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Über dieses Buch:

Im Sturm der Zeit gefangen … Ganz unerwartet erbt die Londoner Journalistin Lea ein Haus in ihrer deutschen Heimat. Als sie es in Augenschein nimmt, entdeckt sie einen kleinen Raum unter der Treppe – und findet sich plötzlich in einem völlig veränderten Haus wieder! Nach und nach begreift Lea, dass sie ins Jahr 1938 gereist ist. Verzweifelt setzt sie alles daran, so schnell wie möglich in ihre Zeit zurückzukehren – doch dann lernt sie den geheimnisvollen Arzt Daniel kennen. Zwischen den beiden entwickeln sich zarte Gefühle. Aber wie eine dunkle Wolke schwebt die Gefahr über ihnen – denn Daniel ist Jude …

Eine schicksalhafte Begegnung, zwei Leben und eine Liebe, die wie ein Stern in finsterer Nacht leuchtet!

Über die Autorin:

Sabine Neuffer wurde 1953 in Hannover geboren. Nach dem Studium arbeitete sie als Lehrerin und für eine PR-Agentur, bevor sie ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte.

Bei dotbooks erschienen bereits Sabine Neuffers Romane »Herr Bofrost, der Apotheker und ich«, »Das Glück ist eine Baustelle«, »Unter weitem Frühlingshimmel« und »Was uns nach diesem Sommer bleibt« sowie ihre Kinderbücher »Das Papa-Projekt«, »Das Oma-Projekt« und »Das Geschwister-Projekt«.

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Aktualisierte Originalausgabe Juni 2020

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © dieser Ausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

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Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © Adobe Stock / Ricardo, © shutterstock / ViChizk / Yakov Oskanov / Vector / Traveller 70 / Ruud Morijn Photographer sowie © 123RF / pashabo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-419-8

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Sabine Neuffer

Eine Liebe zwischen den Zeiten

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

LONDON, Frühsommer 2005

»Ich muss nach Deutschland fliegen«, sagte Lea niedergeschlagen und trat auf die Terrasse zu Brian, der im letzten Abendsonnenlicht las.

Er ließ das Buch in den Schoß sinken und schob die Brille ins Haar. »Probleme?«

Lea quetschte sich auf den zweiten Stuhl. Die Terrasse war eng, sie bot gerade Platz für zwei Teakholzsessel und einen kleinen, runden Tisch. Wenn Lea es über sich gebracht hätte, die ausladende Kletterrose an der Hauswand zu stutzen, wäre es wesentlich bequemer gewesen. Doch sie liebte den winzigen, wuchernden Garten, der kaum größer als ihr Wohnzimmer war, und tastete nur das Nötigste an. Die Rose, eine üppige New Dawn, hatte den Ausschlag gegeben, gerade dieses Haus zu kaufen. Im Sommer drang der würzige Zitronenduft der Blüten durch die geöffneten Schlafzimmerfenster im oberen Stockwerk. Und das mitten in London.

»Meine Großmutter ist gestorben«, sagte Lea und legte die Zeitung zusammen, in der sie gelesen hatte, als ihre Mutter anrief. »Ich muss mich um ihr Haus kümmern, anscheinend habe ich es geerbt.«

Brian setzte sich auf. »Ein Haus? Wo?«

»In Braunschweig.« Lea seufzte.

Brian hob interessiert eine Augenbraue. »Braunschweig? Meine Mutter ist dort geboren.« Brian entstammte einer jüdischen Familie, die Deutschland in den 30er Jahren verlassen hatte, doch er, mehr als 20 Jahre nach Kriegsende geboren, war ein waschechter Engländer. »Was ist das für ein Haus?«, fragte er.

Lea faltete die Zeitung einmal mehr als nötig. »Ein düsterer, alter Kasten. Gründerzeit, wenn dir das etwas sagt.«

»Grunderzeit?«, wiederholte Brian mit einem komischen Akzent und sah sie verständnislos an.

»Das war die Zeit nach der Reichsgründung«, erklärte Lea. »Industrieller Aufschwung, jede Menge Firmengründungen, all das. Man baute pompös und protzig, schließlich wollte man zeigen, dass man wer war. Viel Stuck, schwere Säulen, wenig Luft zum Atmen. Aber sehr repräsentativ.« Sie lächelte matt.

»Und so etwas hast du geerbt?« Brian war sichtlich beeindruckt. »Wie groß?«

Lea zuckte mit den Schultern. »Drei, vier Wohnungen? Ich weiß nicht genau.«

»Wieso weißt du das nicht? Ich denke, es ist das Haus deiner Großmutter?«, fragte Brian überrascht. Er selbst hatte eine sehr enge Beziehung zu seiner Großmutter und hatte Lea so lange gedrängt, die alte Dame endlich kennenzulernen, bis sie schließlich – ohne große Begeisterung – versprochen hatte, Brian zu deren 90. Geburtstag zu begleiten. Der würde erst im November sein, doch Brian machte bereits jetzt, im Juni, Pläne für das Fest.

»Ich habe meine Großmutter nur einmal gesehen«, sagte Lea, »und ich habe sie nicht gemocht.« Sie verzog das Gesicht. Wenn sie eine Rangfolge in der langen Reihe ihrer bedrückenden Kindheitserinnerungen hätte aufstellen sollen, so wäre dieser Besuch in Braunschweig sicher auf einem der Spitzenplätze gelandet. Ihre Großmutter war hager und unfreundlich gewesen und hatte sonderbare Geräusche mit ihrem Gebiss gemacht, die für eine Zehnjährige äußerst erschreckend klangen. Es war Leas Mutter, die damals, vor genau 25 Jahren, auf diesem Besuch bestanden hatte. Angeblich damit Lea ihre Großmutter väterlicherseits wenigstens einmal kennenlernte. Doch Lea hatte da schon den Verdacht gehabt, ihre Mutter wolle die Alte nur ärgern. Was ihr wohl auch gelungen war, denn die Großmutter behandelte ihre Schwiegertochter wie eine Aussätzige, nicht einmal die Hand hatte sie ihr gereicht. Ihrer Enkelin servierte sie harte Plätzchen und lauwarmen Pfefferminztee und zeigte ansonsten wenig Interesse an ihr. So war es kein Wunder, dass Lea niemals das Bedürfnis verspürt hatte, sie wiederzusehen. Vielmehr hatte sie alle Gedanken an ihre Großmutter weit von sich geschoben und auch die an ihre düstere Wohnung, in der die Luft, gesättigt von jahrzehntealtem Staub, jede Bewegung schwer gemacht hatte. Sie erinnerte sich nur vage an sehr alte Möbel, die unter unzähligen Lagen von gehäkelten oder bestickten Decken versteckt waren. An dunkle, verblichene Vorhänge und riesige Ledersitzmöbel, viel zu groß für ein Kind und ebenfalls unter ständig verrutschenden Decken verborgen.

