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Über dieses Buch

Die Habsburg-Expertin Dr. Sigrid-Maria Größing charakterisiert Franz Joseph I. und seine Ära nicht aus historischer Distanz, sondern lässt den Kaiser selbst zu Wort kommen. Durch diesen unmittelbaren Zugang gelingt ihr ein sehr menschliches Porträt des zum Mythos gewordenen Herrschers – ein faszinierendes, ungewöhnliches Buch.

Meinem Mann Stefan mit großem Dank gewidmet.

Inhalt

Vorwort

Die letzte Entscheidung des alten Kaisers

Eine Kindheit zwischen Pflicht und Tradition

Die berühmte Ahnenreihe

Vom Kaisertraum der »lieben Mama«

Die bayerische Verwandtschaft

Auf dem Weg zum Kaiser

Die Krönung in Olmütz – ein Kaiser von Gottes Gnaden

Ein Blick zurück – ohne Zorn

Der glücklose Feldherr

Der Mann zwischen zwei Frauen

Die unterschiedlichen Brüder

Sisis Werk: Der Ausgleich mit Ungarn

Auf Reisen wider Willen

Krieg oder Nicht-Krieg? Das war keine Frage!

Der verlorene Sohn Rudolf

Sisis eigentümliche Familie

Brüchiger Frieden

Habsburgs letzter Glanz – die Ringstraßenära

Die geliebten Töchter

Ein Thronfolger wird gesucht – und das Schicksal greift ein

Die Aussteiger aus dem Kaiserhaus

Treue Weggefährten

Ein willkommener Thronfolger

Auf dem Weg in die Katastrophe

Auswahlliteratur

Vorwort

Ein neues Buch über Franz Joseph I. zu verfassen, birgt eine gewisse Problematik in sich, da Werke über den letzten bedeutenden Kaiser der österreichisch-ungarischen Monarchie Bücherregale füllen. Die Fakten über sein Leben und sein politisches Wirken sind hinlänglich bekannt. Da es aber keinem Menschen möglich ist, für sich allein Geschichte zu schreiben, ist auch die Familie, in der er verwurzelt ist, von wesentlicher Bedeutung. Wer waren die Vorfahren, wer die Zeitgenossen, wer die angeheirateten Verwandten? Die habsburgische Familie war weit verzweigt, durch Heiraten nicht nur über halb Europa verbreitet, sondern bis ins ferne Südamerika, von Mexiko ganz zu schweigen, wo ein Habsburger durch die Winkelzüge Napoleons III. zum Kaiser ernannt wurde, den keiner wollte.

Für meine Arbeit war daher die Habsburger Familie, aus der Franz Joseph stammte, aber auch die Familie seiner Gemahlin Elisabeth von großem Interesse, da in beiden Familien bemerkenswerte Persönlichkeiten zu finden waren, die auch auf den Kaiser Einfluss ausübten.

Sie alle tauchen für den alten Kaiser bei seinem Gang durch die Kapuzinergruft allmählich aus der Erinnerung auf. Sein langes Leben, das er Revue passieren lässt, steht plötzlich vor ihm. Es ist, als müsste er vor seinem Richter Rechenschaft ablegen. Deshalb überdenkt er so manche schwerwiegende Entscheidung, die er allein zu treffen hatte, da er sich ein Leben lang auf sein Gottesgnadentum berief, weshalb er kaum Ratschläge anderer Personen berücksichtigte. Arbeit, Pflichtbewusstsein, Verankerung in einer jahrhundertealten Tradition, Nicht-Erkennen der Forderungen einer neuen Zeit prägten sein Leben und ließen seinen Alltag eintönig erscheinen. Musste er am Ende seiner Tage nicht am Sinn seiner Regierungstätigkeit zweifeln, weil er, obwohl er guten Willens war, den Weltkrieg nicht verhindern konnte? War es möglich, dass ein Mann mit seinen Vorstellungen sich eingestehen konnte, gescheitert zu sein?

Eine Antwort auf diese Fragen lässt sich schwer finden. Da aber Kaiser Franz Joseph auch sein privates Leben ganz in den Dienst des Staates stellte, muss man ihm wenigstens redliche Absichten bescheinigen. Er wollte das Beste und konnte das Schlechte nicht abwenden. War seine reglementierte Erziehung zum Kaiser schuld an seinem Versagen oder trug sein unausgefülltes Familienleben dazu bei, dass er starre Entschlüsse fasste, die der modernen Zeit nicht mehr Rechnung trugen? Oder waren die politischen Verhältnisse während seiner Epoche so undurchsichtig, dass er als gradliniger Mensch die Machenschaften seiner Herrscherkollegen nicht durchschaute?

Alte Menschen leben von der Erinnerung. Im September 1916 stand der Kaiser – gebeugt von der Last der Jahre – am Rande des Grabes. Der Platz für seinen Sarkophag in der Gruft der Ahnen war ihm ein Mahnzeichen, dass er selbst in absehbarer Zeit hier zwischen seiner geliebten Gattin Elisabeth und seinem Sohn Rudolf nach einem unendlich arbeitsreichen Leben liegen würde. Man kann annehmen, dass jeder Gang in die Kapuzinergruft für den alten Kaiser ein »Memento mori« bedeutete, aber in gewisser Weise auch tröstlich war.

