Eins

Ein starkes Zittern breitet sich über die gesamte Länge des Flugzeugs aus, vergleichbar mit einem Frösteln, das einem eiskalt den Rücken hinunterläuft. Ein metallisches Ächzen folgt. Allen Passagieren schießt die Frage durch den Kopf, ob irgendetwas nicht stimmt, während ihre Augen hektisch den Innenraum des Fliegers abscannen. Einige starren aus dem Fenster und entdecken dort nichts als Nacht. Langsam wird die Luft von einem Seufzen erfüllt. Ein nervöses kleines Kichern schließt sich an.

Der Pilot meldet sich über die Lautsprecher. Er entschuldigt sich in routiniertem Ton für den Zwischenfall. Die üblichen Turbulenzen. Er versichert, dass das Schlimmste gleich überstanden ist. Dann wird seine Stimme wieder vom Summen der Triebwerke ersetzt.

Ein weiteres Aufseufzen. Jemand macht eine sarkastische Bemerkung und die Spannung entlädt sich in einem kollektiven Lachen.

Dann wird das Flugzeug jäh durchgeschüttelt, sackt ab und etwas donnert wie ein Kanonenschuss.

Potter schielte auf seine Uhr und hätte beinahe ein breites Grinsen aufgesetzt. Stattdessen seufzte er und beschloss, das Beste zu hoffen. Noch gut 20 Minuten bis zum Beginn der Show, also blieb ihm genügend Zeit. Wenn nicht gerade eine mittlere Katastrophe geschah, würde er die Frequency Brothers genau rechtzeitig auf die Bühne schicken. Das hieß, dass sie die Bühne auch genau rechtzeitig wieder verließen und er seinen Hintern pünktlich ins Flugzeug schwingen konnte. Wenn alles glattlief, würden sie sogar etwas früher am Airport sein. Der Gedanke brachte ihn beinahe zum Lachen. Eine überaus angenehme Vorstellung.

Während er durch die Betonflure der Frank-Erwin-Mehrzweckhalle schlenderte, entdeckte er ein Münztelefon und lief darauf zu. Der Anruf stand auf seiner Liste, aber ziemlich weit unten, deshalb war der finstere Ausdruck noch nicht ganz aus seinem Gesicht verschwunden. Mit jedem Schritt redete er sich ein, dass er sich so bald wie möglich darum kümmern würde. Dass das Abhaken der anderen Punkte damit einherging, den Anruf früher erledigen zu können. Das war leicht dahingesagt, aber nicht ganz so leicht zu glauben, wenn man das Telefon direkt vor der Nase hatte.

Also nahm er sich seine wichtigste Checkliste vor, die er immer abrufbereit im Kopf gespeichert hatte. Vor seinem inneren Auge erschien die zerknüllte Seite eines linierten Notizblocks, der ausgeblichen und ziemlich schäbig wirkte. Oben stand in dicken Blockbuchstaben TO-DO-LISTE. Darunter tauchten die einzelnen Punkte auf:

1. Endkontrolle bei Technikteam

2. Aufruf: 20 Minuten bis zum Auftritt

3. Treffen mit Reporterin vom Rolling Stone

4. Ginnys Verstärker

5. Aufruf: zehn Minuten

6. Persönlicher Anruf bei Marie

7. Aufruf: fünf Minuten

8. Beginn der Show

Kein schlechter Ablauf. Er hatte im Laufe der Jahre schon weitaus Schlimmeres erlebt. Aber die Frequency Brothers hatten sich in der Regel gut im Griff. Sogar Conner befand sich die meiste Zeit in auftrittsfähigem Zustand. Er wurde nur nach den Shows und an freien Tagen zum echten Problem.

Potter zog im Weiterlaufen das Walkie-Talkie vom Gürtel ab und drückte auf die Sprechtaste: »Technik, hier ist Potter. Bitte melden. Over.«

Er ließ die Taste los, und eine verrauschte Stimme antwortete ihm: »Ja, Paul am Mischpult. Over.«

»Alles klar mit Licht und Sound? Over.«

»Bestens. Over.«

»Aufbau? Bitte melden. Over.«

»Die letzten Instrumentenkoffer sind ausgeladen, alles bereit. Hintergrundmusik läuft bereits. Over.«

»Ausgezeichnet. Meldet euch, wenn’s Probleme gibt. Over and out.«

Mit geübter Bewegung klemmte er das Funkgerät am Gürtel fest. Hastig ging er noch einmal seine Liste durch:

1. Endkontrolle bei Technikteam

2. Aufruf: 20 Minuten bis zum Auftritt

3. Treffen mit Reporterin vom Rolling Stone

4. Ginnys Verstärker

5. Aufruf: zehn Minuten

6. Persönlicher Anruf bei Marie

7. Aufruf: fünf Minuten

8. Beginn der Show

Ein guter Anfang. Jetzt musste er nur noch seine Künstler zusammentrommeln.

