – in Heidelberg kennen gelernt. Genaueres wollte sie nicht preisgeben.­

»Ich bin nicht ganz ... ohne Geld. Wir sind in ... der Landwirtschaft, aber das muss Sie jetzt noch nicht interessieren. Irgendetwas stimmt nicht mit seinem Verschwinden. Er hätte das nie getan«, fuhr sie fort. »Und er hätte niemals seine Gitarre zurückgelassen.«

»Er ist also einfach so verschwunden? Ohne eine Erklärung?«

»Wenn man das so nennen will. Er hat mir einen Brief geschrieben, der aber erst ein paar Tage, nachdem er nicht mehr nach Hause gekommen ist, mit der Post zugestellt wurde. Ich hatte so sehr auf diese Nachricht gewartet. Auf eine Erklärung. Ich konnte es nicht begreifen. Wissen Sie, wie das ist? Einen ganzen Tag lang heulen?«

Ja, dachte ich. Ich weiß es.

Erstaunlicherweise klang das bei ihr jedoch alles ganz sachlich. Sie sprach von ihrem Kummer im Stil einer Nacherzählung.

»Sein Deutsch war ganz gut. Ich habe den Brief nicht mehr, aber ich gebe das jetzt trotzdem in meinen Worten wieder.«

»Warum haben Sie den Brief nicht mehr?«

»Ich habe ihn weggeworfen.«

Ich nickte und fühlte mich bestätigt. Hass und Wut waren jetzt in ihren schwarzen Augen. Ich war überzeugt, dass dieses Mädchen eine gnadenlose Feindin sein konnte. Ein eigenartiges Gefühl beschlich mich.

Leise, aber immer noch bestimmt sprach sie weiter.

»Er müsse sich das alles überlegen. Er sei ein freiheitsliebender Mensch. Ein Künstler. Es fiele ihm schwer, sich jetzt schon festlegen zu lassen. Dabei war er gar nicht mehr so jung. Er hatte«, hier errötete sie wenig altersgemäß, denn sie musste schon Anfang zwanzig sein, »schon einiges an Erfahrung.«

»Na ja, wenn er doch einen derartig … eindeutigen Brief geschrieben hat …«

»Der Brief war irgendwie eigenartig. Nicht seine Sprache. Nicht seine Worte. Ich verstehe etwas von Sprachen.«

Das kam wieder scharf zwischen ihren dünnen Lippen hervor.

»Aber das war bestimmt nicht seine Art. Einfach so zu verschwinden. Er hätte doch persönlich mit mir gesprochen! Ich will einfach wissen, wo er ist, und ihn noch mal fragen, was geschehen ist.«

»Wie lange ist denn das alles her?«

»Ende April habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Also vor zwei Wochen.«

»Sie wissen es bestimmt genauer«, mahnte ich aus Erfahrung. Der Tag, an dem man verlassen wird, brennt sich lebenslang ins Gedächtnis ein. Wenn die Beziehung etwas wert war. Zumindest meine Meinung.

»Wenn Sie unbedingt wollen. Am 23. April. Morgens. Ich hatte ihm zum Tag des Buches einen polnischen Gedichtband im Original in einem Antiquariat in Heidelberg gekauft.«

Kein Wunder, dass er abgehauen ist, dachte ich. Vielleicht hätte der junge Mann sich ein etwas praktischeres Geschenk gewünscht. Nicht jeder steht auf polnische Lyrik. Nicht mal jeder Pole, vermutlich. Und sie ist auch sonst nicht gerade eine einfache Persönlichkeit, darauf wette ich.

»Er war gut gelaunt. Hatte etwas vor. Wollte mir nicht sagen, worum es ging. Eine Überraschung. Ich weiß aber jetzt, was es war.«

»Und was? Ist etwas Besonderes vorgefallen?« Nicht, dass es mich interessiert hätte!

Sie machte eine spöttisch-abwehrende Bewegung in meine Richtung, ohne mich wirklich anzusehen. So als habe sie mich beim Spitzeln ertappt. Irgendwie fühlte ich mich in ihrer Gegenwart unsicher. Ich konnte nicht erklären warum, aber ich mochte diese junge Frau nicht besonders.