Das vorliegende Buch ist keine herkömmliche Biografie zu Kaiser Franz Joseph I., es ist eine Fiktion. Dabei ist es durchaus möglich, dass den alten Kaiser die vielfältigen Gedanken und lebhaften Erinnerungen, die in dem vorliegenden Buch zu finden sind, bewegt haben.

Großgmain im Mai 2016

Sigrid-Maria Größing

Die letzte Entscheidung
des alten Kaisers

»A jeder Ruß – an Schuß, jeder Franzos – an Stoß, jeder Britt – an Tritt! Gott strafe England! Serbien muß sterbien!«

Der Jubel in Wien kannte keine Grenzen, als man von der Unterzeichnung des Ultimatums an Serbien am 28. Juli 1914 erfuhr. Endlich hatte er gehandelt, endlich hatte sich der alte Kaiser aufgerafft und wenn schon nicht selbst zum Schwert, so doch zur Feder gegriffen, um dem Treiben gegen die Habsburger und die Monarchie auf dem Balkan ein Ende zu bereiten. Viel zu lang hatte er zugeschaut und war nicht bereit gewesen, seinen Generälen, die zum Angriff drängten, nachzugeben, obwohl Franz Joseph von Jugend auf Militarist gewesen war und sich wahrscheinlich nicht nur als ersten Beamten der Monarchie sah, sondern vor allem als ersten Soldaten.

Nur einmal hatte er sich in seinem langen Leben auf dem Schlachtfeld bewähren können, als er in Italien an der Seite Radetzkys gegen die revoltierenden Oberitaliener ins Feld gezogen war. Aber seine Karriere als Krieger war nur kurz gewesen. Denn als unmittelbar neben dem Kaiser eine Granate einschlug, legte man Franz Joseph nahe, sich nicht weiter in Gefahr zu begeben, weil ein toter Kaiser wäre keinesfalls von Nutzen gewesen.

Auch im Krieg gegen Preußen im Jahre 1866 hatte er sich keine Sporen verdienen können, zu übermächtig war der deutsche Gegner, vor allem aber zu gut gerüstet. Der junge Kaiser musste bitter erkennen, dass er trotz der ständig abgehaltenen Manöver, wo alles wie am Schnürchen klappen musste, es verabsäumt hatte, Militärexperten zu kontaktieren, die ihn auf die Zündnadelgewehre aufmerksam gemacht hätten, durch die das preußische Heer dem österreichischen deutlich überlegen war. Die Situation nach Königgrätz war für die österreichischen Truppen, doch auch für den Kaiser und seine Familie sowie für die gesamte Monarchie mehr als prekär. Franz Joseph musste froh sein, dass die Preußen nicht in Wien einmarschierten. Für ihn wäre dies aller Wahrscheinlichkeit nach das Ende gewesen.

Aber ein Bismarck suchte keine Demütigung des Habsburgers, er hatte weiter reichende Pläne. Dazu benötigte er im Südosten eine gewisse Beruhigung, um sein Ziel zu erreichen, die Franzosen in die Schranken zu weisen und den deutschen König Wilhelm I. zum Kaiser zu krönen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, an dessen Spitze jahrhundertelang der Habsburger Kaiser gestanden hatte, war ohnehin längst zu Grabe getragen worden.

Durch das Ultimatum an Serbien, das der Ermordung des Thronfolgers folgte, kam eine neue brandgefährliche Situation in Europa zustande. Denn selbst Kaiser Franz Joseph hätte sich mit seinen 84 Jahren noch ausrechnen können, welche Bündnissysteme durch diesen Schritt ins Rollen kommen würden. Er hatte sich zwar von seinen militärischen Beratern eingehend, aber auch einseitig informieren lassen, inwieweit Serbien hinter dem Attentat von Sarajevo steckte. Und das, was er erfuhr, war dazu angetan, den indirekten Aggressor in die Schranken zu weisen. Dass Serbien, das mit Russland verbündet war, das Ultimatum rundweg ablehnen würde, darüber mussten sich die damaligen Politiker im Klaren gewesen sein. Das europäische Bündnissystem setzte sich wie eine Maschine in Gang, denn das Zarenreich war wiederum mit England und Frankreich verbündet gegen Österreich und Deutschland.

»An Meine Völker!« wandte sich Franz Joseph in seinem Ultimatum an Serbien, in dem er erklärte:

Es war Mein sehnlichster Wunsch, die Jahre, die Mir durch Gottes Gnade noch beschieden sind, Werken des Friedens zu weihen und Meine Völker vor den schweren Opfern und Lasten des Krieges zu bewahren. Im Rate der Vorsehung ward es anders beschlossen.

Die Umtriebe eines haßerfüllten Gegners zwingen Mich, zur Wahrung der Ehre Meiner Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung, zur Sicherung ihres Besitzstandes nach langen Jahren des Friedens zum Schwerte zu greifen.