Allmählich ersterben die Schreie und werden von nervösem Gemurmel abgelöst. Das Flugzeug wird heftig durchgeschüttelt, die Luft in der Kabine scheint zu vibrieren. Hände ergreifen Hände und Augen suchen die Fenster nach Anzeichen ab, dass sich die Lage bessern wird.

Stattdessen sehen sie Feuer. Eines der Triebwerke brennt, ein Ball aus orangefarbenen und blauen Flammen droht die Tragfläche zu verschlingen.

Das Geschrei setzt von Neuem ein.

»Weißt du, wir gehörten nie so wirklich zu den coolen Jungs. Vielleicht haben wir uns das selbst eingeredet, aber … na ja, die Hoffnung stirbt zuletzt.«

Curtis musste über seine eigene Aussage lachen und rollte den Würfel, den er in der Hand hielt. Rot, mit 20 Seiten, in jede davon eine weiße Zahl eingeprägt. Er kullerte über den Tisch und blieb mit der Nummer Vier oben liegen. Curtis zuckte zusammen. Als er kurz darauf lächelte, nahm er eine Hand vor den Mund, um seine schiefen Zähne zu verstecken.

»Mein Waldläufer schlägt sich nicht besonders gut.«

»Du hättest einen beidhändigen Kämpfer und keinen Bogentypen aus ihm machen sollen«, empfahl ihm Greg. Der Gitarrist feixte, während er einen Schluck aus einer Flasche in einem tragbaren Getränkekühler nahm. Das ließ ihn etwas cooler wirken, fand er. Zumindest ein bisschen.

»Vielleicht wollte ich nicht einfach deinen Charakter nachäffen, so wie sonst immer.«

»Das hat gesessen, Mann. Autsch.«

»Solche Interviews sollten wir wirklich öfter geben«, meinte Curtis. Er drehte sich zu Shannon um, der Reporterin vom Rolling Stone. Mit den Ellenbogen auf den Knien spendierte er ihr ein Grinsen, das etwas verklemmter rüberkam, als es ihm lieb war. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in Jeans und schwarzer Bluse da. Ihre Schuhe faszinierten ihn, denn sie verfügten über die mörderischsten Absätze, die er je gesehen hatte. Er liebte solche Schuhe an Frauen, je höher desto besser. Sie teilten sich den Spitzenplatz mit roten Haaren, Tattoos und Push-up-BHs. Sein Gesicht schien zu glühen. Wäre er doch nur anstelle von Greg der Gitarrist! Schlagzeuger konnten bei den Ladys einfach nicht landen. Andererseits spielte Greg lediglich Bassgitarre, also stand es um dessen Chancen auch nicht zum Besten.

»Ach wirklich?«, steuerte Shannon bei. Ihr Lächeln wirkte freundlich und vermittelte sogar ein wenig den Eindruck, als würde sie sich gut amüsieren.

»Ja. Wobei es am meisten Spaß bringt, wenn man mindestens zu viert spielt und noch einen Spielleiter hat. Zu zweit ist es auf Dauer ganz schön öde.«

»Fick dich«, warf Greg ein, »mir macht’s jedenfalls Spaß.«

Curtis schüttelte den Kopf und beneidete den Bandkollegen um sein Selbstvertrauen.

»Ihr beide habt also zusammen Dungeons & Dragons gespielt, bevor ihr mit der Musik angefangen habt?«

Greg trank sein Bier aus und steckte sich eine Marlboro an, lehnte den Kopf zurück gegen die Couch und starrte die Decke an. »Könnte man so sagen. Ich meine, wir mochten schon immer Musik und hatten den Traum, irgendwann berühmte Rockstars zu werden. Okay, wem geht’s nicht so. Kennengelernt haben wir uns allerdings beim Kartenspielen mit meinen Cousins und den übrigen Spinnern von der Gang.«

»Wir haben uns für die Rollenspiele aber nie verkleidet«, meldete sich Curtis. Sein Gesicht lief erneut rot an. »Tut mir leid. Ein Teil von mir wollte das gerne klarstellen, ein anderer Teil ist eher genervt, dass ich es klarstellen wollte. Falls das irgendwie einen Sinn ergibt.«

»Klar«, antwortete Shannon. »Wir haben alle unsere Hobbys. Gibt’s noch andere Leidenschaften, von denen ich wissen sollte?«

»Wir fliegen kurz nach dem Konzert schon nach Hause, also wirst du leider nicht mehr erleben können, wie ich Mädchen mit Brille anbaggere. Und was hast du für welche?«, fragte Greg. Sein Grinsen deutete an, dass man sich mit ihm gut amüsieren konnte.