Brian lachte bloß, als sie ihm die Wohnung beschrieb. »Wer weiß, vielleicht findest du dort ja etwas ganz Besonderes. Einen verschollenen Rembrandt womöglich?«, meinte er scherzhaft. Dann wurde er ernst: »Was ist denn mit der Beerdigung, musst du dich auch darum kümmern?«

Lea schüttelte den Kopf. »Die war schon, vor zwei Wochen oder so. Anscheinend hat sich irgendeine Bekannte meiner Großmutter darum gekümmert, als sie niemanden von uns erreichen konnten. Ich weiß auch gar nicht, wie sie meine Mutter jetzt ausfindig gemacht haben, das hat sie mir nicht erzählt.«

»Na, siehst du, wenigstens das bleibt dir erspart.« Brian lächelte ihr über den Rand seines Glases zu. In der Dämmerung waren seine Augen so schwarz wie sein Haar. »Und bei der Haushaltsauflösung wird deine Mutter dir doch sicherlich helfen.«

Für diese Idee hatte Lea nur ein schwaches Lächeln übrig. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie ihren geliebten Fabrizio auch nur einen Tag allein lässt und aus Rom in die deutsche Provinz jettet, um mir bei einer Entrümpelungsaktion zu helfen?«

Brian lachte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Du hast wirklich eine sonderbare Familie.«

»Danke!« Lea leerte ärgerlich ihr Glas. »Nicht jeder hat das Glück, aus so einer Bilderbuchfamilie zu stammen wie du! Darauf musst du dir nichts einbilden!«

Er sah sie verblüfft an. »Aber das tu ich doch auch gar nicht«, sagte er gekränkt. »Ich weiß, dass ich großes Glück habe.«

»Entschuldige. Es tut mir leid, ich bin ein wenig gereizt.« Lea suchte nach seiner Hand. »Könntest du mich nicht begleiten?«, fragte sie zaghaft. »Ich weiß, so toll wie Irland ist das nicht, aber …«

Brian erwiderte ihren Händedruck. »Lea, wie sollte ich dir da helfen? Ich spreche kein Wort Deutsch, und ich kann unmöglich Entscheidungen darüber treffen, was mit eurem Familienerbe geschehen soll. Ich könnte dir gar nichts abnehmen, wahrscheinlich wäre ich eher eine Belastung für dich. Du müsstest ständig dolmetschen und –«

Lea winkte ab. »Schon gut, vergiss es. Vielleicht hast du ja sogar recht.« Sie stand auf, um die Weinflasche aus der Küche zu holen. »Weißt du was?«, fragte sie, als sie zurückkam. »Ich lasse die Wohnung einfach komplett entrümpeln, und dann suche ich mir einen Makler, der das Haus verkaufen soll. Wenn ich mich ranhalte, kann ich das alles in einer Woche erledigen, und wir können immer noch nach Irland fahren. Drei Wochen Urlaub sind doch auch noch genug, findest du nicht?«

»Ich glaube nicht, dass das alles so schnell gehen wird«, wandte Brian ein und nippte an dem Wein, den Lea nachgeschenkt hatte. »Da sind doch sicher Mieter im Haus, und vielleicht muss das ein oder andere repariert werden. Du solltest dir schon Zeit damit lassen, Lea.«

»Aber warum? Ich kann dem Makler doch sagen, dass er das Haus nur an jemanden verkaufen darf, der die Mieter übernimmt, und um die Reparaturen kann sich der Käufer selbst kümmern. Das wird der gern tun, wenn er dadurch den Kaufpreis herunterhandeln kann. Unser Urlaub ist mir viel wichtiger.« Sie prostete Brian zu. »In einer Woche fahren wir!«

Brian wich ihrem Blick aus. »Lea«, begann er zögernd, »unser Urlaub …, ich hatte dich sowieso bitten wollen, ihn zu verschieben. Sieh mal, es ist …, wie soll ich sagen? Es ist einfach kein guter Zeitpunkt. Meine Mutter ist so niedergeschlagen, und Beckys Kind kann jeden Moment kommen, darum …«, er blickte verlegen auf, »wäre es mir wirklich lieber, in den nächsten Wochen hier zu sein. Die beiden brauchen mich.«

Lea starrte ihn ungläubig an. »Heißt das …? Willst du etwa sagen, du wolltest unseren Urlaub sowieso abblasen?«

»Na ja, ich …«, Brian schaute zu Boden, »ich wollte dich bitten …«

»Na, toll!« Lea stellte ihr Glas hart auf der Tischplatte ab. »Und wann hättest du mir das gesagt, wenn dir nicht zufällig der Tod meiner Großmutter zu Hilfe gekommen wäre? Brian, wir hatten eigentlich vor, übermorgen loszufahren!«

Brian wand sich. »Ja, ich weiß. Ich wollte schon die ganze Zeit mit dir darüber reden, aber …«

»Aber ich bin so furchtbar verständnislos, wenn es um deine Familie geht, nicht wahr? Das wolltest du doch sagen, stimmt’s?« Lea nahm ihr Glas wieder auf und drehte es so heftig zwischen beiden Händen, dass der Wein überschwappte. Sie verstand Brian wirklich nicht. Für ihn schien es nichts Wichtigeres zu geben als seine Familie, und Lea empfand diese enge Bindung fast als Bedrohung. Obwohl sie Brian nun schon seit drei Jahren kannte, hatte sie bis auf wenige flüchtige Begegnungen jeglichen Kontakt zu seiner Familie vermieden, als müsse sie der Gefahr trotzen, von ihr verschlungen zu werden. Natürlich waren Brians Mutter und seine Schwester keine Monster, im Gegenteil, Lea fand sie sehr liebenswürdig und entgegenkommend, doch gerade das hatte sie so verschreckt. Sie wollten, dass Lea zu ihnen gehörte, ein Teil ihrer engen Gemeinschaft wurde, doch das konnte sie nicht. Sie war nicht bereit, sich noch einmal auf die quälende Nähe und die ständigen Einschränkungen, die eine Familie zwangsläufig mit sich brachte, einzulassen.

Dass Brian es tat, jederzeit und anscheinend nicht einmal widerwillig, irritierte sie maßlos. Und wieder fragte sie sich, wie viel sie ihm eigentlich bedeutete, ob sie in seinem Leben jemals an erster Stelle stehen oder ob die Sorgen und Probleme seiner Mutter und Schwester nicht immer Vorrang haben würden. Doch vielleicht reagierte sie ungerecht? Brians Vater, ein lebensfroher, scheinbar kerngesunder Mann war vor sechs Monaten mit 73 Jahren unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben, und Brians Mutter suchte verständlicherweise Trost bei ihren Kindern. Zwar arbeitete sie, obwohl auch schon 70, noch immer, was ihr jedoch nur in sehr beschränktem Maße half, mit dem Verlust fertig zu werden. Zumal sie im Begriff war, ihre Augenarztpraxis in Kensington an einen jüngeren Kollegen zu übergeben.