Mit rasch vergessendem Undank hat das Königreich Serbien, das von den ersten Anfängen seiner staatlichen Selbständigkeit bis in die neueste Zeit von Meinen Vorfahren und Mir gestützt und gefördert worden war, schon vor Jahren den Weg offener Feindseligkeit gegen Österreich-Ungarn betreten.

Als Ich nach drei Jahrzehnten segensvoller Friedensarbeit in Bosnien und der Hercegovina Meine Herrscherrechte auf diese Länder erstreckte, hat diese Meine Verfügung im Königreiche Serbien, dessen Rechte in keiner Weise verletzt wurden, Ausbrüche zügelloser Leidenschaft und erbittertsten Hasses hervorgerufen. Meine Regierung hat damals von dem schönen Vorrechte des Stärkeren Gebrauch gemacht und in äußerster Nachsicht und Milde von Serbien nur die Herabsetzung seines Heeres auf den Friedenstand und das Versprechen verlangt, in Hinkunft die Bahn des Friedens und der Freundschaft zu gehen.

Von demselben Geiste der Mäßigung geleitet, hat sich Meine Regierung, als Serbien vor zwei Jahren im Kampfe mit dem türkischen Reiche begriffen war, auf die Wahrung der wichtigsten Lebensbedingungen der Monarchie beschränkt. Dieser Haltung hatte Serbien in erster Linie die Erreichung des Kriegszweckes zu verdanken.

Die Hoffnung, daß das serbische Königreich die Langmut und Friedensliebe Meiner Regierung würdigen und sein Wort einlösen werde, hat sich nicht erfüllt.

Immer höher lodert der Haß gegen Mich und Mein Haus empor, immer unverhüllter tritt das Streben zutage, untrennbare Gebiete Österreich-Ungarns gewaltsam loszureißen.

Ein verbrecherisches Treiben greift über die Grenze, um im Südosten der Monarchie die Grundlagen staatlicher Ordnung zu untergraben, das Volk, dem Ich in landesväterlicher Liebe Meine volle Fürsorge zuwende, in seiner Treue zum Herrscherhaus und zum Vaterlande wankend zu machen, die heranwachsende Jugend irrezuleiten und zu frevelhaften Taten des Wahnwitzes und des Hochverrates aufzureizen. Eine Reihe von Mordanschlägen, eine planmäßig vorbereitete und durchgeführte Verschwörung, deren furchtbares Gelingen Mich und Meine treuen Völker ins Herz getroffen hat, bildet die weithin sichtbare blutige Spur jener geheimen Machenschaften, die von Serbien aus ins Werk gesetzt und geleitet wurden.

Diesem unerträglichen Treiben muß Einhalt geboten, den unaufhörlichen Herausforderungen Serbiens ein Ende bereitet werden, soll die Ehre und Würde Meiner Monarchie unverletzt erhalten und ihre staatliche, wirtschaftliche und militärische Entwicklung vor beständigen Erschütterungen bewahrt bleiben.

Vergebens hat Meine Regierung noch einen letzten Versuch unternommen, dieses Ziel mit friedlichen Mitteln zu erreichen, Serbien durch eine ernste Mahnung zur Umkehr zu bewegen.

Serbien hat die maßvollen und gerechten Forderungen Meiner Regierung zurückgewiesen und es abgelehnt, jenen Pflichten nachzukommen, deren Erfüllung im Leben der Völker und Staaten die natürliche und notwendige Grundlage des Friedens bildet.

So muß Ich denn daran schreiten, mit Waffengewalt die unerläßlichen Bürgschaften zu schaffen, die Meinen Staaten die Ruhe im Innern und den dauernden Frieden nach außen sichern sollen.

In dieser ernsten Stunde bin ich Mir der ganzen Tragweite Meines Entschlusses und Meiner Verantwortung vor dem Allmächtigen voll bewußt.

Ich habe alles geprüft und erwogen.

Mit ruhigem Gewissen betrete Ich den Weg, den die Pflicht Mir weist.

Ich vertraue auf Meine Völker, die sich in allen Stürmen stets in Einigkeit und Treue um Meinen Thron geschart haben und für die Ehre, Größe und Macht des Vaterlandes zu schwersten Opfern immer bereit waren.

Ich vertraue auf Österreich-Ungarns tapfere und von hingebungsvoller Begeisterung erfüllte Wehrmacht.

Und Ich vertraue auf den Allmächtigen, daß Er Meinen Waffen den Sieg verleihen werde.

Franz Joseph m. p.

Stürgkh m. p.

Durch das von ihm, Kaiser Franz Joseph, unterzeichnete Ultimatum an Serbien war der Erste Weltkrieg in Gang gesetzt worden, der, was er nicht ahnen konnte, Millionen von Toten kosten würde.

War er daran schuld?