»Darüber können wir uns vielleicht später noch unterhalten. Welche Etappen gab’s denn auf dem Weg vom Kartentisch bis zu dieser Bühne in Austin? Wie wird aus zwei Waldläufern eine Rockband?«

»Hey«, wandte Curtis ein, »ich habe meistens einen Dieb gespielt.«

Greg kicherte hinter seiner Rauchwolke. »Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt, Mann.«

»Okay, also schön. Ich würde sagen, am Anfang stand ein angeknackstes Selbstbewusstsein. Und zwar nicht zu knapp.«

»Wie vermutlich bei den meisten pubertierenden D&D-Fans.«

»Also haben meine Eltern mir ein Schlagzeug gekauft. In dem Jahr gab es keine anderen Geschenke zu Weihnachten oder zum Geburtstag. Nur das Schlagzeug.«

»Und dann legte er los.«

»Yep. Hat ein Jahr oder so gedauert, bis ich’s halbwegs draufhatte. Dann habe ich Greg dazu überredet, sich eine Gitarre zu wünschen.«

»Hab aber ’nen Bass bekommen, weil ich am unteren Ende besser aufgehoben bin. Fanden jedenfalls meine Eltern.«

»Und bald haben wir von morgens bis abends Coverversionen von Hüsker Dü und Fugazi in der Garage geprobt.«

»Ich glaube, einmal haben wir The Waiting Room fast fünf Stunden am Stück gespielt.«

An der Tür war ein Klopfen zu hören, dann schwang sie auf, bevor jemand darauf reagierte. Potter sagte seinen Spruch auf.

»Noch 20 Minuten, Jungs.«

»Okay«, meinte Curtis. »Räumen wir auf.«

»Lassen wir’s liegen«, entgegnete Greg. »Dann können wir später weitermachen, wo wir aufgehört haben.«

»Denk ans Flugzeug, Mann.«

»Stimmt. Okay, scheiß drauf. Dann lass uns zusammenpacken und noch ein bisschen einspielen.«

Sie starren entsetzt hin und verrenken sich die Hälse, um das tosende Feuer besser sehen zu können, das eines der Triebwerke einhüllt. Die Beleuchtung in der Kabine flackert und erlischt. Ein Kreischen schält sich aus der Dunkelheit, darunter mischt sich ein gluckerndes Schluchzen. Aus einer Entfernung, die nicht real sein kann und nur durch die Panik erklärbar ist, ruft eine Stimme: »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, als ob es ein heidnischer Lobgesang wäre.

Die Flammen breiten sich aus, flackern und verschwinden abrupt, als hätte man sie per Knopfdruck ausgeschaltet. Alle verstummen, das kollektive Luftanhalten einer einzigen, tief verängstigten Kehle. Keiner weiß so recht, worauf sie hoffen und welche Fragen sie besser nicht stellen. Ihnen wird klar, dass das Triebwerk den Geist aufgibt. Das Einzige, was sie jetzt noch hören, ist das Klappern des Flugzeugrumpfes, das Pfeifen von Wind um den ausgefallenen Motor herum und das unbeholfene Heulen des verbliebenen Motors. Es erinnert auf unangenehme Weise an ein Schwein, das in nackter Todesangst um sein Leben rennt.

»Kommst du?«, meldete sich Dani von der Tür aus. Sie umklammerte den Rahmen etwas fester, als sie es eigentlich wollte, und strich mit der anderen Hand ihre langen blonden Haare hinter das Ohr zurück. Alle hielten sie deshalb für bescheuert, aber sie empfand das Einspielen immer noch als spannendes Ritual. Wie sie zu fünft im Kreis standen und Jen ihre Gitarre hart anschlug, damit sie gegen den Gesang ankam. In der Regel einigten sie sich auf zwei kurze Songs oder einen längeren, je nach Tagesform. Potter hatte angefangen, Regeln durchzusetzen, nachdem sie in Dayton vor dem Auftritt über eine Viertelstunde dumm rumgesessen hatten.