In Brians Familie waren alle Frauen Ärztinnen. Seine Großmutter hatte jahrzehntelang eine Hausarztpraxis im Londoner Stadtteil Bayswater geführt, und seine Schwester Becky arbeitete als Anästhesistin in einer Klinik. Bemerkenswerterweise hatte keine von ihnen einen Arzt geheiratet. Brians Vater war Finanzmakler gewesen, und Beckys Mann Bob Ingenieur. Unglücklicherweise hatte ihn seine Firma gerade jetzt für einige Monate nach Bahrain geschickt – ein attraktiver Auftrag und für Bob die Chance, gleich ein paar Sprossen auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Dass Becky, die ihren Kinderwunsch nach langen erfolglosen Versuchen gerade endgültig aufgegeben hatte, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt doch noch schwanger wurde, konnten sie nicht ahnen. Nun stand die Geburt kurz bevor. Bob war unabkömmlich, und so schien es selbstverständlich, dass Brian an seiner Stelle männlichen Beistand leistete. Wie er sich – als Historiker – dabei nützlich machen sollte, war Lea unklar, doch darauf kam es wohl auch nicht an. Es ging nur darum, dass er sich um seine Schwester kümmerte. Vielleicht, überlegte sie, war der starke Zusammenhalt in Brians Familie normal. Das war vermutlich in vielen Emigrantenfamilien so. Andererseits – Brian gehörte zur dritten Generation, er wurde in England geboren, sein Vater war Engländer, seine Mutter als Kleinkind hierhergekommen und seine Großmutter als sehr junge Frau eingewandert. Sie hatte hier studiert, und Brian behauptete immer, dass niemand in England sie je für eine Deutsche halten würde. Die Familie unterhielt absolut keine Beziehung mehr zu dem Land ihrer Vorfahren, selbst Brians Großmutter war nie wieder dort gewesen. Und Brian interessierte sich wenig für Deutschland, zumindest nicht für das Deutschland von heute. Das schien erst, seit er Lea kennengelernt hatte, näher in sein Bewusstsein gerückt zu sein. Was ihn an Deutschland faszinierte, war das historische Phänomen des Dritten Reichs. Zurzeit arbeitete er an einem Forschungsprojekt, das sich mit den Schicksalen der Nachkommen jüdischer Kinder beschäftigte, die Deutschland kurz vor dem Krieg ohne ihre Eltern verlassen hatten und in englischen Pflegefamilien oder – im schlimmeren Fall – Kinderheimen aufgewachsen waren.

Lea, die seit acht Jahren in London lebte, konnte sich mit Brians Desinteresse an dem Deutschland von heute leicht abfinden. Gefühle wie Heimat- oder gar Vaterlandsliebe waren ihr fremd, und stolz auf ihr Land war sie angesichts der Geschichte des letzten Jahrhunderts wirklich nicht. Inzwischen betrachtete sie es aus einer sehr distanzierten Perspektive und mit genau der ironischen Gelassenheit, die ihre wöchentlichen Kolumnen über das Leben einer Festländerin auf der Insel so erfolgreich machten. So erfolgreich, dass sie es endlich gewagt hatte, sich für ein Jahr von ihrem Dienst an der deutschen Schule in London beurlauben zu lassen. Wenn sie mehr Zeit investieren konnte und sich ihre journalistische Tätigkeit dann so entwickelte, wie sie hoffte, würde sie nie wieder in ein Klassenzimmer zurückkehren, sondern als freie – oder, noch besser – feste Journalistin für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. In dieser Hinsicht konnte sich dieses unerwartete Erbe als großer Segen entpuppen. Vielleicht war sie nun in der Lage, sich etwas länger Zeit zu nehmen, bevor sie eine endgültige Entscheidung treffen musste.

Den Beginn ihres Sabbatjahres hatte sie sich allerdings anders vorgestellt. Sie hatte sich sehr auf einen ausgedehnten Urlaub mit Brian in Irland gefreut. Dort war sie noch nie gewesen, doch nicht nur das unbekannte Land hatte sie gereizt, sondern mindestens ebenso sehr die Aussicht, Brian einmal für ein paar Wochen nicht mit seiner Familie teilen zu müssen.

»Also habe ich dich richtig verstanden?«, fragte sie verstimmt. »Es ist völlig egal, wie lange ich in Deutschland bleibe? Unser Urlaub ist sowieso gestrichen?«

Brian leerte sein Glas. Auch er war ärgerlich, Lea spürte es. »Irland läuft uns doch nicht weg, Lea«, sagte er. »Wir können auch nächstes Jahr noch fahren.«

Lea stand auf. »Ja, oder in zehn Jahren. Natürlich läuft Irland uns nicht weg! Es wird noch da sein, wenn wir längst tot sind!« Sie schnappte sich ihr Glas vom Tisch. »Dann buche ich jetzt einen Flug nach Hannover. Am besten gleich für morgen früh!« Plötzlich hatte sie es eilig wegzukommen.

Kapitel 2

BRAUNSCHWEIG

An der letzten Autobahnraststätte vor Braunschweig unterbrach Lea ihre Fahrt. Sie ärgerte sich bereits jetzt, dass sie zu geizig gewesen war, am Flughafen einen Wagen mit Klimaanlage zu mieten, sondern sich für das kleinste, billigste Modell, einen schwarzen Seat, entschieden hatte. Es war erst elf Uhr, doch das Thermometer hatte schon fast die 30-Grad-Marke erreicht.

Lea machte sich notdürftig frisch, kaufte einen Stadtplan von Braunschweig, besorgte sich an dem Selbstbedienungsbüfett eine Apfelschorle und ließ sich an einem freien Tisch für sechs Personen nieder, der Platz genug bot, den Plan vollständig auszubreiten. Sie studierte ihn mindestens eine halbe Stunde lang. Da Lea, abgesehen von diesem einen Besuch vor 25 Jahren, niemals in Braunschweig gewesen war, konnte sie sich nicht mehr an die genaue Lage des Hauses erinnern, aber ihr visuelles Gedächtnis funktionierte hervorragend. Mit dem Plan im Kopf würde sie sich problemlos zurechtfinden. Als Erstes prägte sie sich die Namen der Hauptstraßen und Stadtteile ein, erst dann suchte sie nach der Straße, an der das Haus ihrer Großmutter lag. Es war eine winzige Straße innerhalb des Rings, der die Kernstadt umschloss, und sie lag parallel zur Oker, unweit des Theaters. Zumindest früher musste dies eine bevorzugte Wohngegend gewesen sein. Lea hatte lediglich eine vage Vorstellung von der Stadt. Sie wusste nur, dass die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg dort ähnlich verheerende Auswirkungen gehabt hatten wie in ihrer Heimatstadt Hannover. Ansonsten erinnerte sie sich an den Anblick der Brauereien und des gesichtslosen Bahnhofs, die sie auf Zugfahrten nach Berlin passiert hatte. Aber sonst? Braunschweig? Außer Heinrich dem Löwen und der berühmten Braunschweiger Wurst, die ihr Vater so gern gegessen hatte, fiel ihr beim besten Willen nichts ein.