Niemand kennt wirklich die Gedanken, die dem alten Kaiser durch den Kopf gingen, wenn er wie üblich in der Kapuzinergruft weilte, um seine Toten zu besuchen. Es zog ihn mit Macht an diesen Ort, wo umgeben von Särgen die habsburgische Geschichte zum Leben erwachte und wo sich gleichzeitig das Ende einer langen Ära ankündigte. Wahrscheinlich fühlte Franz Joseph bei jedem neuerlichen Besuch in der Gruft seiner Ahnen, dass auch die letzten Körner der Sanduhr seines Lebens bald durchgelaufen sein würden. Vielleicht sehnte er den Tod herbei, wenn er an die Konsequenzen dachte, an die schlechten Nachrichten, die von den Kriegsschauplätzen kamen, an die Niederlagen, die die kaiserlichen Heere an den einzelnen Fronten hatten hinnehmen müssen. Allein, gebeugt vom Alter und der Last der Verantwortung suchte er diese Stätte auf, die ihm wie ein Ruhepol erschien. Hier, wo er nicht nur seiner ermordeten Gemahlin, seiner »Engels-Sisi« nahe war, sondern auch die Nähe der übrigen Familienmitglieder spürte, die ihm vorausgegangen waren, konnte er über sein langes Leben nachdenken.

In der Düsternis der nur schwach von flackernden Kerzen erleuchteten Gruft schien die Zeit keine Rolle mehr zu spielen. An diesem Ort, wo jahrhundertelang seine Vorfahren zur letzten Ruhe gebettet worden waren, gab es keine Zukunft. In ihrer körperlichen Vergänglichkeit ruhten die Ahnen in Särgen, die im Laufe der Zeit immer pompöser ausgestattet wurden, wobei Kaiser Franz Joseph, der in seinem Privatleben ein höchst anspruchsloser Mann war, immer wieder die Prunkbegräbnisstätte seiner Ururgroßmutter Maria Theresia betrachtete. In der Monumentalität des Sarkophages spiegelten sich Macht und Bedeutung der allumfassenden Mutter Europas wider. Sie war gleichsam eine Ikone des Reiches, der selbst ihr Erzfeind Friedrich II. von Preußen Hochachtung gezollt und sie als »Frau mit dem Herzen eines Königs« bezeichnet hatte.

Auch am 10. September 1916 hatte der alte Kaiser Order gegeben, ihn auf dem Weg zur Kapuzinergruft zu begleiten, in die es ihn an diesem Trauertag mit Macht zog. 18 Jahre waren ins Land gezogen, seit ihm die schreckliche Nachricht vom Tod seiner geliebten Frau überbracht worden war, und 18 Jahre trauerte er um sie. Aber bald, sehr bald, das fühlte er bei jedem Hustenanfall, der ihn schüttelte, würde er ihr in der Kapuzinergruft ganz nahe sein. Sein Sarg würde auf einem Podest neben ihrem und dem seines einzigen Sohnes Rudolf stehen.

Der alte Kaiser blickte sich langsam um. Es war fast die ganze Familie, die er hier fand. Nur seine beiden Töchter Gisela und Marie Valerie sowie deren Nachkommen waren noch am Leben. Und natürlich Katharina Schratt, die »Gnädige Frau« oder »Freundin«, die in späteren Zeiten einmal – wie es sich für Bürgerliche geziemte – auf einem Friedhof beigesetzt werden würde. Sie hatte zwar in sein Leben viel Licht gebracht, aber in der Gruft war kein Platz für sie.

Es war einsam um ihn geworden, das Alter hatte seinen Tribut gefordert. Aber immer noch stand er wie ein eherner Turm mitten in Europa, denn er hatte beinah alle seine Kontrahenten überlebt, den dubiosen Napoleon III., Reichskanzler Bismarck und drei deutsche Kaiser, zwei russische Zaren, die englische Königin und Kaiserin von Indien Victoria und Andrássy, auf den er ein Leben lang eifersüchtig gewesen war. Die Welt, in der er lebte, hatte sich grundlegend ver- und geändert, er aber – ein Relikt aus alten Zeiten – war für das österreichische Volk zu einem Monument geworden.

Der Kaiser suchte keine Gesellschaft. Dies hatte er ein Leben lang nicht getan, denn Arbeit prägte ihn von Jugend auf. So hatte ihn die »liebe Mama« erzogen, stets pflichtbewusst und korrekt zu handeln. Dazu benötigte er weder Gesellschaft noch irgendwelche Anregungen. Er war in allem ein sehr fügsames Kind gewesen, das die Anordnungen der Mutter bis ins kleinste Detail erfüllte, das sich weder sträubte noch sich gegen die mütterliche Dominanz auflehnte. »Der Franzi ist ein zu braves Kind …« Durch sein frühes Arbeitspensum, das ihm auferlegt worden war, war ihm keine unbeschwerte Kindheit vergönnt gewesen. Denn seine Mutter hatte schon früh zu erkennen gegeben, dass sie in ihm den zukünftigen Kaiser sah, da sein Onkel Ferdinand nicht lange in der Lage sein würde, die schwere Kaiserkrone zu tragen.