»Nein, nein. Horchen Sie mich nicht aus! Etwas Lächerliches eigentlich. Deshalb ist er nicht gegangen. Bestimmt nicht. Ich erzähle Ihnen erst mehr, wenn Sie sagen, dass Sie ihn für mich suchen.«

Das alles gefiel mir gar nicht.

»Ich bin keine Privatdetektivin«, sagte ich kühler, als ich es vielleicht beabsichtigt hatte. »Und ich sammele keine entsprungenen Männer ein. Wenn ich das könnte, hätte ich bei mir selbst genug zu tun. Ich gebe Ihnen den guten Rat: Lenken Sie sich mit etwas ab und vergessen Sie den Mann. So wie er wahrscheinlich Sie vergessen hat oder wird. Solche Dinge passieren.«

Sie sah mich böse an. Ihr Mund bildete jetzt wieder diesen schmalen Strich und ihre Augen waren kleiner geworden.

»Sie wissen nicht, was wir für eine Art von Beziehung hatten. Das war etwas Besonderes. Jetzt, da er nicht mehr bei mir ist, das ist für mich wie das – Ende der Welt.«

»Meine liebe ...«, ich kannte keinerlei Namen, musste es deshalb dabei belassen, »das denkt jeder von seiner Beziehung. Auch wenn es Ihnen schwer fällt: Ich fürchte, Ihr polnischer Verehrer hat kalte Füße bekommen. Vielleicht weil er zu Hause noch eine kleine Freundin sitzen hatte. Ich bin, wie gesagt, keine Privatdetektivin, aber im Laufe meiner Tätigkeit als Ahnenforscherin habe ich manchmal Einblicke gewonnen. Und das kommt eben leider sehr oft vor. Schätzen Sie sich glücklich, dass Sie es noch rechtzeitig gemerkt haben.«

»Sie haben keine Ahnung. Ohne ihn«, sagte sie und stand auf, »will ich nicht sein. Nicht atmen. Nicht einschlafen und nicht aufwachen. Ohne ihn macht alles keinen Sinn. Es ist draußen Frühjahr, aber für mich fühlt es sich an wie Winter. So kalt ist mir. Ohne ihn will ich nicht leben.«

»Sie sind so ziemlich die tausendste Frau, die das in meinem Leben zu mir gesagt hat, und komischerweise leben sie alle noch. Die meisten haben heute einen Stall voll Kinder und wüssten kaum noch, wie der Name desjenigen lautet, ohne den sie damals nicht leben konnten. Reißen Sie sich zusammen. Was haben Sie von einem Mann, den Sie von mir oder durch die Polizei suchen lassen müssen?«

»Das alles mag auf Sie zutreffen. Vielleicht sind Sie nicht so sensibel. Fühlen nicht so tief!«, versetzte sie. Dadurch wurde sie mir nicht unbedingt sympathischer, und mein erster Eindruck bestätigte sich. Leute, die sich selbst sensibel nennen und so furchtbar tief fühlen, sind mir immer suspekt, weil sie meistens nur dann tief fühlen, wenn es um sie selbst geht.

»Ich werde seinen Namen nie vergessen.« Die junge Frau stand auf. »Sie tun so, als liefe ich den Männern hinterher. Das habe ich nicht nötig. Ich hatte schon die Möglichkeit zu heiraten. Und sogar Chefin zu werden. In einem Restaurant. Kein Lokal. Ein gutes Restaurant. Da hätte ich …«, sie schluckte, »etwas zu sagen. Und ich wäre erfolgreich. Wie alle von uns. Aber das will ich nicht. Ich werde ihn nicht ersetzen. Einfach ersetzen.«

»Wie Sie meinen.«

»Sie sind ...«, ich sah, dass sie Tränen unterdrückte und nach einem Ausdruck suchte, »nicht mein Niveau«, stieß sie schließlich hervor.

Ich nahm das gelassen hin. Aber eine Frage beschäftigte mich noch.

»Was hätten Sie getan, wenn sie herausgefunden hätten, dass er sie betrügt, ihr Freund Marek?«

Sie musste keinen Moment nachdenken. Stand auf.

»Ich hätte ihn umgebracht.«