Eine Dreiviertelstunde später manövrierte sie den kleinen Wagen in eine Parklücke, direkt vor dem Haus. Sie stieg aus, blieb in der geöffneten Wagentür stehen und sah sich erstaunt um. Schön war es hier, richtig schön! Hier hatten die Bomben nicht gewütet, es war immer noch eine ausgezeichnete Gegend, gepflegt und eindrucksvoll. Würdevolle, reich verzierte alte Häuser, viel Grün, und von einem ›alten Kasten‹ konnte keine Rede sein. Lea starrte an dem Haus empor. Von dem bedrückenden, überladenen Stil der Gründerzeit war es weit entfernt. Es musste später entstanden sein, Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Fassade war schlicht, roter Klinker, die Fenster umrahmt von hellem Sandstein, darüber lichte Jugendstil-Ornamente, die ein von vielen Regengüssen weich gezeichnetes Frauenantlitz umrankten. Eine Steintreppe, acht Stufen vielleicht, führte zu der breiten Eingangstür, auch sie oben gerundet und versehen mit fein geätzten Glasscheiben, die das Rankenmuster der Sandsteinaufsätze aufgriffen. Ein schmaler Vorgarten hinter einem niedrigen, schmiedeeisernen Zaun, vertrockneter Rasen, ein paar kleine Büsche, wilder Wein, der sich an der linken Hausseite emporrankte.

Erst auf den zweiten Blick sah man, dass die Fensterrahmen dringend gestrichen werden mussten und auch der Eisenzaun etwas verwahrlost wirkte. Es überraschte Lea, wie hübsch das Haus war. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem finsteren Gebäude, das sie in Erinnerung hatte. Vielleicht weil damals ein grauer Novemberhimmel über der Stadt gehangen und jede Heiterkeit erdrückt hatte, während heute die Sonne alles in ein freundlicheres Licht tauchte?

Lea hob ihre prall gepackte Reisetasche von der Rückbank, schulterte sie und stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf. Bei Frau Wiegand sollte sie klingeln, hatte ihre Mutter gesagt.

»Sie wollen den Schlüssel, was?« Die alte, korpulente Frau stand breitbeinig in ihrer Wohnungstür im ersten Stock und musterte Lea feindselig. Plötzlich aber schien sie zu stutzen, und Lea meinte, Unsicherheit und Schrecken in ihrem Blick aufblitzen zu sehen. Doch dieser Moment währte so kurz, dass Lea schnell überzeugt war, sich getäuscht zu haben. Da lag nichts als Feindseligkeit in den altersblassen Augen. »Mein Beileid übrigens.« Die Worte klangen hart, von Mitgefühl keine Spur. »Warten Sie.« Sie verschwand in ihrem Flur.

Lea erhaschte einen flüchtigen Blick in die Wohnung. Geblümte Tapete, erstaunlich modern, rosa, blau, türkis. Eine Biedermeierkommode, darüber ein Spiegel. Lea trat einen Schritt zur Seite, um kurz in den Spiegel zu sehen. Sie sah verschwitzt und müde aus. Das Haar fiel ihr strähnig und stumpf auf die Schultern, die Bluse war zerknautscht, der Kragen unter dem Schulterriemen ihrer Reisetasche eingeklemmt. Kein Wunder, dass Frau Wiegand nicht gerade überzeugt vom Auftreten der neuen Hausherrin war.

»Hier, bitte!« Der Schlüssel landete unsanft in Leas Hand. »Was haben Sie denn nun vor, Frau … Salbach?« So wie sie den Namen aussprach, klang er fast wie ein Schimpfwort. »Wahrscheinlich alles als Eigentumswohnungen verhökern, was? Bringt vermutlich am meisten.« Ein ungnädiger Blick, und dann fiel die Wohnungstür zu.

Lea zuckte zusammen. Ein netter Empfang! Unsicher stieg sie die breite Holztreppe hinab. Die Stufen waren ausgetreten, aber spiegelblank gewienert. Von innen machte das Haus einen weniger heruntergekommenen Eindruck, als Lea befürchtet hatte. Das Treppenhaus war vor nicht allzu langer Zeit gestrichen worden, in einfallslosem Beige, aber zumindest sah es ordentlich aus. Vielleicht befand sich auch die Wohnung in einem besseren Zustand, als Lea erwartete?

Doch als sie die schwere, mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Tür aufstieß, waren alle ihre Hoffnungen schlagartig zunichtegemacht. Ein säuerlich-ranziger Geruch schlug ihr entgegen, ekelerregend. Und es war genauso dunkel, wie Lea es in Erinnerung hatte, ihr kam es vor, als betrete sie, nach dem gleißenden Sonnenlicht draußen, eine andere Welt, ein Totenreich. Sie schauderte, zog unwillkürlich die dünne Bluse enger um sich und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann setzte sie behutsam, voller Angst, ein Geräusch zu machen und womöglich die hier lauernden Geister aufzustören, ihre Tasche ab und tappte auf eine geöffnete Tür zu, die rechts von ihr am Ende des Flurs lag. Das musste das Wohnzimmer sein. Lea erkannte schemenhaft die Sitzmöbel wieder, die ihr damals so riesengroß vorgekommen waren. Sie umrundete sie, um an die Fenster zu gelangen. Als sie die schweren dunkelgrünen Vorhänge aufzog, musste sie mehrmals niesen. Eine Wolke Staub war aufgeflogen und traf Lea gleichzeitig mit dem Sonnenlicht, das wie befreit durch die Scheiben floss. Als Lea den dritten und letzten Vorhang zur Seite zerrte, kam dahinter eine Terrassentür zum Vorschein, die schließlich mit einem protestierenden Knarren nachgab und sich öffnen ließ. Aufatmend trat Lea ins Freie. Sofort war sie wieder verzaubert. Sie stand auf einer weitläufigen Terrasse und blickte in ein grünes Paradies. Unmittelbar unter ihr, über eine kleine Steintreppe erreichbar, lag ein verwunschener Rasenplatz, fast vollständig überdacht von einer alten Weide, deren Zweige sich bis auf den Boden neigten. Unter dem Baum standen, längst verrostet, uralte Gartenstühle um einen verwitterten Tisch. Zwischen den Blättern der Weide, am Ende des Grundstücks, glitzerte blau und träge der Fluss im Sonnenlicht.

