Marie Louise Fischer
Roman
Alle atmeten auf, als Dr. Carolus Meyer endlich aufstand und erklärte: »Meine Damen und Herren, Sie müssen mich jetzt leider entschuldigen, Sie werden verstehen. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Spaß und natürlich ein frohes Fest!«
»Frohe Weihnachten, Herr Doktor!«, schallte es in den verschiedensten Variationen zurück.
Kaum dass der Big Boss mit den beiden Sekretärinnen den Raum verlassen hatte, sprangen die anderen auf und hatten es eilig, in ihre eigenen Abteilungen zu kommen.
Währenddessen kletterte Imogen auf den Rücksitz der Krögerschen Limousine und rutschte einen Platz weiter, so dass Kersten nachrücken konnte. Braake, der ihnen mit unbedecktem Kopf die Tür zur Seite des Bürgersteigs hin geöffnet hatte, schloss sie nach ihnen, setzte seine Mütze auf und nahm hinter dem Steuer Platz.
»So ein Sauwetter!«, schimpfte Imogen und schüttelte sich die Regentropfen aus dem langen Haar.
»Schlimmer als die Polizei erlaubt!«, stimmte Kersten ihr zu. »Deshalb brauchst du mich aber doch nicht anzuspritzen!«
»Entschuldige bitte!«
Braake hatte nach einem Blick in den Rückspiegel gewartet, bis sich eine Gelegenheit ergab, in den Straßenverkehr einzuscheren. Der schwere Wagen setzte sich ohne den leisesten Ruck und mit sanftem Brummen des Motors in Bewegung. »Soll ich das Radio anstellen?«, fragte Braake beflissen.
»Bitte ja!«, rief Kersten.
»Lieber eine Kassette!«, bat Imogen.
»Michael Jackson?«, fragte Kersten hoffnungsvoll.
»Haben wir leider nicht«, erklärte Braake, »der Herr Professor liebt klassische Musik – Mozart, Brahms, Beethoven.«
»O je!«, stieß Kersten aus. »Dann also doch Radio!«
»Du bist eine Banausin!«, sagte Imogen herablassend. »Man kann doch ruhig auch mal was Klassisches hören.«
Braake hatte, ohne den Verkehr außer Acht zu lassen, in den Kassetten gewühlt. »Wie wäre es mit Glen Miller?«, schlug er vor.
Damit erklärten sich die beiden Mädchen nach kurzem Palaver einverstanden. Braake steckte die Kassette in den Recorder und gleich darauf erfüllte der Swing des großen Orchesters den Innenraum des Autos, untermalt von dem rhythmischen Geräusch des Scheibenwischers und dem scharfen Regen, der auf das Dach trommelte.
Die Freundinnen kuschelten sich gemütlich zusammen. »Du, ich freue mich wie wahnsinnig auf Weihnachten«, gestand Kersten.
»Ich nicht«, sagte Imogen trocken.
Kersten riss die runden Augen auf. »Nicht? Wieso nicht?«
»Wir sind am Heiligen Abend bei Tante Lydia. Da geht es immer ganz schrecklich steif zu.« Sie sprach das Adjektiv ironisch mit spitzem »st« aus.
»Hauptsache sind doch die Geschenke! Soll ich dir mal was sagen? Ich habe mir nichts gewünscht, gar nichts – nichts außer Geld!«
»Claudia sagt, das ist ordinär.«
»Ordinär? Die hat ja einen Vo …« Kersten brach mitten im Wort ab. »Entschuldige, Immy, ich wollte deine Mutter nicht beleidigen, aber ich verstehe nicht, warum man sich kein Geld wünschen soll, wenn man es braucht.«
»Jetzt fällt es mir wieder genau ein. Sie hat nicht gesagt, dass es ordinär ist, sich Geld zu wünschen, sondern Geld zu verschenken.« Imogen rieb sich mit dem Zeigefinger über den Rücken der geraden kleinen Nase. »Aber das kommt ja wohl aufs Gleiche raus.«
»Was soll das eigentlich heißen – ordinär?«
Imogen dachte nach. »Gewöhnlich, glaube ich. Wir können zu Hause im Lexikon nachschlagen.«
»Gewöhnlich bedeutet doch gar nichts. Man sagt zum Beispiel: ›Gewöhnlich essen wir mittags um eins.‹ Das ist doch auch nichts Schlimmes.«
»Das ist, glaube ich, ein anderes ›gewöhnlich‹. Aber so genau kann ich es dir auch nicht sagen. Warten wir ab, bis wir zu Hause sind.«
»Jedenfalls werde ich nach Weihnachten reich sein. Weißt du, was ich auf meinen Wunschzettel geschrieben habe? ›Geld – Ausrufezeichen! Viel Geld – Ausrufezeichen! Noch mehr Geld – Ausrufezeichen!‹«
»Und was hat deine Mutter dazu gesagt?«
»Gar nichts. Sie hat so getan, als wüsste sie von nichts. Wir legen unsere Wunschzettel immer noch auf die Fensterbank, damit die Engel sie abholen können.«
»Glaubst du das etwa noch?«
»Natürlich nicht. Aber man muss den Erwachsenen auch ihren Spaß lassen. Bis vor zwei Jahren hat mein Vater immer noch den Weihnachtsmann gespielt.«
»Da hätte ich lachen müssen.«
»Ich doch auch. Da ist er ziemlich böse geworden. Nachher hat meine Mutter gesagt, ich hätte den Weihnachtsmann geärgert und zur Strafe käme er nun nicht mehr wieder.«
»Die Großen«, stellte Imogen fest, »können schon ziemlich komisch sein.«
Kersten seufzte tief. »Wem sagst du das.«
»Claudia würde dir Geld schenken, wenn es eben nicht ordinär wäre.«
»Jetzt hör bloß auf mit dem blöden Wort.«
»Sie sagt, deine Mutter würde deswegen beleidigt sein.«
»So ein Quatsch!«, rief Kersten impulsiv. Dann, nach einigem Nachdenken, gab sie zu: »Es wäre schon möglich. Sie hat manchmal komische Ansichten.«
»Also sei bloß nicht enttäuscht, wenn es anders kommt, als du denkst!«
»Aber sie müssen mir doch einfach Geld schenken, wenn ich mir nichts anderes wünsche! Wozu wäre ein Wunschzettel sonst überhaupt gut?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen.«
»Was hast du dir denn gewünscht?«
»Nichts. Ich schreibe nie einen Wunschzettel, weißt du. Ich lasse mich einfach überraschen.«
»Wie kannst du da sicher sein, dass du das Richtige kriegst?«
»Überhaupt nicht. Geschenke sind ja fast nie das Richtige. Meist wird man enttäuscht und dann darf man es nicht zeigen und muss so tun als ob. Das ist auch ein Grund, warum ich mich nicht auf Weihnachten freue.«
Die beiden Mädchen schwiegen eine Weile. Imogen warf einen Blick auf Braake. Im Rückspiegel sah sie sein Gesicht. Heute sah er besonders ernst aus und schien ganz auf seine Aufgabe konzentriert. Sie kannte das an ihm. Er hatte die Gabe, so zu tun, als wäre er nicht vorhanden. Frau Beer konnte das übrigens auch.