»Rede mit deinem Göttergatten, Chica.«

»Ich hab’s gleich.«

Dani beobachtete, wie Kevin eine hohe E-Saite auf Jens Telecaster spannte und mit dem Stimmen anfing. Er hielt sich den Gitarrenhals ans Ohr und war schon nach wenigen Momenten zufrieden. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihr Mann war zwar kein Bandmitglied, aber sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, einen Auftritt ohne ihn durchzustehen.

»Bitteschön, Kleine!«, sagte er und drückte Jen die Tele in die Hand. Sie klatschte anerkennend, bevor sie das Instrument entgegennahm.

»Juhu! Mein Held! Auf geht’s!« Sie warf sich den Gitarrengurt über die Schulter, sprang von der Couch und joggte in Richtung Bühne. Mit ihrem blonden Kurzhaarschnitt und dem grünen Pullover hätte sie glatt als Grunge-Version von Peter Pan durchgehen können.

Dani lachte so dreckig, wie sie konnte, und schlurfte ebenfalls den Gang entlang. Als sie ihre Schwester einholte, warf sie ihr einen kurzen Blick zu.

»Wie findest du meinen Mann?«

»Langweilig.«

»Du lügst!«

»Tu ich nicht. Ich sage die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit.«

»Mich langweilt er jedenfalls nicht.«

»Du bist ’ne Schnarchnase.«

»Nee. Ich hab Sex mit ihm!«

»Halt die Klappe.«

»Ständig!«

»Sei still!«

»Er hat einen Penis!«

Die Schwestern wieherten vor Lachen, als sie in Richtung Green Room liefen.

Für einen Augenblick, der sich viel zu lange anfühlt, warten sie schweigend. Tief in ihrem Inneren hoffen sie, dass gleich die beruhigende Stimme des Piloten aus der Bordsprechanlage kommt. Dass er ihnen versichert, alles sei in bester Ordnung. Dass es kein Problem darstellt, mit nur einem Triebwerk weiterzufliegen. Dass ihnen zwar genau genommen eine Notlandung bevorsteht, aber auf der Landebahn eines regulären Flughafens. Nur noch ein paar nervenaufreibende Minuten und es ist überstanden. Sie werden sich in Sicherheit befinden und Freunden und Familie später etwas zu erzählen haben.

Aber die Stimme des Piloten lässt sie im Stich. Es gibt keine beruhigenden Worte oder Versprechen. Alles, was sie zu hören bekommen, sind die ratternden Geräusche des Fliegers, des schneidenden Windes und eines einzelnen Motors, der etwas überlastet klingt.

In der Dunkelheit stolpert eine groß gewachsene Gestalt in Richtung Cockpit, kämpft sich mühsam Sitzreihe für Sitzreihe nach vorn durch, als müsste sie für jeden Schritt die ganze Welt niederringen. Die anderen erkennen, dass es ihr Tourmanager ist, und finden, dass er ein echter Teufelskerl ist. Er wird gleich zurückkommen und ihnen sagen, dass kein Grund zur Sorge besteht.

Dann sackt die Maschine ohne Vorwarnung nach unten, und ihr Held knallt auf den Kabinenboden.

»Hallo? Entschuldigung?«

Der Junge tat, als hätte er nichts gehört. Oder als wäre er zu wichtig, um sich angesprochen zu fühlen. Potter kannte solche Tricks. Dieser Knabe würde ihn nicht zum Narren halten, ganz egal, ob er dafür andere dringliche Probleme vernachlässigte.

»Entschuldigung. Sir? Würden Sie bitte einen Moment warten?«

Der Kerl blieb stehen und Potter lächelte innerlich. Mit den Worten »bitte« und »Sir« erreichte man viel, wenn man sie geschickt einsetzte. Als der Jugendliche sich umdrehte, schätzte er ihn auf ungefähr 17. Natürlich machte er einen nervösen Eindruck. Das war bei Leuten üblich, die sich ohne Backstage-Pass hinter die Bühne schlichen. Als er zu dem unbefugten Eindringling aufschloss, fragte er sich, ob dieser Bursche mit Greg Gitarre spielen, Dani einen Heiratsantrag machen oder Jen anbetteln wollte, mit ihm rumzumachen. Solange er nicht gekommen war, um Conner Heroinnachschub zu bringen, gab es keinen Grund, die Sache an die große Glocke zu hängen.