Lea stieg vorsichtig die marode Treppe hinab und ging über den Rasen bis an das Ufer. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kleiner Park, frisch gemähte Rasenflächen mit schmalen, gepflegten Spazierwegen. Mächtige Eichen spendeten Schatten und ließen Durchblicke auf die Seitenwand eines riesigen, alten Gebäudes frei. Das muss das Theater sein, dachte Lea, die sich den Stadtplan ins Gedächtnis rief. Sie atmete tief ein und wandte ihr Gesicht der Sonne zu. Die Luft roch nach Wärme und Sommer, nach Wasser und Grün. – Und nach Stadt, das auch. Ein Bus, leuchtend rot mit Reklame bedruckt, surrte am Theater vorbei, irgendwo erklang eine Autohupe. Lea lächelte.

Dann machte sie kehrt. Wenn sie nur alle Vorhänge beiseiteschob und die Fenster öffnete, würde die Wohnung ihren Schrecken verlieren, das Licht die Gespenster vertreiben. Doch als sie wieder das Wohnzimmer betrat, überwältigte dieser unerträgliche Geruch sie aufs Neue. Er war undefinierbar, es roch einfach – alt. Nach Staub und Körperausdünstungen, nach niemals gewaschenen Stoffen, nach … Lea gab es auf. So ganz genau wollte sie gar nicht wissen, was im Einzelnen diesen Gestank verursachte. Er musste einfach nur raus, und zwar schnell! Ohne sich weiter umzuschauen, durchquerte sie alle Räume, riss Türen und Vorhänge auf, kämpfte mit den alten Fenstern, die anscheinend seit Jahren weder geöffnet noch geputzt worden waren.

Schließlich wehte eine schwache Brise durch die Wohnung, zaghaft und, wie Lea feststellte, nicht besonders wirkungsvoll. Resigniert blickte sie sich um. Sie befand sich im Esszimmer. In der Mitte stand ein ovaler Tisch, umgeben von sechs Stühlen. Und alles sah genauso aus wie in ihrer Erinnerung: Die Möbel waren unter mehreren Lagen dunkelbrauner Häkeldecken verborgen, gekrönt von bestickten, längst vergilbten Zierdeckchen. Selbst die Stühle verbargen sich unter – diesmal genähten – Überhängen, Hussen nannte man so etwas wohl. Auch sie waren braun, doch immerhin mit beigefarbenem Streifen verziert, die vor sehr langer Zeit womöglich einmal ganz freundlich gewirkt haben mochten. Lea betrachtete das Ensemble nachdenklich, dann holte sie tief Luft, hielt sich die Nase zu, kniff die Lider zusammen und zog mit einem beherzten Ruck die Decken von dem Tisch und ließ sie fallen.

Als sie es wagte, die Augen wieder zu öffnen, glaubte sie nicht, was sie sah. Im Sonnenlicht glänzte eine spiegelblanke Eibenholzplatte rötlich-golden, Staub tanzte darüber und senkte sich langsam. Lea strich mit der Hand über die Oberfläche, sie war warm und glatt, die zarte Maserung von vollendeter Schönheit. Der Tisch stand auf einer gedrechselten Mittelsäule, mit vier ausladenden Füßen, auf denen dick der Staub lag. Doch Lea erkannte sofort, dass auch sie wunderschön gearbeitet waren, elegant und fast heiter in ihrem Schwung. Dieser Tisch war ein Schmuckstück, solche Möbel hatte man in England hergestellt, Ende des 19. Jahrhunderts vermutlich. Wie war ihre Großmutter an so ein Möbelstück gekommen? Warum hatte sie es unter diesen hässlichen Decken versteckt? Und – was verbarg sich unter den anderen Decken?

Neugierig zog Lea eine der Hussen von einem Stuhl. Und wieder hielt sie den Atem an. Ein Eibenholzstuhl, passend zum Tisch, die gepolsterte Sitzfläche mit verblichenem Chintz bezogen, grün-gold gestreift. Lea zog die zweite Husse ab – das Gleiche. Schließlich türmten sich die Stoffbezüge auf dem Boden, und Lea stand fassungslos vor der schönsten Essgruppe, die sie je gesehen hatte. Sie musste ein Vermögen wert sein. Lea zweifelte keinen Moment daran, dass sie echt war. Viel verstand sie zwar nicht von Antiquitäten, aber diese Stücke waren so schön und so perfekt gearbeitet, sie mussten tatsächlich alt sein. Und sie waren wunderbar erhalten, auch wenn man bei näherer Betrachtung hier und da Gebrauchsspuren erkennen konnte.

Lea setzte sich vorsichtig auf einen der Stühle. Sie konnte kaum aufhören, über das Holz der Tischplatte zu streichen, das sich so unvergleichlich glatt anfühlte. Ihr Blick fiel auf den Geschirrschrank an der Stirnseite des Zimmers. Er passte perfekt zu der Essgruppe, allerdings musste er gründlich poliert werden, seine Oberfläche war matt.

Lea stand auf und ging ins Wohnzimmer, das durch eine breite Schiebetür mit dem Esszimmer verbunden war. Nachdem sie auch hier alle Decken von den Möbeln gezogen hatte, sah es völlig verwandelt aus. Die Sessel und das Sofa, beide eckig und schlicht, waren mit dunkelbraunem, fast schwarzem Leder bezogen, stumpf vor Staub, doch von hervorragender Qualität, dick und narbenlos. In der Mitte stand ein niedriger Tisch, erstaunlich modern und schlicht: eine Glasplatte auf einem Chromgestell, ein Bauhaus-Klassiker.

Überhaupt entpuppte sich die Einrichtung als ein verblüffender Mix aus gediegenen alten und modernen Möbeln, alle waren sie sehr geschmackvoll. Nur das Schlafzimmer der Großmutter bildete eine Ausnahme. Bett, Nachttische, Kommode und Schrank stammten eindeutig aus den 50er Jahren und wirkten so schäbig, dass der Verdacht nahelag, sie wären aus einer hastigen Nachkriegsproduktion hervorgegangen, bei der es nur darauf angekommen war, möglichst viele Menschen möglichst schnell mit preiswerten Möbeln auszustatten.

Die Küche, fand Lea, war vorsintflutlich. Solide Tischlerarbeit zwar, die Einbauschränke aus massivem Buchenholz, trotzdem wirkte alles sonderbar antiquiert, wenn auch nicht hässlich. Von dem Gasherd, der aussah, als sei er hundert Jahre alt, war das Email abgeplatzt, der Kühlschrank allerdings schien neu zu sein, wahrscheinlich war er die letzte Anschaffung der Großmutter gewesen.