»Trotzdem«, sagte Kersten, »ich biete dir jede Wette an …«
»Um was?«
»Dass ich mein Geld doch kriege.«
»Darauf solltest du dich nicht verlassen.«
»Ich tu’ es aber.«
»Wetten werde ich mit dir jedenfalls nicht.«
»Alter Feigling!«
»Bin ich nicht! Onkel Knut sagt, es ist unmoralisch zu wetten, wenn man weiß, dass man gewinnen wird.«
»So ein Quatsch! Wer wettet schon, wenn er denkt, er wird verlieren?«
»Du tust nur so, als ob du mich nicht verstehst.«
»Und du tust, als wärst du siebengescheit. Du kannst nicht wissen, ob ich das Geld kriege oder nicht.«
»Ich kann es mir an allen zehn Fingern ausrechnen.«
»Nein, kannst du nicht.«
»Jetzt pass mal auf, ich sage dir was: Falls du dein Geld kriegst, zahle ich dir fünf Mark dazu.«
»Und wenn nicht?«
»Hast du eben Pech gehabt.«
»Was muss ich dir dann zahlen?«
»Nichts. Gib zu, das ist ein großzügiges Angebot.«
»Es gefällt mir nicht. Bei einer richtigen Wette müssen beide Parteien ein Risiko eingehen.«
»Deshalb will ich ja nicht mit dir wetten. Weißt du was? Wenn du verlierst, kannst du mir im Frühjahr helfen, mein Rad zu putzen.«
»Soll das ein Nervenkitzel sein? Das tue ich doch gern.«
Imogen lachte. »Ach, Kersten, du bist schon eine Nummer!« Sie stieß die Cousine mit dem Ellbogen in die Rippen. »Gib doch zu, dass wetten und spielen auch Spaß macht, wenn man nichts einsetzt.«
»Nicht halb so viel.«
»Na ja, man strengt sich mehr an, wenn es um mehr geht als um die Ehre.«
Kersten lachte. »Lass solche Sprüche bloß nicht bei den feinen Krögers los! Denen ist doch die Ehre wichtiger als alles andere.«
Imogen runzelte die Stirn. »Glaubst du?«
»Jedenfalls muss nach außen hin alles foin …« Kersten sprach das Wort wieder mit oi aus »… und anständig sein. Mein Vater sagt, in diesen alten Familien hatte man sich früher zu erschießen, wenn die Firma pleite ging.«
»Und heute?«, fragte Imogen interessiert, die von dergleichen noch nie gehört hatte.
»Versucht man sich mit einem Bankrott gesundzustoßen«, erklärte Kersten wichtig.
»Wie das?«
»Indem man die Gläubiger hereinlegt. Wie das genau geht, weiß ich auch nicht.«
»Aber das wäre doch eine Gemeinheit!«
»Findest du Selbstmord besser?«
»Nein. Überhaupt nicht gut.«
»Na also.«
»Aber es müsste doch eine Möglichkeit geben, sich mit Anstand aus der Affäre zu ziehen.«
»Um dann mit Anstand zu verhungern?«
»Ach was. Hier bei uns verhungert doch niemand.«
»Da hast du recht. Ich habe schon versucht, meine Schulbrote zu verkaufen.«
Imogen rückte von der Cousine ab, um sie besser ansehen zu können. »Was hast du?«
»Mutter gibt uns immer besonders gute Brote mit. Alle wollen was davon abhaben. Aber bezahlen will niemand.«
»Kersten! Man kann doch nicht seine Brote verkaufen.«
»Ich habe es jedenfalls versucht.«
»Sei mir nicht böse, Kersten, aber du musst ein ganz klein wenig verrückt sein.«
»Mutter versteht das auch nicht. Ich habe ihr soundso oft gesagt, dass ich lieber Geld als Brote will. Ich kann gut bis mittags hungern. Aber sie behauptet, das ist ungesund. Ich könnte dann vor lauter Hunger nicht dem Unterricht folgen.«
»Vielleicht hat sie recht.«
»Überhaupt nicht. Ich bin ja dick genug, das musst du zugeben. Vielleicht täte mir ein bisschen Hunger sogar ganz gut.« Kersten seufzte tief. »Wenn sie mir fünfzig Pfennig pro Brot gäbe … statt Brot, meine ich natürlich … dann hätte ich zwanzig Mark im Monat extra.«
»Und würdest dir dafür in der Pause Süßigkeiten kaufen.«
»Nein, würde ich nicht! Ich würde jeden Pfennig beim Sechsundsechzig und beim Mau-Mau einsetzen.«
»Um alles zu verlieren.«
»Wie kannst du das behaupten? Du bist doch wirklich die eingebildetste Trine, die ich kenne.«
»Es ist doch Tatsache, dass meistens ich gewinne.«
»Weil du mehr Geld hast als ich.«
»Das musst du mir schon erklären.«
»Mein Vater sagt, dass immer nur die Reichen gewinnen. Wenn jemand mit einem dicken Portemonnaie zur Spielbank geht und immer weiter setzen kann, also wenn jemand nur aus Spaß spielt, dann gewinnt er immer. Aber wenn jemand darauf angewiesen ist zu gewinnen, dann verliert er prompt.«
Imogen drehte sich eine Strähne ihres langen Haares um den Zeigefinger und dachte angestrengt nach. »Ja, das wäre möglich. Ich habe mich schon oft gefragt, warum ich mehr Glück im Spiel habe als du.«
»Es ist so, wie mein Vater sagt. Er weiß Bescheid.«
»Dann solltest du eigentlich überhaupt nicht mehr spielen. Jedenfalls nicht um Geld.«
»Das tue ich ja auch schon seit Monaten nicht mehr.«
»Ja, aber nur, weil ich es nicht mehr will.«
»Ja, ja, ich weiß«, sagte Kersten voller Überdruss, »weil du mich nicht ruinieren willst. Aber wenn ich jetzt das große Geld kriege …«
Imogen fiel ihr ins Wort. »Du kriegst es nicht.«
»Wir werden ja sehen!«
»Ja, das werden wir. Sag mal, können wir uns nicht über was anderes unterhalten?«
»Warum?«
»Einfach nur so.«
»Von mir aus.«
Dann trat eine lange Pause ein, während die Musikkassette sich drehte und der Regen, als sie die Elbe erreichten, mit verstärkter Macht auf die Limousine trommelte.
»Na los, erzähl was!«, drängte Imogen.
»Mir fällt nichts ein.«
»Schwach.«
Es war Kersten anzumerken, wie sehr sie sich anstrengen musste, das Thema zu wechseln. »Siehst du deinen Vater Weihnachten?«, fragte sie endlich.
»Nun. Und das ist auch noch ein Grund, warum ich mich nicht auf das Fest freue.«
»Ist er nett?«
»Sehr.«
»Warum haben sich deine Eltern dann scheiden lassen? Ich finde, Claudia ist doch auch nett.«
»Ich weiß es nicht, Kersten, ich weiß es wirklich nicht.« Imogen unterdrückte einen Seufzer. Dann sagte sie: »Weißt du was? Lass uns doch lieber wieder über Geld sprechen. Das macht mehr Spaß.«
»Wenn es auch ordinär ist – was immer das heißen mag«, fügte Kersten hinzu.
Und dann begannen sie beide zu kichern.
»Jetzt brauchen Sie einen Schnaps, schöne Frau«, sagte Georg Hacker, kaum dass sie den Konferenzsaal verlassen hatten.
Claudia strebte der Textredaktion zu. »Ich muss zu meinen Leuten.«
»Müssen Sie nicht. Jedenfalls nicht, bevor Sie sich erholt haben.«
»Seh’ ich so mitgenommen aus?«
»Ja, das tun Sie.«
Sie wollte ihre Handtasche öffnen, um einen Blick in den Spiegel zu tun.