»Ja. Hi«, sagte der Junge.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Was? Nein, alles gut. Danke, Mann.«

»Ganz sicher?« Er pumpte seinen Brustkorb auf und schob das Kinn vor. Sein wuchtiger Oberkörper und der Bart erledigten den Rest.

»Hä?« Nervös. Gut so.

»Ob Sie ganz sicher sind, dass Sie keine Hilfe brauchen.«

»Ja, ich bin mir sicher.«

»Wunderbar. Dürfte ich dann bitte Ihren Ausweis sehen?«

»Meinen …?«

»Ihren Ausweis«, wiederholte Potter geduldig. Er nahm seine Tourplakette von der Brust und hielt sie ihm hin, wedelte damit vor der Nase des Teenagers herum. Das Band schnappte an seinen dicken Hals zurück. »Den Backstagepass.«

Eine Sekunde lang starrte ihn der Knabe verständnislos an, als stünde ein Matheprofessor mit einer schwierigen Prüfungsfrage vor ihm. Potter liebte diesen Gesichtsausdruck. Verwirrung und Angst stellten wirklich tolle Sachen mit den Fans an. Als der Junge sich umdrehte und versuchte, wegzurennen, seufzte er leise, streckte den Arm aus und grub seine fleischige Pranke in den Nacken des Flüchtenden. Ein kurzes Aufjaulen war zu hören, dann hatte er den Kerl an seine Seite gezogen und schleifte ihn hinter sich her.

»Ich bin beeindruckt, Jungchen. Dein Auftritt lässt zwar zu wünschen übrig, aber immerhin bist du so weit gekommen. Das schafft nicht jeder.«

»Äh …?«

»Sag nichts. Wir gehen jetzt einfach weiter, bis wir einen Ausgang oder einen von den netten Security-Leuten finden. Ist nur eine Frage der Zeit, bis wir auf eines von beidem stoßen. Guter Plan, oder?«

»Werden … werden Sie mich rausschmeißen?«

»Aus dem Konzert? Nein. Aus dem Backstagebereich? Darauf kannst du deinen Arsch verwetten. Wen wolltest du denn treffen?«

»Ähm … Curtis.«

»Ach herrje.«

Die Stimme des Piloten kommt schließlich doch, aber sie klingt nicht so beruhigend, wie alle gehofft haben. Was sie aus den Lautsprechern hören, deutet auf massiven Stress hin und bewegt sich dicht an der Grenze zur Panik.

»Legen Sie bitte alle Ihre Sitzgurte an. Sofort!«

Das ist ein Befehl, der ihnen durch und durch geht und sie mitten ins Herz trifft. Hände tasten hektisch nach Gurten. Diejenigen, die aufgestanden waren, legen verrückte, unbeholfene Sprints zu den nächsten Sitzen hin. Im Dunkeln scheint sich Potters stöhnender Umriss in Zeitlupe zu bewegen. Er stemmt sich zunächst auf die Knie und rappelt sich dann auf wackeligen Beinen auf. Der Tourmanager findet einen freien Platz und lässt sich hineinplumpsen, schafft es gerade noch, den Gurt zu schließen, bevor ihn erneut die Kräfte verlassen.

Das verbliebene Triebwerk beginnt zu stottern.

Conner bewunderte, wie die Töne, die sein Instrument hervorbrachte, durch die Luft segelten. Er entlockte sie den Saiten und schickte sie mit Fingern, die dünn wie Spinnenbeine waren, in die Welt hinaus. Sie stiegen steil empor, kitzelten ihn am Kinn, glitten dann seine Wangen entlang und über die Ohren hinweg, bevor sie sich durch das Rattennest aus schwarzen Haaren kämpften, das seinen Kopf bedeckte, um zur Decke hinaufzuklettern.

Er hätte vor der Show nichts nehmen sollen. Ein kleiner Teil von ihm wusste das, aber dem Rest war es scheißegal. Der Rest genoss es, wie er eine winzige Menge Pulver schniefte und sich noch einen kleinen Nachschlag gönnte. Dann einen weiteren, um die Sache ins Rollen zu bringen. Anschließend hockte er sich in den Schneidersitz und fing an zu spielen, die bemerkenswert leichte SG, in der Hand, mit Saiten, die wie Seide unter den schwieligen Kuppen seiner Finger entlangstrichen. In einer kurzen Pause rieb er mit den Händen über die braune Cordhose, die er trug. Das Gefühl des rauen Stoffs, der an seinen Handflächen schabte, versetzte ihn in Hochstimmung.