Lea wanderte weiter. Im vorderen Bereich der Wohnung, direkt gegenüber der Eingangstür, befand sich noch ein Raum, der wohl als Arbeitszimmer gedient hatte. Vor dem Fenster zur Straße stand ein sehr schöner, alter Schreibtisch, auf dem in mehreren Schichten Rechnungen, Briefe, aufgerissene Umschläge und Werbeprospekte lagen, garniert mit bunten Plastikkugelschreibern, einem verrosteten Locher und einer offenen Pralinenschachtel, in der eine einsame Cognacbohne vor sich hin schimmelte. Lea fragte sich, ob sie auf Kompost stoßen würde, wenn sie begann, die einzelnen Schichten abzutragen. Sie ließ sich entmutigt in den altmodischen hölzernen Drehstuhl fallen, der vor dem Schreibtisch stand. Er war überraschend bequem. Langsam drehte sie sich in dem Stuhl und schaute sich um.

In einem altersschwachen Regal an der Wand stapelten sich Zeitungen, ungeordnete Papiere und unzählige überquellende alte Schuhkartons. Über allem lag – wie sollte es anders sein? – eine dicke Staubschicht. Neben dem Regal in einer Ecke stand ein zerschlissener Ohrensessel, auch er übersät mit Kartons und Zeitschriften, darunter lugte ein braunes Häkeldeckchen hervor. Über dem Sessel hing ein verblasster Kunstdruck, Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, der sich unter dem blinden Glas wellte.

Lea seufzte. Wie hatte sie nur hoffen können, in einer Woche wieder zu Hause zu sein? Den Gedanken, einfach eine Entrümpelungsfirma zu bestellen, konnte sie vergessen. Hier musste sie erst einmal selbst sichten. Und was die Möbel anging, die waren sogar für einen Antiquitätenhändler zu schade, obwohl Lea noch keine Idee hatte, was sie damit anfangen sollte. Für ihr kleines Häuschen in Chelsea waren sie eindeutig überdimensioniert.

Resigniert ging sie zurück ins Wohnzimmer. Nach dem Chaos im Arbeitszimmer war es hier fast gemütlich, wenn auch der Haufen staubiger Decken, die sich auf dem Fußboden türmten, nicht gerade anheimelnd wirkte. Lea schob ihn mit dem Fuß beiseite und trat an die Bücherschränke, die sich an der Wand gegenüber der Fensterfront reihten. Auch sie waren aus Eibenholz, sehr klassisch und längst nicht so schlicht, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Es war die blassgrüne Stoffbespannung hinter den Glastüren, die sie so billig aussehen ließ.

Lea öffnete eine Tür und traute ihren Augen kaum: Kästner? Tucholsky, Ringelnatz, Remarque? Verblüfft öffnete Lea die zweite Tür: Heine, Hesse, Kafka, Heinrich und Thomas Mann. Die dritte: Lessing, Goethe, Schiller, alles Gesamtausgaben. Fontane und Rilke, anscheinend ebenfalls vollständig. Hier war die gesamte Elite der deutschen Literatur versammelt – der Vorkriegsliteratur. Kein Böll, kein Grass, kein Lenz, kein Walser. Frisch und Dürrenmatt, die Lea in einer derartigen Bibliothek ebenso erwartet hätte, fehlten auch.

Voller Ehrfurcht zog Lea Kästners Fabian aus einem der Schränke und öffnete das Buch behutsam, als hätte sie Angst, es könnte in ihren Händen zerfallen. Der trockene, mürbe Duft nach altem Papier entstieg den Seiten, süß und verheißungsvoll. Lea hob das Buch an ihr Gesicht und atmete tief ein. Sie verspürte ein tiefes Glücksgefühl. Bücher waren immer ihre besten Gefährten gewesen, und wenn sie sie hier vorfand, dann war dies keine fremde Welt mehr. Und ihre Großmutter konnte so unmenschlich nicht gewesen sein, wenn sie sich mit solchen Freunden umgeben hatte.

Müßig blätterte Lea in dem Buch, bis sie auf das Vorsatzblatt stieß. Daniel Grünfeld stand da in schwungvoller Sütterlinschrift. Wahrscheinlich hatte ihre Großmutter es antiquarisch gekauft. Lea schob das Buch vorsichtig an seinen Platz zurück. Mit diesen Schätzen würde sie sich später beschäftigen.

Vorerst hatte sie anderes zu tun. Sie brauchte Müllsäcke, außerdem Möbelpolitur, Spülmittel und Wischtücher, Parkettreiniger für die Böden und einen anständigen Staubsauger. Den nämlich hatte sie nirgends entdecken können, und die spärlichen Putzutensilien, die sie in der Besenkammer neben der Küche gefunden hatte, machten keinen besonders überzeugenden Eindruck und würden als Erstes in einem Müllsack landen. Auf einer der großen Einfallstraßen in die Stadt war sie an einem Einkaufszentrum vorbeigefahren. Dort würde sie alles bekommen, was sie brauchte.

Widerwillig schloss sie die Fenster, doch es schien ihr, als hätte sich der unerfreuliche Geruch bereits etwas verflüchtigt. Oder hatte sie sich nur daran gewöhnt? Wie auch immer, sie würde ihn vertreiben!

Selbst das überhitzte Auto schreckte sie nicht, sie fuhr die Fenster hinunter, schaltete das Radio ein und startete mit quietschenden Reifen. Live Is Life spielten sie gerade, und Lea stimmte lauthals ein. Sie war aufgeregt wie ein Kind, das eine von aller Welt vergessene Puppenstube entdeckt hatte. Auch wenn sie nie damit spielen würde, sie musste ihr einfach ihren einstigen Glanz zurückschenken. Und – sie lächelte – vielleicht würde sie sogar damit spielen, eine Weile zumindest, und abends bei Kerzenschein in einem der breiten, bequemen Ledersessel Rilke-Gedichte lesen oder sich in der Mittagshitze in den Schatten der alten Weide setzen, dem Flüstern der Blätter lauschen und dem behäbigen Dahingleiten des Flusses zuschauen. Wenn sie hier schon länger blieb, um die Hinterlassenschaft ihrer Großmutter zu ordnen, dann konnte sie sich diese Zeit auch versüßen und sich ein wenig einspinnen in eine längst versunkene Welt. Und vielleicht würde sie ja sogar ihrer Großmutter begegnen? Sie musste ja anscheinend doch eine bemerkenswerte Frau gewesen sein, und Lea ärgerte sich plötzlich, dass sie das Bild, das ihr Vater von seiner Mutter gezeichnet hatte, nie in Frage gestellt hatte. Warum eigentlich nicht? Es war immer nur eine Skizze geblieben, mit groben, hasserfüllten Strichen hingehauen, da hätte sie doch misstrauisch werden müssen.