Er verhinderte es, indem er ihre Hand festhielt. »Sie dürfen mir schon glauben, Frau Wolff-Kröger.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil ich ja in weiser Voraussicht der Dinge eine Flasche Klaren mitgebracht habe.«
»Warum Sie mich immer Frau Wolff-Kröger nennen. Niemand tut das außer Ihnen.«
»Aber so heißen Sie doch.«
»Ich weiß, wie ich heiße.«
»Kommen Sie erst einmal mit. Wir können uns in aller Ruhe darüber unterhalten.« Er schob seine Hand unter ihren Ellenbogen und dirigierte sie zu den Räumen der Einkaufsabteilung. Claudia ließ es geschehen, weil sie sich tatsächlich etwas zerschlagen fühlte. Die Heuchelei, als die sie die Weihnachtsfeier empfunden hatte, setzte ihr zu.
Die Einkäufer, die sich an den Getränken verlustierten, die ihnen von der Firmenleitung spendiert wurden, waren schon in bester Stimmung. Sie standen in einer Gruppe zwischen den Tischen mit den Computern, Druckern, Rechenmaschinen, Fernschreibern und Telefonen beisammen und lachten auf eine Art, die den Eintretenden deutlich verriet, dass Zoten zum Besten gegeben wurden. Als sie Georg Hacker und Claudia erkannten, verstummten die Männer kurz. Dann brachen sie in ein Hallo aus, hielten ihnen die Gläser entgegen und riefen: »Prost!« – »Frohes Fest!« und: »Auf das Wohl des Hauses!«
»Schon gut, schon gut!«, wiegelte Georg Hacker ab. »Ich stoße gleich zu euch!« Er öffnete die Tür zu seinem Büro, das durch Trennwände von dem großen Raum abgeteilt war, und ließ Claudia vor sich eintreten.
Die Wände waren so dünn, dass sie das Stimmengewirr und das Gelächter kaum dämpften. Aber immerhin hatte es ein Fenster und außer dem Schreibtisch eine Sitzecke mit abgeschabten Ledersesseln. Der ebenfalls alte aber zweifellos echte Perserteppich musste wohl aus Hackers persönlichem Besitz stammen. Sie setzte sich, während er eine Flasche aus dem Weihnachtspapier wickelte.
»Oder wäre Ihnen ein Cognac lieber?«, fragte er.
»Ein Klarer kommt jetzt gerade recht.« Sie kramte ihr Zigarettenpäckchen und das Goldfeuerzeug aus ihrer Handtasche.
Nebenan war Gelächter und Gebrüll zu hören.
»Die saufen reichlich hastig«, bemerkte sie.
Er grinste sie an, während er mit der Flasche und dem Korkenzieher hantierte. »Ist ihnen nicht zu verdenken. Wann gibt es bei Cosmos schon was gratis? Außerdem haben sie es eilig, nach Hause zu kommen.«
»Also trinken sie, solange der Vorrat reicht.«
»So ist es.« Mit einem leichten Plopp zog er den Kork aus der Flasche, bückte sich hinter seinen Schreibtisch und brachte zwei Gläser zum Vorschein. Er stellte sie auf den niedrigen dreibeinigen Tisch mit der runden Platte und schenkte ein. Die Flasche trug kein Etikett.
»Was ist das?«, fragte Claudia, hob ihr Glas an die Nase und schnupperte.
»Ein selbstgebrannter Korn. Ein Onkel vom Lande pflegt ihn mir zu besonderen Gelegenheiten zu schenken.« Er ließ sich in den Sessel neben ihr sinken.
Sie hoben ihre Gläser und tranken. Zu ihrer eigenen Überraschung leerte sie das Glas in einem Zug.
»Noch einen?«, fragte er.
»Warum nicht?«
Er füllte die Gläser.
»Auf den Onkel vom Lande!«, sagte sie, bevor sie trank – diesmal allerdings nur einen Schluck. Sie klopfte sich eine Zigarette aus ihrem Päckchen. Noch bevor sie zu ihrem Feuerzeug greifen konnte, hatte er ein Streichholz angerissen.
»Danke«, sagte sie und inhalierte mit Genuss.
Er zog aus der Innentasche seines tadellos sitzenden grauen Jacketts ein flaches Lederetui, nahm eine Zigarre heraus, schnippte die Spitze ab und schnupperte daran.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Zigarren rauchen«, sagte sie überrascht.
»Nur bei besonderen Gelegenheiten«, erklärte er, steckte sich die Zigarre zwischen die vollen Lippen und zündete sie mit einem zweiten Streichholz sehr sorgfältig rundherum an.
Sie beobachtete ihn durch den Rauch ihrer Zigarette. Seine großen Hände waren manikürt, er war gut rasiert und der bläuliche Schimmer des nachwachsenden Haares rund um das Kinn verstärkte noch den Eindruck von Männlichkeit, den er ausstrahlte. Das aus der Stirn zurückweichende schwarze Haar verlieh ihm einen Anschein von Intelligenz – bei diesem Gedanken unterbrach sich Claudia. ›Sei nicht boshaft!‹, ermahnte sie sich. ›Er ist intelligent, und das weißt du. Sonst könnte er sich nicht seit Jahren in leitender Position bei uns halten.‹ Der Duft des Herrenparfums wirkte eigentlich gar nicht aufdringlich und wahrscheinlich benutzte er es nur, um den Geruch seiner Zigarre zu kaschieren. Was war es denn, was sie so an ihm störte? Seine so offen zur Schau gestellte Selbstgefälligkeit.
Jetzt brannte seine Zigarre endlich. Er paffte ein paarmal, während er sie mit Daumen und Zeigefinger hielt. Dann ließ er die Hand zum Kinn sinken. »Na«, sagte er, »Musterung vollzogen?«
Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie sich durchschaut fühlte, sondern tat, als verstünde sie seine Bemerkung nicht. »Sie wollten mir erklären, warum Sie mich so penetrant mit meinem Doppelnamen anreden.«
Seine dunklen Augen funkelten amüsiert. »Ich konnte nicht ahnen, dass Sie das als penetrant empfinden.«
»Sie sind der Einzige, der mich bei Cosmos so anspricht.«
»Wahrscheinlich bin ich der Einzige hier, der auf Korrektheit Wert legt.« Wieder führte er die Zigarre zum Mund. »Sagen Sie mir mal, meine liebe Frau Wolff-Kröger, warum haben Sie sich eigentlich einen Doppelnamen zugelegt, wenn Sie ihn dann nicht gerne hören wollen?«
»Weil man in Deutschland seinen Mädchennamen nicht behalten kann.«
»Auf den legen Sie so viel Wert?«
»Ja. Ich will ich selbst bleiben.«
»Ich weiß nicht, aus welcher Ecke Sie kommen – guter Mittelstand, würde ich sagen, aber die Krögers sind mit Sicherheit eine hochangesehene Familie.«
»Es ist nicht so wichtig, woher man kommt, sondern was man aus sich macht.«
»Interessant«, sagte er und betrachtete den wachsenden Aschenkegel seiner Zigarre.
»Langsam gewinne ich den Eindruck, Sie haben mich nur zum Schnaps eingeladen, um mich zu ärgern.«
»Ganz im Gegenteil, meine liebe …« Er unterbrach sich. »Nein, das wollen Sie ja nicht hören. Darf ich Sie dann Claudia nennen?«
»Von mir aus.« Sie leerte ihr Glas.
Ohne zu fragen, schenkte er nach. »Das klingt zwar nicht gerade liebenswürdig, aber ich werde von Ihrer Erlaubnis Gebrauch machen – Claudia!« Er trank ihr zu.