»Ey, Conner. Du hast noch zehn … ach Scheiße.«

Er sah auf, vermutete, dass er ein zugedröhntes Grinsen im Gesicht hatte, und begegnete Potters missbilligendem Blick. Hinter seinem Bart funkelte der mächtige Tourmanager ihn zornig an. Als er tief einatmete, bildete sich Conner ein, seinen Brustkorb knarren zu hören.

»Wird das heute wieder einer dieser Abende?«

»Was für ein Abend, Potter?«

»Ich habe keine Zeit für blöde Spielchen. Kannst du auftreten?«

»Was? Red keinen Mist, klar!«

»Beweis es mir.«

Ohne darüber nachzudenken, riss er das Solo von Annabelle runter, gefolgt vom Intro zu Static Blast. Er spielte beides perfekt und Potter nickte, als ob er ihm signalisieren wollte, dass er es akzeptierte, obwohl es ihm ganz und gar nicht gefiel.

»Und wie viel Zeit hast du noch?«

»Zehn Minuten. Naja, inzwischen wahrscheinlich nur noch neun.«

»Solltest du dann nicht längst beim Einspielen sein?«

»Verdammt, ja.«

»Hoch mit dir. Zeig’s ihnen, Conner.«

»Klar, Chef. Kein Ding.« Er stand auf und machte sich auf den Weg.

Die Zeit verschwindet. Für jene, die im Dunkeln warten – sie beten und halten sich an den Händen – sind die Sekunden längst zu Stunden geworden. Ihre Muskeln schmerzen unter der Anspannung, die sie in eine schreckhafte Starre versetzt. Wie lange soll das noch so weitergehen?

Einige schauen aus den Sichtluken. Diesmal konzentrieren sie sich nicht auf die verkohlte Hülle des Triebwerks, sondern suchen stattdessen den Boden nach Anzeichen ab, dass sie bald landen. Wenn schon nicht die Lichter einer Landebahn, so hoffen sie wenigstens auf eine Stadt oder ein kleines Dorf. Aber da ist nichts als Finsternis.

Das Flugzeug steigt und fällt, schwankt durch die Luft wie ein Betrunkener. Jedes Absacken zieht ein Keuchen oder einen entsetzten Aufschrei nach sich.

Mit jedem Moment, der verstreicht, klingt das verbliebene Triebwerk noch ein bisschen schwächer. Die Stillephasen zwischen dem gequälten Wimmern werden länger und länger.

Als er den verlassenen Münzfernsprecher erreichte, ging Potter im Geist seine To-Do-Liste noch einmal durch und warf einen kurzen Blick auf die Uhr.

1. Endkontrolle bei Technikteam

2. Aufruf: 20 Minuten bis zum Auftritt

3. Treffen mit Reporterin vom Rolling Stone

4. Ginnys Verstärker

5. Aufruf: zehn Minuten

6. Persönlicher Anruf bei Marie

7. Aufruf: fünf Minuten

8. Beginn der Show

Es waren noch acht Minuten bis zum Auftritt und er wünschte sich, dass ihm mehr Zeit blieb. Oder fast noch besser: gar keine mehr. Der Gedanke an den Anruf riss ein schwarzes Loch in seinen Magen. Es war kein Anruf, den er gerne tat, aber er musste ihn erledigen. Es wurde von ihm erwartet. Mit einem Seufzen, das mehr wie ein Knurren klang, griff er nach der Brieftasche und kramte mit tauben Fingern die Telefonkarte für Ferngespräche heraus.

Er hämmerte auf die Zahlentasten und wartete, dass sich die Verbindung aufbaute. Als das Freizeichen aus dem Hörer dröhnte, fragte er sich, was er tat, wenn sie nicht abnahm. Die Frage erübrigte sich, als ein »Hallo?« an seinem Ohr erklang.