Aber nach ihrer einzigen, unglückseligen Begegnung mit der Großmutter hatte Lea nie einen zweiten Gedanken an sie verschwendet, sondern war einfach froh gewesen, sie nicht wieder sehen zu müssen.

Gegen Mitternacht sank sie erschöpft in einen der Ledersessel. Ihre einstmals weiße Bluse war grau, ihr Haar verstaubt, ihre Hände spröde, und sie spürte jeden Muskel im Leib. Aber sie fühlte sich trotz der späten Stunde hellwach und blickte sich zufrieden um. Das Zimmer leuchtete. Das Holz der Bücherschränke und der Kommode neben der Tür schimmerte, das Leder der Sitzmöbel glänzte, der Tisch und die Glasfronten der Schränke blitzten. Zwar roch es ein wenig streng nach Putzmitteln, doch durch die geöffneten Fenster drang der Duft der Sommernacht herein, kühl und erdig nach der Hitze des Tages.

Lea lehnte sich zurück und trank, viel zu gierig, einen Schluck Wein. Gegessen hatte sie irgendwann zwischendurch. Zwei Laugenbrezeln und ein Stück Camembert, hastig und nebenbei, den Käse, noch im Papier, in der einen, ein Putztuch in der anderen Hand. Morgen, überlegte sie, würde sie Bad und Küche in Angriff nehmen und anschließend einkaufen fahren, denn das Bettzeug ihrer Großmutter mochte sie nicht benutzen. Heute würde sie auf dem Ledersofa schlafen. Es war breit und bequem, und die Nacht war so lau, dass eine Strickjacke als Decke ausreichte.

Außerdem wollte sie die Gartenmöbel abwaschen. Das musste unbedingt noch geschehen, bevor sie sich dem Durcheinander im Arbeitszimmer stellte, diesem dicksten Brocken, vor dem ihr schon graute. Sich ihm zu nähern, ohne zwischendurch behagliche Rückzugsmöglichkeiten zu haben, empfand sie als Zumutung.

Das Klingeln ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Sie lief in den Flur und kramte es aus den Tiefen ihrer Handgepäcktasche, die sie achtlos beiseitegestellt hatte.

Es war Brian. Er klang besorgt und vorwurfsvoll: »Ich habe zig Mal versucht, dich zu erreichen! Wo hast du gesteckt?«

»Entschuldige, ich habe es nicht gehört. Ich war so beschäftigt.« Tatsächlich hatte sie ihre inneren Antennen vollständig eingezogen und seit ihrer Ankunft nicht mehr an Brian gedacht. Der Abschied heute Morgen – heute Morgen? – war gehetzt und frostig gewesen, Lea hatte ihm die kurzfristige Absage ihres Urlaubs noch nicht verziehen.

Brian hingegen schien ihre Auseinandersetzung längst vergessen zu haben. »Und? Wie ist es?«, fragte er munter. »Erzähl!«

»Dreckig!«, sagte Lea und ließ sich wieder in den Sessel fallen. »Und ziemlich chaotisch. Ich werde wohl einige Zeit brauchen, bis ich hier Ordnung geschaffen habe.«

»Na, siehst du«, sagte Brian, »das habe ich dir gleich gesagt. Also passt es doch gut, dass wir unseren Urlaub verschoben haben.«

»Ja«, sagte Lea. Brians Fröhlichkeit ärgerte sie. Wahrscheinlich hatte er heute nichts anderes getan, als mit seiner Mutter Tee zu trinken und seiner Schwester den Bauch zu tätscheln, während sie ein Dutzend Müllsäcke gefüllt und verstaut hatte. Warum war er nicht bei ihr?

»Und wo bist du nun?«, fragte Brian weiter. »Hast du wenigstens ein hübsches Hotel gefunden?«

»Nein«, sagte Lea. »Ich schlafe in der Wohnung.« Natürlich hatte sie sich während ihrer Anreise noch vorgestellt, ein Hotelzimmer zu nehmen, doch seit sie angekommen war, hatte sie keinen Moment mehr daran gedacht. Diese Wohnung hatte sie – mit jeder Stunde, die sie hier verbracht hatte – mehr gefangen genommen.

»Aber warum?«, fragte Brian. »Warum machst du es dir nicht wenigstens ein bisschen bequem? Die Wohnung muss doch ein schreckliches Mausoleum sein.«

»Ach«, sagte Lea, »es geht schon. Es ist praktischer so.« Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm nichts von dem inzwischen wunderschönen Wohnzimmer mit seinen blassen Tapeten und den warm leuchtenden Möbeln erzählte, von den interessanten Büchern oder dem Ufergarten unter dem üppigen Blätterdach, durch das jetzt, vertraut wie ein alter Freund, der Mond schien.

»Du klingst müde, Liebes«, sagte Brian zärtlich. »Schlaf dich erst einmal aus. Ich rufe dich morgen wieder an, einverstanden?«

»Ja«, sagte Lea. Und plötzlich war sie auch müde, furchtbar müde.

Sie zog ein frisches T-Shirt aus ihrer Reisetasche, wickelte sich in ihre dicke grüne Strickjacke und rollte sich auf dem Sofa ein, drängte sich an die weiche Lehne. Und dann schlief sie auch schon, tief und fest.

Sie erwachte früh am Morgen von Mülltonnengeschepper und dem Tuckern eines Lkws. Wie elektrisiert fuhr sie auf und stürzte aus dem Haus. »Ich habe schrecklich viel Müll, zwölf Säcke«, rief sie gegen das Dröhnen der Müllpresse an.

Einer der Müllmänner, ein junger Türke mit einem gewaltigen Schnauzbart, warf einen interessierten Blick auf ihr zerknittertes, knappes T-Shirt und ihre Shorts. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf und deutete auf den Müllwagen. »Nur für Tonnen. Musst du Watenbüttel fahren. Auf Kippe.«

Lea zog das T-Shirt enger, hob eine Hand an ihr Haar, klimperte mit den Wimpern und blickte tief in die dunklen Augen. »Watenbuttel? Ist weit?«, fragte sie mit so viel englischem Akzent, wie sich in drei Worten unterbringen ließ. Dazu lächelte sie hilflos.

Der Schnauzbart zitterte. Und dann schwenkte er einen kräftigen Arm in Richtung seines Kollegen. »Ferdi, komm! Hier ist schöne Lady in Not!«

Ferdi, kurz und stämmig, gab der Tonne, die er gerade geleert hatte, einen gekonnten Stoß, so dass sie zwischen zwei geparkten Autos bis an den Bordstein rollte und dort zum Stehen kam. Dann näherte er sich skeptisch, kratzte sich am Kopf und taxierte Lea.