Sie tat es ihm nach. »Georg!«, sagte sie, weil sie nicht daran dachte, sich von ihm in eine Position der Unterlegenheit drängen zu lassen.
Er nahm es mit Gleichmut auf. »Das wäre denn also erledigt, Claudia. Und um eine weitere Frage zu beantworten: Ich habe Sie zum Schnaps aufgefordert, um einige Missverständnisse zu klären.«
Sie sah ihn aus großen Augen an.
»Sie sehen in mir einen Feind«, fuhr er fort, »widersprechen Sie mir jetzt bitte nicht – jedenfalls behandeln Sie mich so.«
»Das ist mir nie bewusst geworden«, behauptete sie, obwohl sie ihm innerlich recht geben musste.
»Aber das bin ich nicht«, fuhr er fort. »Sie sollten sich endlich klarmachen, dass ich nicht das geringste Interesse daran haben kann, Ihnen an den Karren zu fahren. Zugegeben, Sie ärgern mich manchmal durch Ihre unqualifizierte Kritik …«
»Unqualifiziert?«, rief sie empört und drückte ihre Zigarette in einem Keramikaschenbecher mit Reklameaufdruck aus.
»Ja, unqualifiziert, ich kann das nur wiederholen, denn Sie haben ja keine Ahnung von der Höhe unseres Etats und damit unseren Möglichkeiten.«
Das musste sie zugeben; sie schwieg betroffen.
»Es passt Ihnen nicht, dass wir auch das eine oder andere Mal billiges Zeug einkaufen …«
Sie hatte sich wieder gefasst. »Ramsch«, warf sie ein.
»Einverstanden«, sagte er überraschend, »nennen wir es Ramsch. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass in einem populären Versandhaus wie Cosmos eine gewisse Vielfalt der Artikel geboten sein muss.«
»Da haben Sie recht, Georg«, sagte sie und kam sich wie ein abgekanzeltes Schulmädchen vor.
Er grinste. »Fein, Claudia, in diesem Punkt sind wir uns also einig. Sie können nicht erwarten, dass wir Waren einer Qualität vermarkten, wie sie im Haushalt Professor Krögers üblich ist.«
»Lassen Sie meinen Haushalt aus dem Spiel!«
»Der ist doch wohl nicht so ganz der Ihre, sondern der des Professors.«
»Das geht Sie nichts an.«
Er betrachtete liebevoll den lang gewordenen Aschenkegel, bevor er ihn sehr behutsam abstreifte. »Aber Sie geben zu, dass Sie keine Hausfrau sind.«
»Ich könnte es sein, wenn ich es müsste.«
»Stimmt. Es gibt nichts, was Sie nicht könnten, wenn Sie nur wollten.«
Claudia holte Atem. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Gut, dass Sie mich daran erinnern. Fast hätte ich es vergessen. Man plaudert so nett mit Ihnen.«
Sie griff nach einer Zigarette, und diesmal war sie schneller mit ihrem Feuerzeug als er mit seinen Streichhölzern. »Woher wissen Sie überhaupt so viel über mich?«
»Das liegt doch wohl auf der Hand: weil Sie mich interessieren. Haben Sie das noch nicht bemerkt? Sie interessieren mich, ich bewundere Sie und ich mag Sie. Ich bin nicht Ihr Feind, Claudia.«
»Gut. Ich glaube es Ihnen, Georg.«
Er sah sie aufmerksam an. »Wie kommen Sie nachher nach Hause?«
»Der Chauffeur …« Sie verbesserte sich: »Professor Krögers Chauffeur holt mich mit dem Wagen meines Mannes ab.«
»Sehr gut. Dann dürfen Sie noch ein Gläschen trinken.« Er schenkte beide Gläser voll.
»Und was ist mit Ihnen?«
»Unter Umständen lasse ich mir ein Taxi kommen und hole dann morgen mein Auto aus der Tiefgarage.«
»Sehr vernünftig.«
»Ich bin ein vernünftiger Mensch. Können Sie sich wirklich vorstellen, dass ich Bornemann lieber in Ihrer Position sähe?«
»Warum nicht?«
»Nach allem, was ich Ihnen bisher erklärt habe?«
»Das schließt ja nicht aus, dass Sie Bornemann schätzen.«
»Er ist ein Grünschnabel, ein Besserwisser und ein Intrigant.«
Diese Beurteilung ihres Gegners tat Claudia wohler als alle vorhergegangenen Sympathiekundgebungen, die sie innerlich als Schmeicheleien abgetan hatte; sie hatte Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. »Persönlich«, behauptete sie, »habe ich gar nichts gegen ihn.«
»Aber Sie wissen, dass er an Ihrem Stuhl sägt.«
»Woher wissen Sie …?«
»Er läuft durchs Haus und sucht Bundesgenossen.«
»Dass er so weit gehen würde, hätte ich nicht gedacht. Hat er sich tatsächlich auch an Sie gewandt?«
»Auf die denkbar plumpeste Art, so etwa nach dem Motto: Wir Männer müssen zusammenhalten.«
»Oje.«
»Ich habe ihn übrigens nicht abblitzen lassen, sondern mir seine Argumente in aller Ruhe angehört und dazu mit dem Kopf genickt. Zwar habe ich ihm nicht zugestimmt, aber er wird sich einbilden, mich für sich gewonnen zu haben. Typen wie er machen sich gerne selbst etwas vor.«
»Er hält meine Textgestaltung für altmodisch.«
»Das ist nur ein Vorwand. Er möchte Sie, meine liebe Claudia, aus der Firma drücken und sich selber – jung und dynamisch, wie er sich sieht – auf den Redaktionssessel schwingen.«
»Das wird ihm nicht gelingen.«
»Ich fürchte, bloße Verteidigung genügt da nicht mehr. Ich weiß, dass Sie bei Ihren Mitarbeitern sehr beliebt sind. Aber das wird Ihnen nur wenig nützen, wenn es hart auf hart kommt. Keiner von diesen guten Leutchen hat irgendwelchen Einfluss, und keiner von ihnen kann sich erlauben, den Krempel hinzuwerfen, wenn man Sie entlässt.«
Claudia protestierte. »Die Gefahr besteht doch wohl kaum!«
»Täuschen Sie sich nicht! Wenn Bornemann nur beharrlich genug ist, wird er es auch schaffen.«
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Was soll ich also tun?«
»Das fragen Sie mich?«
»Ja, Georg. Ich bin sicher, dass Sie mir einen Ratschlag geben können und auch wollen.«
Er schmunzelte. »Schlaues Mädchen!«
»Was also?«
»Stellen Sie ihm eine Falle!«
Als Claudia später die Redaktion betrat, war die Stimmung dort auf dem Höhepunkt. Ihre eigenen Mitarbeiter, die Fotografen und Grafiker hatten sich bunt gemischt. Alle hatten Gläser in der Hand und plauderten mit erhobenen Stimmen. Wäre nicht die Weihnachtsmusik gewesen, hätte man eher an eine Silvester- oder Karnevalsparty denken können als an eine Weihnachtsfeier. Hans-Peter Hinz hatte sich einen Tischpapierkorb auf das blonde Haupt gestülpt, und Gora hatte eine junge Fotografin in die Ecke gedrängt, die Arme links und rechts neben sie gegen die Wand gestützt, so dass es für sie kein Entrinnen gab. Immer wieder machte sie einen Versuch unten durchzuschlüpfen, aber ihrem Kichern war zu entnehmen, dass sie die Situation doch auch genoss. Bornemann hatte sich an Kurt Nachmann herangemacht und redete eifrig auf ihn ein, während der Marketing Manager eine so geistesabwesende Miene zeigte, dass nicht sicher war, ob er tatsächlich zuhörte. Auch er schien schon ziemlich beschwipst zu sein.