Ferdinand war ein durch und durch bemitleidenswerter Mann, der schwer an der Bürde trug, die er seinen Ahnen zu verdanken hatte. Von Kindheit an litt er an Epilepsie, sodass kein Tag verging, an dem er nicht von schweren Anfällen geplagt wurde. Seine Schwägerin Sophie bezeichnete den neuen Kaiser als eine bedauernswerte Persönlichkeit. Dies war noch gelinde ausgedrückt, denn die russische Zarin Charlotte wurde in ihrer Charakterisierung des Herrschers über die Donaumonarchie drastischer: »Großer Gott, ich hörte schon viel von ihm, von seiner kleinen, hässlichen, vermickerten Gestalt und seinem großen Kopf ohne Ausdruck als den der Dämlichkeit, aber die Wirklichkeit übersteigt doch alle Beschreibung.«

Die Hofberichterstattung, die vom alles beherrschenden Fürsten Metternich geprägt war und von den Problemen abzulenken versuchte, die ein regierungsunfähiger Kaiser mit sich brachte, sah allerdings ganz anders aus. Am Geburtstag von Kaiser Ferdinand 1843 konnten die erstaunten Untertanen lesen: »der Allerhöchste Geburtstag Sr. Majestät unsers allergnädigsten Kaisers wurde … auch in diesem Jahre auf eine Weise gefeiert, welche die allgemeinen Gefühle der Liebe und Dankbarkeit für den Allerhöchsten Herrscher und das durchlauchtigste Erzhaus beurkunden.«

Was hätte Metternich Besseres passieren können als ein aus gesundheitlichen Gründen regierungsunfähiger Kaiser? Jetzt hatte er die Spitze seiner Macht erreicht, denn der Vorgänger von Kaiser Ferdinand, sein Vater Franz, hatte sich zwar auch kaum in die Regierungsgeschäfte eingemischt, aber ab und zu doch seine Meinung kundgetan. Dies war bei Ferdinand dem Gütigen, den schon bald die Wiener als »Gütinand den Fertigen« verspotteten, nicht zu befürchten.

Außerdem sonnte sich der Fürst in der Bewunderung der jungen Erzherzogin Sophie, die in ihm nicht nur den schönen, sondern auch den geistreichen Mann bewunderte. Sie konnte Metternich mit seinen reaktionären Ideen begeistern. Und obwohl Sophie als junges Mädchen die eher liberalen Ansichten ihres Vaters, König Maximilian I. Joseph von Bayern, kennengelernt hatte, lauschte sie hingerissen den politischen Ausführungen des »beau Clement«. Sie war seine gelehrige Schülerin, von der er wusste, dass sie ihren ältesten Sohn Franz, auf dem alle Hoffnungen ruhten, genau in diesem Sinne erziehen würde. Denn alle Welt wusste, dass der junge Mann eine große Zukunft vor sich haben würde, da sein Vater Franz Karl an den Regierungsgeschäften in keiner Weise interessiert war.

Der alte Kaiser, dem das Gehen schon schwerfiel, versuchte in der dämmrigen Gruft den Sarkophag von Kaiser Ferdinand zu erkennen. Noch heute verspürte er Mitleid mit dem kranken Mann, dem er, Franz Joseph, viel zu verdanken hatte. Denn in seiner bescheidenen Art hatte Ferdinand ihm die Krone überlassen. Ohne großen Abschied von der Macht zog er sich auf den Hradschin in Prag zurück, zusammen mit seiner Gemahlin, die ihn liebevoll betreute, ohne jemals wirkliches Eheglück verspürt zu haben. Der Familie erschien die Tante Maria Anna wie ein Engel, der das Opfer aufgezwungen worden war, dem schwerkranken Mann die Hand fürs Leben zu reichen.

Aber Ferdinand hatte dem Neffen nicht nur die Kaiserkrone übergeben, sondern ihm noch ein Vermögen vermacht. So musste sich Franz Joseph nicht mit Geldsorgen herumschlagen. Ab und zu floss von irgendwoher doch etwas Geld in die habsburgischen Kassen.

Franz Ferdinand – ein düsteres Kapitel für den alten Kaiser! Er hatte ihn nie leiden können, gottlob fand er seine letzte Ruhestätte nicht hier in der Kapuzinergruft, sondern in Artstetten, wo er an der Seite seiner unstandesgemäßen Gemahlin ruht. Franz Joseph erinnerte sich genau an den Tag, an dem der Skandal öffentlich wurde, als Erzherzogin Therese in der Taschenuhr von Erzherzog Franz Ferdinand nicht das Bild ihrer Tochter, sondern das ihrer Hausdame Sophie Chotek erblickte. Der Kaiser konnte damals die Aufregung verstehen, die diese Entdeckung verursachte. Vor allem als Franz Ferdinand aller Welt verkündete, dass er lieber auf den Thron, für den er vorgesehen war, verzichten würde, aber nicht auf diese Frau. Franz Joseph kannte den Neffen und dessen Sturheit, er wusste, dass er dies wahrmachen würde, und ernannte die Gräfin wenigstens zur Fürstin. Zu ihren Gunsten verzichtete Franz Ferdinand auf Erbansprüche für seine zukünftigen Kinder und natürlich auf den Namen Habsburg für seine Gemahlin.