»Marie, hi. Hier ist Jake.«

»Jake. Ich dachte mir gerade, dass es langsam Zeit wird.«

»Tut mir leid. Ich habe hier höllisch viel zu tun.«

»Der reinste Zirkus, was?«

»Das kannst du laut sagen.« Die Genervtheit in ihrer Stimme war rau wie eine Drahtbürste und er wünschte sich, an Ort und Stelle im Boden zu versinken und zu verschwinden. Obwohl er sein Bestes getan hatte, schien es ihm nicht genug zu sein. Er wünschte, er wäre von Anfang an dabei gewesen. Vielleicht verstand seine Schwester das, vielleicht aber auch nicht. So oder so fühlte er sich deswegen ziemlich beschissen. »Wie geht es ihm?«

»Der Doktor ist gerade weg. Er war mit seiner Visite etwas spät dran. Dad hängt noch am Beatmungsgerät. Es sieht nicht besonders gut aus. Sein Zustand ist zwar stabil, aber es gibt keine Anzeichen für eine Besserung.«

»Und was heißt das?«

»Der Chefarzt sagt, es bedeutet, dass uns noch 48 Stunden bleiben. Dann werden wir ein paar unangenehme Entscheidungen treffen müssen.«

Potter lehnte sich dichter an die Wand, als ein Teil seiner Kraft sich verflüchtigte. Er schaute noch einmal auf die Uhr und hasste sich dafür, dass er nur noch rund eine Minute mit ihr sprechen konnte.

»Du meinst, ob man den Stecker zieht?«

»Ja, Jake. Ob man den Stecker zieht, wie du das so treffend nennst. Wirst du rechtzeitig hier sein?«

Wenigstens diese Frage konnte er guten Gewissens beantworten. »Ja. Wir haben in fünf Minuten einen Auftritt in Austin. Direkt danach fahren wir zum Flughafen, um einen Charterflug nach New York zu erwischen. Die Band dreht dort ein paar Tage lang ihr neues Video und kann sich hinterher ein wenig ausruhen. Ich schnappe mir einen Mietwagen und bin spätestens morgen Vormittag bei dir.«

»Meinst du das ernst?«

»Ja, Marie. Mit etwas Glück bin ich da, wenn er aufwacht.«

»Jake …«

»Ich weiß. Hör zu, ich muss mich jetzt um die Show kümmern. Ich melde mich von New York aus und wir sehen uns dann am Morgen. Pass auf dich auf.«

»Du auch.«

Er legte den Hörer auf die Gabel und fand, dass er dabei ein Geräusch verursachte wie ein Hammer, der auf einen Nagel trifft. Für einen kurzen Augenblick lehnte er seine Stirn an die kühle Betonmauer und ordnete seine Gedanken. Dann sammelte er sich und kümmerte sich um den Fünf-Minuten-Aufruf.

Der Lärm ist nahezu allgegenwärtig, ein heftiges Dröhnen, das sich in ihre Schädel bohrt und ihre Wirbelsäulen zittern lässt. Unter dem Lärm nehmen die meisten eine schrille Stimme wahr: »Bitte! Nein!« Doch niemand weiß, zu wem sie gehört. Es könnte jeder von ihnen sein. Das Entsetzen hat sie ihrer Identität beraubt und in ein verängstigtes Kollektiv verwandelt. Zähne knirschen, Hände werden gedrückt. Jemand stöhnt.

Das Flugzeug kippt zur Seite und kämpft sich in die Waagrechte zurück. Der Motor hustet und stottert. Diejenigen, die dem Heulen lauschen, fragen sich, wie lange er noch durchhält. Sie befürchten, dass es nicht mehr lange dauert.

»Ist doch okay, wenn ich mich an den seitlichen Rand der Bühne stelle, oder?«

»Klar«, erwiderte Potter. Er fragte sich, warum die Reporterin eine solche Frage stellte. Hatte wirklich schon einmal jemand die Leute vom Rolling Stone aufgefordert, sich ein Ticket zu kaufen wie jeder andere auch? Er überlegte, was für ein Arschloch zu so etwas in der Lage war, und dann fiel ihm ein, dass er ziemlich viele Arschlöcher von dieser Sorte kannte. »Ich stehe meistens rechts. Da finden wir ganz bestimmt auch einen Platz für Sie.«

»Danke.«

Dani stand ganz in der Nähe und hatte die Finger hinter dem Rücken verschlungen. »Hey, Potter?«

»Ja?«

»Sind wir rechtzeitig in New York, um in Gray’s Papaya zu gehen?«

»Klar, die haben rund um die Uhr geöffnet.«

»Scheiße, stimmt ja. Dann müssen wir unser Set heute Abend wohl nicht kürzen!«

»Beruhigend, was?«

Potter sprach in sein Walkie-Talkie und erhielt die Rückmeldung, dass alles bereit war. Auf seine Anweisung wurden die Lichter im Saal abgeschaltet. Kollektiver Jubel brandete auf, als die ersten Töne des aufgezeichneten Intros über das Soundsystem der Halle abgespielt wurden. Lächelnd drehte er sich zu den Frequency Brothers um.