Claudia war froh, dieser Szene nicht nüchtern ausgesetzt zu sein. Sie stand unschlüssig da und überlegte, ob sie jetzt schon verschwinden konnte. Niemand schien sie vermisst zu haben.
Gerade wollte sie sich zurückziehen, als Nachmann sie erkannte. »Ach, da sind Sie ja!«, rief er mit einer Stimme, die vom genossenen Alkohol undeutlich und wie verwaschen klang. »Aber Sie haben ja nichts zu trinken. Bornemann, seien Sie so nett und holen Sie ein Glas für Frau Wolff!« Er hickste. »Sie sehen ja, Frau Wolff hat nichts zu trinken«, fügte er überflüssigerweise hinzu.
»Bin schon unterwegs!«, erklärte Klaus Bornemann beflissen. »Was darf es denn sein, Frau Wolff? Wein oder Sekt?« Er wirkte noch sehr nüchtern – ›gefährlich nüchtern‹, dachte Claudia.
»Versuchen Sie doch bitte, mir ein Glas Mineralwasser zu besorgen.«
»Sehr wohl, gnädige Frau!« Bornemann dienerte übertrieben, was gar nicht zu ihm passte, denn er war ein sehr stattlicher junger Mann – man erzählte sich, dass er Bodybuilding betrieb, und um sich auch einen intellektuellen Touch zu geben, trug er eine Brille mit dicken Horngläsern.
Der schmale, blasse Marketing Manager wirkte im Vergleich zu ihm geradezu unbedeutend. »Den sind wir für eine Weile los«, konstatierte er.
»Hoffen wir es«, sagte Claudia mit einer Aufrichtigkeit, die sie sich im Büro nicht oft leistete. Sie war sich sicher, dass Nachmann an einem Aufstieg des jungen Texters auch nichts gelegen sein konnte. Sein eigener Sessel würde dann als nächster wackeln.
»Wo haben Sie gesteckt?«, fragte er.
»Beim Einkauf.«
»Sehr gut.« Nachmann schwankte leicht. »Einkauf und Verkauf und Werbung – wir alle müssen zusammenhalten.«
»Ja, das müssen wir. Ich würde mich nach den Feiertagen gerne mal mit Ihnen unterhalten.«
»Jederzeit, meine Liebe, jederzeit. Haben Sie ein Problem?«
»Sie auch, Herr Nachmann.«
Trotz seines umnebelten Geistes begriff er überraschend schnell. »Bornemann?«
»Genau der!«
»Wir werden sehn, wir werden sehn.« Nachmann wandte sich der Tür zum Gang zu. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.«
Claudia war nicht klar, ob er auf die Toilette oder schon nach Hause wollte. Sie machte sich Gedanken darüber, wie er in seinem augenblicklichen Zustand die Fahrt schaffen würde. Aber vielleicht hatte er ja vorsorglich seine Frau gebeten, ihn abzuholen, oder aber er war mit der S-Bahn gekommen. Er war ein erwachsener Mann und würde sich schon zu helfen wissen.
Klaus Bornemann tauchte, ein Glas Wasser wie eine Trophäe vor sich her tragend, vor ihr auf. Sie nahm es dankend entgegen und trank durstig.
»Wieso eigentlich Wasser?«, fragte er.
»Weil ich mit Schnaps begonnen habe.«
»Wo?«
›Das möchtest du wohl gerne wissen, du Schlauberger!‹, dachte sie und sagte: »Bei einem freundlichen Mitmenschen.«
»Beneidenswert!«
Sie wusste nur zu gut, dass er sie beneidete, nicht wegen des Schnapses, sondern wegen ihrer Verantwortung und ihres Gehaltes, das wahrscheinlich doppelt so hoch wie das seine war. Sie hatte eine boshafte Replik schon auf der Zunge, schluckte sie aber im letzten Moment hinunter, weil sie einsah, dass eine offene Herausforderung nichts bringen würde.
Bornemann sah sich suchend um. »Wo ist der Chef?«
»Keine Ahnung.«
»Hat er denn nichts gesagt?«
»Wenn Sie so besorgt um ihn sind, sollten Sie auf der Toilette nach ihm schauen. Vielleicht braucht er ja Hilfe, falls er noch im Haus ist.«
Bornemanns rundes, noch unfertiges Gesicht strahlte auf. »Gute Idee!«, rief er und war schon verschwunden. Es war ihm anzumerken wie sehr ihn die Vorstellung begeisterte, seinem Chef den Kopf zu halten, sich damit lieb Kind zu machen und das Geheimnis seiner Schwäche mit ihm zu teilen. Aber der Marketing Manager würde eine solche Art der Hilfeleistung durchaus nicht zu schätzen wissen. Zu ihrer eigenen Überraschung tat Bornemann ihr fast leid. Er war noch verdammt jung, kaum fünfundzwanzig Jahre alt, und sehr naiv. Wer wusste, was für Motive ihn anspornten, so schnell wie möglich und um jeden Preis voranzukommen.
»Hei, schöne Frau, warum so nachdenklich?«, rief Hans-Peter Hinz und kam, den kleinen Papierkorb schräg auf dem Kopf, auf sie zu.
»Hat Bornemann eine Freundin?«
»Glaube ich nicht. Der treibt es lieber mit sich selber. Vor dem Spiegel.«
Claudia lachte. »Ganz schön boshaft.«
»Ich dachte, Sie wollten eine ehrliche Antwort hören.« Er nahm ihr Glas und schnupperte daran. »Pfui, Wasser! Das erklärt alles.«
»Was?«
»Dass Sie inmitten der überbordenden Fröhlichkeit ein Gesicht machen, als müssten Sie die Rätsel des Universums lösen.«
»Ein Schluck Wasser tut zwischendurch ganz gut.«
»Sie wollen doch nicht etwa nüchtern bleiben?«
»Ich denke nicht daran.«
»Gut so. Sonst könnten Sie uns und wahrscheinlich auch sich selber kaum ertragen.«
Claudia fiel auf, dass auch er schon einiges intus haben musste; doch der genossene Alkohol schien seinen Geist aufblitzen zu lassen. »Sie sind selten witzig«, sagte sie.
»Wir feiern ja auch nur einmal im Jahr Weihnachten.«
»Aber das viele Tage lang.«
Sie lachten beide.
Bornemann kam zurück; sein junges Gesicht zeigte deutlich die Enttäuschung, die er empfand. »Ich habe ihn nicht gefunden«, sagte er.
»Wen?«, fragte Hinz.
»Dann ist er also schon gegangen. Nachmann, unser Chef, der Marketing Manager«, erklärte Claudia.
»Das bedrückt Sie doch nicht gar?«
Es bedeutete für sie, dass sie sich nicht so leicht verziehen konnte, wie sie gehofft hatte. Jemand musste dafür sorgen, dass die Party nicht ausuferte. »Nein«, behauptete sie, »wir können uns auch ohne ihn amüsieren. Ich werde mich jetzt ein bisschen unters Volk mischen.«
»Sie können aber niemandem ohne ein gefülltes Glas ein frohes Fest wünschen.«
»Ja, ich weiß, Sie haben recht. Aber all das Zeug ist mir zu labbrig.«
»Ich habe etwas Besseres für Sie!« Hinz stellte sich zwischen Claudia und Bornemann, so dass er dem jungen Texter den Rücken zuwandte, zog einen Flachmann aus der Jackentasche, öffnete ihn blitzschnell und goss ihr einen Schuss goldbrauner Flüssigkeit ins Glas. »Onkel Hinz hat vorgesorgt.« Genauso rasch, wie er die kleine Flasche hervorgezaubert hatte, ließ er sie auch wieder verschwinden.