»Fünf Euro?«, fragte sie unsicher.

Ferdi zwinkerte nicht einmal.

»Zehn«, sagte Lea. »Für jeden von euch.«

Ferdi nickte.

Der Schnauzbart stapfte die Stufen zur Haustür hinauf, und Lea zeigte ihnen den Holzverschlag unter der Treppe, der auch durch eine schmale, offensichtlich nachträglich eingebaute Tür von ihrem Wohnungsflur aus zugänglich war und in dem sie die Müllsäcke gestapelt hatte. Die beiden Männer griffen zu, und als Lea mit zwei Zehn-Euro-Scheinen wieder aus der Wohnung kam, schleppten sie gerade die letzten vier Säcke aus dem Verschlag.

»Nächsten Mittwoch sind wir wieder hier«, versprach Ferdi und stopfte den Schein in die Brusttasche seiner Latzhose. Er nickte Lea zu, raffte die letzten Säcke zusammen und polterte die Treppe hinab. Der Schnauzbart grinste und eilte hinterher.

Lea schloss die Wohnungstür. Der Tag hatte schon einmal gut begonnen. Sie brühte sich einen Becher Tee auf und spazierte damit in den Garten. Der Morgen war noch kühl, und lauter als das Rauschen des Verkehrs war das Vogelkonzert rings um sie her. Sie ging über den taunassen Rasen bis zu dem kleinen Treppchen, das zum Fluss hinunterführte, hockte sich auf die oberste Stufe und blickte auf das Wasser, das ruhig dahinglitt, spiegelglatt. Ob ihre Großmutter hier auch gesessen und müßig dem Treiben einzelner Blätter auf der Wasseroberfläche zugeschaut hatte? Lea konnte es sich nicht recht vorstellen. Eine Frischluftfanatikerin schien ihre Großmutter nicht gewesen zu sein. Doch was wusste sie schon über sie? Ihr Vater hatte nie über seine Eltern gesprochen, und Lea hatte nicht nach ihnen gefragt. Das verschlossene Gesicht des Vaters, sein abweisender Blick hatten sie schnell verstummen lassen. Umso überraschter war sie gewesen, als ihre Mutter damals den Besuch bei der Großmutter vorschlug, und ihr war unbehaglich zumute gewesen, weil sie gespürt hatte, dass der Vater diese Unternehmung nicht billigte. Doch seltsamerweise gab es diesmal keinen Streit zwischen den Eltern. Allerdings wurde auch nicht über diesen Nachmittag gesprochen, denn als ihre Mutter und sie nach Hause gekommen waren, hatte ihr Vater sich, wie so oft, in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, und durch die Tür war schwermütige Jazzmusik gedrungen, die Lea hasste. Sie wusste, dass ihr Vater bei diesen einsamen Konzerten zu viel trank. Wenn er in dieser Stimmung war, ging man ihm besser aus dem Weg. Denn dann wurde er melancholisch und weinerlich, was Lea, als sie klein war, noch mehr Angst eingejagt hatte als ein lauter Streit.

Sie schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerung zu vertreiben, trank ihren Tee aus und stand entschlossen auf. Bevor sie auch nur daran denken konnte, zu duschen, musste sie das Bad schrubben. Es war alles andere als einladend. Warum hatte sich ihre Großmutter, die doch recht wohlhabend gewesen sein musste, eigentlich keine Putzfrau geleistet? Das Bad machte, wie alle anderen Räume auch, den Eindruck, als sei es seit Jahren nicht gereinigt worden. Lea kämpfte mehr als einmal mit dem Brechreiz, als sie zu Werke ging. Sie brauchte zwei Stunden, bis sie zufrieden war. Die Putzlappen, die sie benutzt hatte, warf sie kurzerhand in den halbgefüllten Müllsack zu den Badutensilien ihrer Großmutter, verschnürte ihn fest und deponierte ihn in dem kleinen Verschlag unter der Treppe neben dem verrosteten Fahrrad und einem alten Einmachkessel. In der nächsten Woche würde sie ihren Freunden von der Müllabfuhr wieder ein paar Extrascheine in die Hand drücken, damit sie den Kram auch noch mitnahmen.

Zunächst aber benutzte sie das frisch geputzte Bad. Es duftete nach einer Überdosis Zitronenreiniger, und Lea hockte sich aufatmend in die hohe Wanne, die auf wuchtigen Klauenfüßen stand. Einen Duschvorhang gab es nicht, aber es musste auch so gehen. Die Brause war überraschend kräftig, und Lea genoss es, sich gründlich zu waschen.

Später setzte sie sich ins Wohnzimmer, Einkaufszettel und Stift griffbereit. Sie brauchte nicht nur eine Bettdecke und Bettwäsche, sondern auch Handtücher und ein paar Küchengerätschaften. Das Geschirr war angeschlagen und fleckig, das Besteck, so schien ihr, war Kriegsware, verbogenes Blech. Von den Kochtöpfen war das Email abgeplatzt, es konnte nicht gesund sein, darin zu kochen. Und die zwei Pfannen, die sie im Backofen gefunden hatte, würde sie ganz bestimmt nicht mehr säubern, das wäre eine Lebensaufgabe! Was war ihre Großmutter nur für eine Frau gewesen, fragte sie sich zum wiederholten Male. Es passte alles so gar nicht zusammen. Da gab es die wertvollen, alten Möbel und die bemerkenswerte Bibliothek, gepflegt und geschont, doch alle Gebrauchsgegenstände waren billig und verkommen und starrten vor Dreck.

Lea schauderte und notierte noch einmal Müllsäcke auf ihrem Zettel. Dann nahm sie Schlüssel und Portemonnaie von der Flurkommode und warf einen prüfenden Blick in den halb erblindeten Wandspiegel neben der Eingangstür. Sie fand, sie konnte sich wieder sehen lassen. Ihr blondes Haar glänzte, obwohl sie sich nicht lange mit dem Föhnen aufgehalten hatte, und fiel in lockeren Strähnen auf ihre Schultern. Im Sommer musste sie sich nie besonders anstrengen, hübsch auszusehen. Ihre Haut bräunte schnell, und aus irgendeinem Grund schienen ihre Augen dann durchsichtiger zu werden, hellblau wie der Morgenhimmel an sonnigen Tagen. Im Sommer mochte Lea sich immer. Wie einem Aquarell entsprungen, sähe sie dann aus, hatte Brian einmal gesagt und mit dem Finger über ihre schmalen Brauen gestrichen. Seine Augen waren schwarz vor Zärtlichkeit gewesen, und in diesem Moment hatte es für ihn keine schönere Frau auf der ganzen Welt gegeben als Lea. Sie lächelte. Dann streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Für Sentimentalitäten hatte sie jetzt keine Zeit. Und Brian war weit weg.