Franz Joseph dachte lange nach: Er war mit dem rebellischen Neffen nie so richtig warm geworden. Und als er von dessen Lungenkrankheit erfuhr, wäre es ihm recht gewesen, dessen Bruder Otto als Thronfolger zu bestellen, hätte nicht der Lebenswandel des Erzherzogs Anlass zu häufigen Klagen gegeben. Denn die Affären mit teils dubiosen Damen waren in ganz Wien bekannt, sodass er, Franz Joseph, nicht nur einmal den Neffen zu sich zitierte, um ihm die Leviten zu lesen. Als ihm zu Ohren gekommen war, dass Otto seine Saufkumpanen in das Schlafzimmer seiner eigenen Gemahlin führen wollte, um ihnen eine fromme Nonne zu zeigen, verlor er die Contenance und es rutschte ihm, dem Kaiser, die Hand aus.

Nun war Otto längst tot. Er war nicht alt geworden, denn sein lockeres Leben hatte ihn vorzeitig umgebracht. Sein Sarkophag steht neben dem seiner verächtlich gemachten Frau. Hoffentlich gab es um Mitternacht keinen Totentanz!

Eine Kindheit zwischen
Pflicht und Tradition

Mühselig wandte sich Franz Joseph den Sarkophagen seiner Gemahlin und seines Sohnes Rudolf zu. Ein Hustenanfall raubte ihm den Atem, der Tod streckte allmählich die Hand nach ihm aus.

Seine Gedanken glitten zurück in längst vergangene Zeiten, als er voller Energie danach trachtete, der »lieben Mama« ein folgsamer Sohn zu sein. Ein Lächeln glitt über sein faltiges Gesicht, als er daran dachte, wie sehr sich seine Mutter um sein Wohl bemüht hatte, ohne allerdings jemals ihr Ziel, ihn zum Kaiser zu machen, aus den Augen zu verlieren. So hatte sie zu seiner Aja, zur Kinderfrau, die ihn in den ersten Lebensjahren betreuen sollte, die Baronin Sturmfeder ausgewählt, eine Frau, die der Familie ganz und gar ergeben war und die Erziehungsprinzipien der Erzherzogin liebevoll in die Tat umsetzte. Später, als er allmählich die Kinderschuhe abstreifte, bestimmte der Graf Bombelles den Lebenswandel seines gefügigen Zöglings. Denn von klein auf zeichnete er sich durch Lerneifer und Pflichtbewusstsein aus. Mama hatte für ihn die besten Lehrer engagiert, die sich mit ihm in den Sprachen der Monarchie unterhielten oder es zumindest versuchten: in Ungarisch und Tschechisch, aber auch in Italienisch und vor allem in Französisch, der Sprache der Diplomaten und des Adels. Weshalb er eigentlich mit Latein und Altgriechisch gequält worden war, wusste er bis heute nicht, wobei er stundenlang die Aufzeichnungen Caesars studieren musste, etwas, was er lieber in Deutsch gelesen hätte. Andere Professoren weihten ihn in die geografischen Gegebenheiten des riesigen Reiches ein oder versuchten ihm die Gleichungen mit mehreren Unbekannten näherzubringen. Aber der Tag hatte für ihn auch nur 24 Stunden, wobei schon um sechs Uhr früh nach der heiligen Messe, die die Familie jeden Tag besuchte, sein vielstündiger Unterricht begann. Das umfangreiche Lernprogramm hatte ihm kaum Freiheiten gelassen, denn nach jedem Trimester musste er beinah »hochnotpeinliche« Prüfungen absolvieren, vor denen er sich wie ein ganz normaler Schüler fürchtete, obwohl es wohl kaum möglich gewesen wäre, dass er irgendeinen »Nachzipf« bekommen hätte.

Zwar war er ein interessierter Schüler gewesen, aber manchmal kam doch das Kind in ihm zum Vorschein. Nicht nur seinem Bruder Maximilian fielen ab und zu irgendwelche Dummheiten ein, auch er sorgte durch harmlose Streiche für Unruhe in der Familie oder bei seinen Professoren. Die Strafen folgten auf den Fuß, denn seine gestrengen Lehrer nahmen keine Rücksicht auf seine Stellung als Erzherzog und eventueller Kronprinz. Ungezogen war ungezogen, da kannte man kein Pardon.

Es war natürlich für ihn als Kind nicht leicht gewesen, die verschiedenen Sprachen zu erlernen, doch er sah ein, dass er vor allem Ungarisch sprechen musste, um diesem renitenten Volk wenigstens ein bisschen zu imponieren. Damals konnte er freilich nicht ahnen, dass sich seine geliebte Sisi einmal mit ihm nur in dieser Sprache unterhalten wollte.