Bornemann umtanzte sie fast, um mitzubekommen, was vor sich ging. »Was ist los? Was ist los?«
»Gar nichts, mein Junge!«, erwiderte Hinz. »Alles ist hübsch angebunden.« Er bot Claudia den Arm. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Sie auf Ihrem Rundgang begleiten.«
»Ich komme mit!«, rief Bornemann.
Claudia lächelte ihm zu, besonders freundlich, um die vorhergegangene Heimlichtuerei wiedergutzumachen. »Das wäre mir sehr lieb, Herr Bornemann.«
Während die beiden jungen Männer sich mit Alkohol zum Anstoßen versorgten, nahm Claudia einen Schluck aus ihrem Glas und stellte fest, dass Hinz ihr Whisky eingeschenkt hatte, Whisky einer recht guten Marke sogar. Sie fand das ausgesprochen nett von ihm und hoffte auf eine Gelegenheit, sich bedanken zu können. Sie ergab sich, als er ihr später noch einmal nachschenkte, mit derselben Fixigkeit wie beim ersten Mal.
»Danke, Herr Hinz«, sagte sie. »Sie haben den heutigen Abend für mich gerettet.«
Er sah ihr entgegen seiner sonstigen Förmlichkeit und Nüchternheit tief in die Augen. »Es gibt nichts, was ich für Sie nicht tun würde!«
Inzwischen hatte sie mit allen angestoßen und ein paar Worte gewechselt. Claudia hatte das Gefühl, als wenn sich ihr Gesicht in eine lächelnde Maske verwandelt hätte. Sie hoffte auf ein baldiges Ende der Feier, unterdrückte nur aus Höflichkeit den Impuls, auf ihre Armbanduhr zu sehen.
Zuerst verzogen sich die jüngeren Leute, um irgendwo einen Happen zu essen und wahrscheinlich weiterzutrinken. Dann verabschiedeten sich die Verheirateten, die es nach Hause zog, und zum Schluss ging es dann ganz schnell. Die Flaschen waren geleert, das Gebäck vertilgt und die Räume leerten sich. Nur Hans-Peter Hinz und Klaus Bornemann blieben an Claudias Seite; anscheinend wollte keiner dem anderen das Feld räumen. Hinz versuchte sie zu überreden, noch mit ihm zusammenzubleiben, und Bornemann signalisierte sofort, dass er mitmachen wollte.
Claudia wehrte entschlossen ab. »Schluss für heute. Es ist wirklich genug.« Als sie Hinz’ betroffenes Gesicht sah, fügte sie sanfter hinzu: »Vielleicht ein anderes Mal. Bitte, Herr Bornemann, schalten Sie die Musik aus!«
»Wir könnten ihn bestimmt abwimmeln«, sagte Hinz leise.
»Schon möglich«, erwiderte sie achselzuckend, »aber mein Mann erwartet mich.« Sie reichte ihm die Hand. »Bis nach den Feiertagen dann! Sie waren mir eine echte Stütze.«
Hans-Peter Hinz blieb nichts übrig, als sich zurückzuziehen. Es gab ein Krachen in den Lautsprechern. Dann verstummte die Musik.
Als Bornemann zurückkam und sie allein fand, verlor er das Interesse an ihrer Gesellschaft. »Dann werde ich wohl auch gehen«, sagte er etwas unsicher.
»Ja, tun Sie das! Ich knipse nur noch die Lichter aus und schließe ab. Frohes Fest, Herr Bornemann!«
Sie war erleichtert, als sie allein war. Aber es war ein entsetzliches Tohuwabohu, in dem sie zurückblieb. Überall standen leere Flaschen, gefüllte Aschenbecher und Gläser, in denen Kippen schwammen. Es überkam sie der Drang, die Fenster zu öffnen und aufzuräumen. Aber der eisige Regen prasselte gegen die Scheiben, und sie hätte nicht gewusst, wohin mit den Gläsern, die Cafeteria war schon geschlossen.
Also vergewisserte sie sich nur, dass sämtliche Kerzen gelöscht und keine Funken in die Papierkörbe gefallen waren. Alles andere war nicht ihre Aufgabe. Die Putzfrauen würden noch heute Nacht Ordnung schaffen. Zuerst sah sie sich in der Grafik um und knipste die Lichter aus, dann im Raum der Fotografen. Sie wollte gerade in die Textredaktion zurück, als sie sah, dass sich die Tür von Kurt Nachmanns Büro öffnete. Erstaunt blieb sie stehen. War es möglich, dass der Marketing Manager sich, im Trubel unbemerkt, in seine eigenen vier Wände zurückgezogen hatte? Sollte sie ihn ansprechen und fragen, ob sie etwas für ihn tun könnte? Oder ihm lieber die Chance geben, sich unerkannt davonzumachen?
Diese Fragen hätte sie sich sparen können, denn es war nicht Nachmann, der das Büro verließ, sondern Giacomo Gora.
Er sah über die Schulter zurück und flüsterte – ganz unnötig, da er sich doch unbeobachtet glaubte: »Sie sind alle fort. Du kannst.«
Hinter ihm erschien die junge Fotoassistentin, mit der er zu Beginn des Abends so heftig geflirtet hatte. Seine Bemühungen waren also von Erfolg gekrönt worden. Die beiden hatten sich im verlassenen Büro des Chefs eine vergnügte Stunde gemacht. Claudia fand das reichlich keck, denn es hätte durchaus passieren können, dass auch ein anderer den Einfall gehabt hätte, dort hineinzugehen. Um die beiden nicht in Verlegenheit zu bringen, blieb sie regungslos in der dunklen Grafik stehen.
Die Erscheinung der jungen Frau wirkte ramponiert; ihre Frisur war zerzaust, das Make-up verschmiert und einer ihrer Strümpfe zerrissen. »O Gott!«, jammerte sie. »Wie sehe ich aus?«
»Ganz, ganz süß«, behauptete er.
»So kann ich doch nicht auf die Straße.«
»Aber bis zur Toilette. Dort kannst du dich frisch machen.«
»Und was ist mit meinem Strumpf?« Unwillkürlich bückte sie sich und legte die Hand auf das große Loch.
»Die ziehst du eben aus. Alle beide. Dann merkt kein Aas was.«
»Aber draußen ist es saukalt.«
»Selbst dran schuld«, sagte er herzlos, »du hättest dich nicht so anstellen sollen.«
»Ich wollte wirklich nicht, aber du …«
»Tu bloß nicht so, als wenn es dir nicht auch Spaß gemacht hätte. Na, komm schon, reiß dich zusammen. Alles halb so wild.« Entschlossen durchquerte er den Raum und öffnete die Tür zum Gang. Sie folgte ihm, leicht hinkend. Sie verschwanden, ohne die Tür zu schließen oder das Licht auszuknipsen.
›Passendes Ende einer Weihnachtsfeier‹, dachte Claudia und ließ ihnen Zeit zu verschwinden, bevor sie abschloss und ihnen folgte.
Sie war erst wenige Schritte gegangen, als sie sah, dass die Tür der Damentoilette sich öffnete. Um der jungen Frau eine Peinlichkeit zu ersparen, schlüpfte sie in die gegenüberliegende Telefonzentrale. Sie war verlassen.