»Meine Damen und Herren, auf sie mit Gebrüll!«

Potter beobachtete die Mitglieder der Band, als sie den Schutz der Katakomben verließen und den Backstage-Bereich betraten. Sie mussten noch ein ganzes Stück laufen, bis sie die Bühne erreichten, und er nahm sie immer gerne gründlich unter die Lupe, bevor sie die erste Note anstimmten. Dani und Jen hüpften Arm in Arm vorweg. Kevin hielt sich dicht hinter ihnen und hatte die Hände in den Taschen versenkt. Seine Augen zuckten zwischen seiner Frau und ihrer Schwester hin und her, dann kicherte er über ihre Darbietung. Hinter ihnen dehnte und streckte sich Curtis und hielt ein Schwätzchen mit Greg, aus dessen Mundwinkel eine Rauchwolke aufstieg. Conner bildete die Nachhut, die Hände hinter dem Rücken. Er starrte auf seine Schuhe und schlurfte langsam vorwärts. Die über seine Schulter gehängte SG schien er fast vergessen zu haben. Er hielt die Augen halb geschlossen und Potter fragte sich, ob der Gitarrist tatsächlich in der Verfassung war, sein legendäres Solo hinzulegen. Er musste zusehen, dass er den kleinen Trottel zurück in die Spur brachte.

Das Intro schwoll in einem Crescendo an, während die Band über die Stufen zur Bühne hinaufspurtete und Potter die Treppe mit einer Taschenlampe anleuchtete, damit keiner von ihnen stolperte oder hinfiel. Oben hielten zwei Mitglieder der Crew Jens Gitarre und Gregs Bass bereit. Er war davon ausgegangen, dass Jen heute Abend die Tele spielte, aber anscheinend hatte sie ihre Meinung kurzfristig geändert. Stattdessen stieß sie ein fröhliches »Danke, Kumpel!« aus, als sie eine in Zeitungspapier gewickelte Stratocaster vom Roadie entgegennahm. Sie glotzte ihre Schwester mit einer übertriebenen Rockstargrimasse an, als sie sich die Gitarre umschnallte. Dani konterte mit einem Paar Teufelshörnern.

Potter wusste, dass das Intro noch exakt 20 Sekunden dauerte. Das rhythmische Quietschen von Rückkopplungen vermischte sich mit dem hypnotischen Sound afrikanischer Trommeln. Conner hüpfte nervös auf den Fußballen herum und schien sich gefangen zu haben. Curtis und Greg umarmten sich kurz.

»Wer ist die beste Band der Welt?«, rief Curtis.

»Zeppelin«, antworteten die anderen.

»Und die zweitbeste?«

»Die Beatles!«

»Und was sind wir?«

»Platz sechs!«

»Und das braucht uns verdammt noch mal nicht peinlich zu sein!«

Jubel brandete auf und die Bandmitglieder sprangen unter dem ohrenbetäubenden Beifall der Menge auf die Bühne.

Das letzte Triebwerk der Maschine gibt ein hart schepperndes Geräusch von sich. Etwas, das an das Lungen zerfetzende Husten eines alten Mannes erinnert, rasselt durch die Kabine – laut genug, um die Schreie zu übertönen – dann erstirbt der Motor. Die restlichen Schreie ersterben im selben Moment, zerbröseln zu leisem Wimmern und stillen Gebeten. Alles wird ruhig. Das Pfeifen von Tragflächen, die durch die wütenden Böen schneiden, wird zum vorherrschenden Klang. Überall in der Chartermaschine kneifen sich Augen zusammen und drücken sich Hände fest genug, um Knöchel kreideweiß hervortreten zu lassen.

Dann ertönt das neue Geräusch: ein scharfes Knistern, als die Baumspitzen am Boden des Flugzeugs kratzen. Erst ist es nur eine. Dann kommen weitere hinzu. Bald verstärkt es sich zu einem rauen Chor aus splitterndem Holz und dann kehren die Schreie zurück. Etwas erbebt, ein metallisches Ächzen, das durch die gesamte Länge des Flugzeugs läuft.

Dann brüllt etwas noch lauter als die Menschenmenge in einem riesigen Stadion und die Welt erhebt sich, um sie zu rammen.