Langsam schritt der alte Kaiser zum Sarkophag seiner Gemahlin. Mit zittriger Hand strich er über das kalte Metall, in dem seine Elisabeth schon seit 18 Jahren ruhte. Warum hatte sie ihn nie verstehen können? Weshalb hatte sie ihm sein Pflichtbewusstsein bei jeder kleinsten Meinungsverschiedenheit vorgeworfen, seinen Ordnungssinn, seine absolute Pünktlichkeit? Sie musste doch wissen, dass er all diese Eigenschaften schon von klein auf entwickelt hatte, dass dies Wesenszüge waren, die sich nicht verändern ließen, selbst wenn er es gewollt hätte. Er war nun einmal durch eine harte Schule gegangen, in der es keinen Individualismus gab, vor allem keine Widerrede. Er hatte zu akzeptieren, was die »liebe Mama« für richtig hielt. Dabei interessierte er sich weder für die Musik noch für die Dichtkunst, obwohl er später ein eifriger Theaterbesucher war. Aber das hatte weniger mit den Werken der Schriftsteller als vielmehr mit der Hauptdarstellerin am Burgtheater zu tun. Einzig und allein das Zeichnen hatte es ihm angetan und da wiederum die Darstellung von Landschaften. Natürlich sammelte die »liebe Mama« seine Werke, die zum Teil auch in den Ländern der Monarchie entstanden waren, etwas, was zum 40. Regierungsjubiläum eine kleine Sensation hervorrief, als die Zeichnungen des Kaisers, die er im Alter von 16 Jahren in Dalmatien angefertigt hatte, öffentlich zur Schau gestellt wurden. Auf diese Weise hatte er, so erinnerte sich der alte Kaiser, schon in jungen Jahren Freude bereiten können, denn er hatte 13-jährig dem Grafen Timotheus Ledóchowski eine Sammlung seiner Zeichnungen geschenkt.

Besonders gern aber karikierte er die Menschen in seiner Umgebung, vor allem die Brüder lachten begeistert, wenn er ihnen die von ihm angefertigten Konterfeis seiner Lehrer zeigte. Später allerdings, als das Leben noch ernster als in der Jugendzeit wurde, blieb ihm keine Zeit mehr für derlei Späße. Vielleicht hätte er seine Sisi mit Karikaturen erfreuen können, denn sie fand oft einen plausiblen Grund, über den oder jenen zu lästern, sodass sie sicherlich hocherfreut gewesen wäre, wenn auch er, ihr Gemahl, durch leicht boshafte Zeichnungen ihre Aussagen unterstützt hätte. Doch sie waren sich schon sehr bald sehr fremd geworden!

Der Kaiser seufzte tief: War es seine Schuld gewesen, dass sie sich jahrzehntelang nichts mehr zu sagen gehabt hatten? Was den einen interessierte, dafür fand er kein Echo beim anderen. Ihre Kühle ihm gegenüber hatte ihn immer wieder unendlich traurig gemacht, denn er hatte nie aufgehört, sie zu lieben. Sie hatte von ihm das verlangt, was er ihr nicht geben konnte: die Freiheit, die sie von Kindheit an gewöhnt war. Sie konnte sich nicht in seine Rolle hineinversetzen, sie kannte das Reglement seiner Kinder- und Jugendzeit nicht.

Es waren Jahre des Lernens, Übens und des absoluten Gehorsams gewesen, an die er sich zurückerinnerte. Keiner seiner Erzieher oder die Eltern waren auf die Idee gekommen, dass es für ein kleines Kind viel verlangt gewesen war, schon mit vier Jahren die schwierige Kurrentschrift zu erlernen. Jetzt, nach Jahrzehnten, konnte er sich die mühseligen Versuche, die einzelnen Buchstaben zu Papier zu bringen, nicht mehr vergegenwärtigen, aber eine Situation doch noch: wie stolz er war, als es ihm gelang, einige Sätze zu schreiben, was er der Großmama als Erster berichtete.

So gerne er zeichnete, so sehr lehnte er es ab, zu singen oder ein Instrument zu erlernen, was innerhalb der musikalischen habsburgischen Familie geradezu merkwürdig war. Nur ein einziges Mal hatte er sich in Reichenau an der Rax als Dirigent versucht. Er hatte spontan den Taktstock ergriffen und dirigiert. Ein Wunder war geschehen, denn die Musiker spielten richtig! Nach ihrer Fasson! Es fehlte ihm das notwendige Gehör, sodass er ein Leben lang keinen Zugang zur Musik entwickelte, wobei es einigermaßen erstaunlich war, dass er in jungen Jahren als guter Tänzer galt. Denn schon die Großmama veranstaltete für ihre »Enkel-Neffen« Kinderbälle, auf denen die Buben – wie sie sich äußerte – »wie der Lump am Stecken« tanzten. Im Fasching war es üblich, die Bälle kostümiert zu besuchen, wobei Max einmal den Vogel abschoss, indem er zum Gaudium aller als Mädchen erschien. Zu diesen Festen wurden aus den befreundeten Adelsfamilien kleine Mädchen eingeladen, die natürlich »standesgemäß« sein mussten. Auch später als Jüngling war Franz Joseph nicht nur aufgrund seiner familiären Position ein begehrter Tänzer, sondern auch, weil er sich zu einem attraktiven jungen Mann entwickelt hatte. Jedes Mädchenherz schlug heftiger, wenn sich der Erzherzog der Damenriege näherte, die das Tanzparkett umsäumte. In dieser Zeit – so erinnerte sich der alte Kaiser schmunzelnd – verspürte er die ersten Regungen als Mann. So diskret er sich auch verhielt, die »liebe Mama« bemerkte seine Verliebtheit, Gott sei Dank nicht seine jüngeren Brüder, denn da hätte er sich vor anzüglichen Bemerkungen nicht retten können!