In diesem Augenblick kam Claudia die Idee, Ralf Hayd anzurufen. Sie machte Licht, setzte sich an den Schreibtisch gleich neben der Tür und wählte seine Nummer. Sie war froh, dass er selber sich meldete und nicht sein Vater.
»Ich bin es, Claudia«, sagte sie mit ihrer bewusst tiefen Telefonstimme.
»Ach du!«, erwiderte er und es klang durchaus nicht begeistert.
Sie merkte es sofort. »Störe ich?«
»Der Laden ist gesteckt voll.«
»Wie schön für euch. Ich fahre jetzt nach Hause.«
»Ja, tu das! Wir sehen uns nach den Feiertagen.«
Ohne ein weiteres Wort legte sie auf. Sie war mehr als betroffen. Es war das erste Mal, dass Ralf sich ihr gegenüber kühl verhalten hatte. Sollte das der Anfang vom Ende sein? Sie hatte bisher fest damit gerechnet, dass sie es war, die Schluss machen würde, wenn es einmal so kommen sollte. Noch nie zuvor hatte ihr ein Mann den Laufpass gegeben, und hier und jetzt, in der verlassenen Telefonzelle des Versandhauses, ahnte sie das Gefühl der Demütigung, das ein solches Ereignis in ihr auslösen würde.
Noch war es nicht soweit. Aber sie würde auf der Hut sein müssen. Sie durfte es nicht dazu kommen lassen.
Noch auf der Fahrt nach Blankenese, auf dem Rücksitz der schweren Limousine, Braake am Steuer, war sie deprimiert und irritiert. Sie lehnte es ab Musik zu hören, weil sie fürchtete, dadurch in eine noch sentimentalere Stimmung zu geraten.
Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass das Prasseln des Regens aufgehört hatte. Sie blickte zum Fenster und sah überrascht, dass es schneite. Nichts hätte in diesem Moment tröstlicher sein können. Weihnachten im Schnee – wie lange schon hatte es das nicht mehr gegeben. Claudia hoffte von Herzen, dass er liegenbleiben würde.
So plötzlich, wie sich die Welt draußen verwandelt hatte, ging auch eine Veränderung in ihrem Herzen vor. Sie schalt sich eine Närrin, dass Ralfs kurz angebundener Ton sie so geschockt hatte. So lange lebte sie jetzt schon in der Welt der Männer und hatte doch die Empfindsamkeit ihrer Mädchentage noch nicht abgestreift. Ihr Verstand hätte ihr sagen müssen, dass der Antiquitätenverkauf gerade in diesen Tagen auf Hochtouren lief. Wenn überhaupt ein Geschäft zu machen war, dann jetzt, kurz vor dem Fest. Es lag doch auf der Hand, dass Ralf da keine Zeit für Spielchen und zärtliche Worte haben konnte; anders wäre er kein Mann und schon gar kein Kaufmann gewesen. Und sie hatte es als ein Zeichen genommen, dass er sie nicht mehr liebte! Wie dumm von ihr, wie gedankenlos und wie egoistisch.
Als Braake ihr vor dem Haus in Blankenese aus dem Wagen half, strahlte sie. Die Rasenflächen, die Büsche und Bäume waren weiß bepudert und immer noch fielen leise Flocken.
»Herrlich der Schnee, nicht wahr, Braake!«, rief sie fröhlich.
»Na, hoffentlich bleibt er man liegen!«
»Wird er schon, Braake, ich bin sicher.«
Claudia behielt recht. Am nächsten Morgen schneite es weiter. Gleich nach dem Frühstück stürmten Imogen und Kersten winterlich vermummt in den Garten, um sich eine Schneeballschlacht zu liefern. Später stieß Claudia dazu und half ihnen, einen großen Schneemann zu bauen. Knut stiftete einen Zylinder als Kopfbedeckung. Die Mädchen jubelten und probierten ihn gleich aus.
»Passt!«, rief Kersten.
Imogen verschob ihn, damit er ein bisschen schief saß. »So sieht der Kerl erst elegant aus.«
Claudia hängte sich bei ihrem Mann ein. »Aber Knut, ist dein Zylinder nicht viel zu schade?«
»Ich freue mich, wenn ihr solchen Spaß habt.«
Sie gab ihm einen raschen Kuss auf die Wange. »Du bist doch der Beste!«
»Das will ich meinen!«, sagte er schmunzelnd. »Aber bewerte meinen Opfermut nicht zu hoch. Es ist nicht mein einziger Zylinder. Zuweilen braucht man so ein Ding ja doch noch.«
»Trotzdem!«, sagte Claudia. »Dass du überhaupt daran gedacht hast!«
Nach dem Mittagessen ließ Knut sich von den Mädchen bewegen, mit ihnen und Claudia Monopoly zu spielen. Sie setzten sich an den hohen Tisch im Speisezimmer. Auf einem Beitisch brannten die vier Kerzen des Adventskranzes.
Kersten war mit wildem Eifer bei der Sache, Imogen spielte sehr überlegt, und dennoch konnten die beiden nicht verhindern, dass Knut gewann.
Claudia war schon früh ausgeschieden. »Gratuliere, Knut!«, sagte sie. »Du kannst eben nicht verleugnen, dass in deinen Adern immer noch das alte Kaufmannsblut fließt. Trotz aller Gelehrsamkeit.«
»Wenn es um Geld geht«, sagte Kersten enttäuscht, »habe ich eben immer Pech.«
Imogen sortierte die Scheine. »Es ist doch nur Spielgeld.« Dann kam ihr ein Gedanke und sie machte große Augen. »Im Grunde«, sagte sie, »ist alles Geld nur Spielgeld. Man bedruckt Papier und sagt: ›Das sind jetzt hundert Mark.‹ Aber in Wirklichkeit bleibt es doch immer nur bedrucktes Papier.«
Knut stimmte ihr zu. »Die Zeiten sind lange vorbei, als man mit Gold- und Silbermünzen bezahlte, deren Wert tatsächlich ihrem Preis entsprach.«
»Wie lange?«, wollte Imogen wissen.
»Nun, ich denke, die Chinesen benutzten schon im dreizehnten Jahrhundert Papiergeld. In Europa kam es erst im späten Mittelalter in Gebrauch. Zunächst diente es nur als Ersatz für hinterlegte Metallwerte.«
»Damit die reichen Leute nicht so schwer zu schleppen brauchten?«
»Seid mir nicht böse, ihr Lieben«, warf Claudia ein, »aber ich mag dieses Gerede über Geld nicht.«
»Du findest es ordinär«, stellte Kersten fest.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Claudia erstaunt.
»Weil du Geld schenken ja auch ordinär findest.«
Claudia warf Imogen einen aufmerksamen Blick zu. Aber das Mädchen, das immer noch die Scheine sortierte und in die Fächer des Kartons legte, verzog keine Miene und hielt die Wimpern gesenkt.
»Dabei ist Geld doch eine fabelhafte Sache!«, fuhr Kersten fort. »Wenn man Geld hat, kann man sich kaufen, was man will, und ist nicht auf Gnade und Barmherzigkeit anderer Leute und auf doofe Geschenke angewiesen.«
»Darüber könnte man stundenlang diskutieren. Aber für mich ist das kein Thema.«
»Weil du genug Geld hast!«
»Du nicht?«, fragte Knut.