Den ersten Platz innerhalb seiner Interessen allerdings nahm schon in der Kinder- und Jugendzeit das Militär ein. Er war, solange er denken konnte, ein begeisterter Soldat, wobei er bereits in jungen Jahren Kommandeur eines Truppenverbandes wurde. Nichts konnte ihn so begeistern wie die absolute Präzision, die beim Exerzieren der Truppen herrschte. Für ihn musste alles stimmen, von der korrekten Bekleidung der Soldaten bis hin zu den Griffen an den Gewehren. Die jährlichen Manöver bildeten den Höhepunkt seines Lebens.

Franz Joseph fühlte noch heute, am Rande des Grabes, dass er ein Leben lang Soldat mit Leib und Seele gewesen war, wobei er in den Kriegen während seiner langen Regierungszeit ausgesprochen glücklos agierte. Und hätten die Russen die kaiserliche Armee nicht gegen die rebellierenden Ungarn im Jahre 1848 unterstützt, wer weiß, ob die Magyaren sich nicht von der österreichischen Vorherrschaft befreit hätten, was das erklärte Ziel der Aufstände gewesen war. Zwar war es ein Vabanquespiel mit den Russen gewesen, das nicht er verantworten musste, aber die Folgen bekam er als Kaiser deutlich zu spüren. Denn die Russen erwarteten im Krimkrieg gegen England und Frankreich eine Dankbarkeitsgeste vonseiten Österreichs, wozu er sich aber nicht entschließen konnte.

Der alte Kaiser blickte auf seinen blauen Uniformrock. Er strich eine Falte im Ärmel glatt, so als wollte er sich die Vergangenheit vor Augen führen. Franz Joseph liebte die Uniform über alles, als junger Mensch galt er in der schmucken Kleidung als attraktiver Mann, der umschwärmt wurde. Auf den diversen Bällen hatte er die schönsten Mädchen im Arm, von denen jedes hoffte, er würde es als zukünftige Gemahlin erwählen. Denn kaum hatte er 1848 den Kaiserthron bestiegen, tauchten da und dort Gerüchte auf, wen er wohl zum Altar führen würde. Er selbst machte sich wenig Gedanken über dieses Thema, denn er war von den Novembertagen in Olmütz an beinah Tag und Nacht damit beschäftigt, sich in die politischen Angelegenheiten der Monarchie einzuarbeiten. Schon als kleines Kind war ihm von der »lieben Mama« bewusst gemacht worden, dass er eines Tages ein Herrscher von Gottes Gnaden sein würde, der abgehoben vom Volk dieses Volk zu lenken hätte. Auch die Wochen der Revolution änderten nichts in seinen Vorstellungen, jegliches liberales Denken war ihm völlig fremd, ja beinah verhasst. Er hatte das Rad der Geschichte zurückgedreht, so wie ihm dies von Jugend auf von der »lieben Mama« und deren Beratern eingetrichtert worden war.

Der Kaiser wischte sich mit der Hand über die Augen. Waren seine Ansichten, die er zeitlebens vertreten hatte, wirklich richtig gewesen? Oder hätte er sich an seinen Vorfahren orientieren sollen, an seinem Urgroßvater Kaiser Leopold II., der heute noch in der Toskana wie ein Heiliger verehrt wurde, weil er durch seine modernen Reformen der Bevölkerung viele Rechte eingeräumt hatte? Er und sein Bruder Joseph waren Menschen gewesen, deren Handlungen ihm, Franz Joseph, unverständlich geblieben waren, da beide ihr Gottesgnadentum nicht hervorkehrten, so wie es jahrhundertelang für die Kaiser üblich war.

Die berühmte Ahnenreihe

Erst jetzt – im hohen Alter – in so mancher stillen Stunde gingen ihm ab und zu Gedanken durch den Kopf, die er früher nicht für möglich gehalten hätte. Zwar waren ihm als Kind und noch als jungem Mann Geschichten über seine kaiserlichen Vorfahren berichtet worden, aber welche Ziele sie verfolgt und dass sie weitreichende Reformen durchgeführt hatten, das war an ihm im Allgemeinen vorübergegangen. Reformen? Infragestellung des Gottesgnadentums? Absurde Ideen! Von klein auf war ihm eingetrichtert worden, dass er, Franz, der sich aus Verehrung seines Uronkels mit zweitem Namen Joseph nannte, der von Gott auserwählte Herrscher sein würde. Und so hatte er ein Leben lang gehandelt! Er hatte wohl den Namen Josephs II. angenommen, nicht aber dessen politische Vorstellungen von einem Volkskaiser. Der Urgroßonkel war zwar gescheitert, weil die Zeit für seine Pläne und Ideen noch nicht reif war, doch er hatte immerhin einen Großbrand wie die Französische Revolution in der Monarchie verhindern können. In seinen Augen, in denen des Spätgeborenen, hatte er allerdings einen gravierenden Fehler gemacht: Er hatte die Macht der Kirche infrage gestellt, für ihn, den streng gläubigen Franz Joseph, ein nicht verzeihbarer Frevel, den sein Urgroßvater Leopold, der nach dem frühen Tod seines Bruders Joseph dessen Erbe als Kaiser angetreten hatte, nicht beging.