»Nein, Onkel Knut, das ist es ja gerade. Ich hoffe bloß, meine Mutter denkt nicht wie Tante Claudia und gibt sich zu Weihnachten wenigstens einen Stoß.«
»Ich bin sehr gespannt, was ich bekomme«, sagte Claudia, um das Thema zu wechseln.
»Nichts Besonderes«, erklärte Imogen.
Claudia tat enttäuscht. »Nicht?«
»Nur was Selbstgemachtes.«
Claudia lächelte ihr zu. »Selbstgemachte Geschenke sind in meinen Augen die schönsten.«
»Dann«, sagte Knut und stand auf, »wird es wohl Zeit für mich, meine Laubsäge aus dem Keller zu holen.«
»Bis zum Abend schaffst du nichts mehr!«, rief Kersten.
»Wer weiß«, sagte Knut geheimnisvoll und verließ das Zimmer.
Auch für Kersten wurde es Zeit aufzubrechen. Sie hörten, dass Braake den Wagen aus der Garage fuhr. Claudia löschte die Kerzen des Adventskranzes und schickte die Mädchen nach oben, um Kerstens Tasche zu holen. Sie blieb mit Imogen in der Haustür stehen. Die beiden sahen zu, wie Kersten zum Auto lief. Sie drehte sich, bevor sie einstieg, noch einmal um und winkte ihnen zu. Sie winkten zurück.
»Das war heute ein schöner Tag«, sagte Imogen noch in den offenen Wagen, »viel schöner als Weihnachten.« Braake warf einen bekümmerten Blick in den Rückspiegel.
»Sag doch so etwas nicht!«, rief Claudia ihre Tochter zur Raison.
»Fandst du es nicht auch schön?«
»Sehr schön sogar. Aber das besagt doch nicht, dass wir es uns an den Feiertagen nicht auch so gemütlich machen können.«
»Ich glaube, die richtigen Feste, die kann man nicht arrangieren. Die müssen sich einfach so ergeben.«
Claudia zog ihre Tochter ins Haus. »Sprich nicht so weise, Liebling, du wirst mir sonst noch unheimlich.«
Imogen lachte. »Das wäre fein!«
»Was?«
»Wenn ich dir unheimlich würde! Aber ich weiß ja, du machst nur Spaß. Unheimlich sind bloß Gespenster.«
Punkt sieben fand dann die Bescherung im Krögerschen Elternhaus statt.
Zu Beginn ihrer Ehe hatte Claudia sich dagegen gewehrt. Sie hätte den Heiligen Abend lieber bei sich zu Hause nur mit ihrem Mann und ihrer Tochter gefeiert. Aber gegen die Familientradition war sie vergebens Sturm gelaufen. Wie schon Rosalind hatte sie sich fügen müssen. Man war immer im »Großen Haus« zusammengekommen und so sollte es auch in Zukunft bleiben. Auch die späteren Schwiegertöchter würden an der allgemeinen Bescherung teilnehmen müssen.
Inzwischen fand Claudia diese Lösung ganz bequem. Sie ersparte ihr die Aufregung der Vorbereitungen, die große Kocherei und den Weihnachtsbaum. Frau Beer und der Chauffeur hatten über die Feiertage frei.
So waren sie denn, ihre Schuhbeutel in der Hand, durch den Schnee gestapft – die Wege waren zwar geräumt worden, aber da es nicht aufhören wollte zu schneien, empfahl es sich, die Schuhe zu wechseln. Ihre Geschenke waren schon Tage vorher bunt verpackt und mit den Namen der Empfänger versehen hinübergebracht worden.
Claudia hatte sich und ihre Tochter dem Anlass und Lydias Wünschen entsprechend schön gemacht. Sie trug ein Abendkleid aus matt schimmerndem blauem Samt, um den schmalen Hals eine Platinkette mit ihrem Diamanten. Imogen hatte den ersten langen Rock ihres Lebens bekommen; er war aus schwarzem Samt mit einer dazu passenden farbenfrohen Folklore-Bluse. Knut hatte natürlich seinen Smoking angezogen. Lydia hatte ein tief ausgeschnittenes rotes Seidenkleid gewählt und trug dazu, wie es schien, ihren gesamten Schmuck.
Imogen dachte: ›Sie sieht selber wie ein Weihnachtsbaum aus!‹, aber sie hielt wohlweislich den Mund.
Die beiden Jungen hatten schwarze Anzüge an, die beiden an den Armen und Beinen etwas zu kurz geworden waren. Claudia dachte, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis auch sie im Smoking erscheinen würden.
Bald nach der Begrüßung verschwand Lydia im Musikzimmer. Wenig später öffnete sich die Schiebetür einen Spaltbreit und sie rief Sven zu sich, wahrscheinlich, weil er ihr helfen sollte, letzte Hand anzulegen. Nicht lange danach wurde auch Knut hereingerufen. Er war der Einzige in der Familie, der einigermaßen musikalisch war und Klavier spielen konnte – auch das war eines der Argumente gewesen, mit denen Lydia die Schwägerin bewegt hatte, den Heiligen Abend gemeinsam zu feiern. Denn ein Weihnachtsfest, nur von mechanischen Klängen untermalt, wäre für die Krögers undenkbar gewesen. Es musste Klavier gespielt und selbst gesungen werden.
Claudia und Imogen blieben mit den beiden Jungen in der riesigen, zwei Stockwerk hohen Halle zurück.
»Na, wie geht es dir denn so, Irmy?«, fragte Jens herablassend.
Imogen warf mit einer Kopfbewegung das lange, seidig glänzende Haar, das sie heute ganz offen trug, in den Nacken zurück. »Für dich immer noch Imogen«, erwiderte sie schnippisch.
Jens grinste. »Sieh einer an! Die Kleine entwickelt Temperament.«
»Gar nicht so übel«, stimmte der junge Knut ihm zu. »Wirst du uns wieder ein hübsches Gedicht vortragen?«, erkundigte sich Jens.
»Diesmal nicht.«
»Ein Jammer«, spottete Jens.
»Wo du so schön betonen kannst«, fügte sein Bruder hinzu.
Imogen hatte bis zum vergangenen Jahr Storms »Von drauß’ vom Walde komm’ ich her …« aufsagen müssen und sie hatte es gehasst – nicht das Gedicht und auch nicht das Vortragen, sondern die, wie sie es empfand, herablassende Art, mit der die Erwachsenen ihr zuhörten, und das Feixen der beiden Jungen.
Claudia, die sich nur sehr selten in die Kabbeleien der Kinder einmischte, kam ihr jetzt zu Hilfe. »So gut wie du, Knut«, sagte sie, »war Imogen aber leider nie. Du machtest es mit Bewegung.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Nase und zitierte: »›… mit rot gefrorenem Näschen!‹«
Der Junge errötete.
»Damals war er ja erst fünf Jahre alt«, sagte sein Bruder nachsichtig.
»Jedenfalls machte er es so fabelhaft, dass er sich auch beim Damenkränzchen eurer Mutter produzieren durfte.«
Imogen lachte. »Und alle haben ihn abgeknuddelt.«
»Ihr seid gemein!«, schrie der junge Knut, der sich nur höchst ungern daran erinnern ließ, was für ein entzückendes Kerlchen er gewesen war.
»Du hast damit angefangen«, behauptete Imogen.
»Ich finde es nicht nett, dass ihr versucht, Imogen wegen etwas aufzuziehen, an dem sie ganz unschuldig ist. Zudem gehört es zu eurer vielgepriesenen Familientradition, dass immer das jüngste Kind ein Gedicht rezitiert. Vor Knut warst du an der Reihe, Sven. Erinnerst du dich nicht mehr?«