Der Genozid in Ruanda
Dieser Text basiert auf Recherchen von Alison Des Forges, Eric Gillet, Timothy Longman, Catherine Choquet, Michele Wagner, Trish Hiddleston, Kirsti Lattu und Jemera Rone
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-903-4
© 3. Aufl. 2008 by Hamburger Edition
Deutsche Erstveröffentlichung 2002 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-930908-80-0
© der Originalausgabe 1999 by Human Rights Watch
Titel der Originalausgabe: »Leave None to Tell the Story. Genocide in Rwanda«
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Herstellung: Jan Enns
Satz aus Stempel-Garamond von Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Einleitung
Der Völkermord: eine Zusammenfassung
Die Strategie der ethnischen Spaltung
Das Blutbad wird vorbereitet
Der Angriff
Ein Rekrutierungsprogramm für den Völkermord
Die Struktur
Strategien des Tötens
Die Beteiligung der Bevölkerung
Unter dem Deckmantel der Legitimität
Überlebensstrategien
Das Ende der Macht der Hutu
Die Ruandische Patriotische Front
Zahlen
Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft
Diskriminierung und Gewalt werden geduldet
Friedenserhaltung und Sparmaßnahmen
Warnungen, Informationen und Verhalten des UN-Personals
Verwirrung und Mißverständnisse
Völkermord und Krieg
Militärisches Handeln und militärische Untätigkeit
Der Völkermord wird geduldet
Ruanda horcht auf
Die Zukunft
Das Ermittlungsprojekt
Sprache, Schreibweisen und Namen
Der Kontext des Völkermordes
Die Geschichte Ruandas
Hutu, Tutsi und Twa
Die Kolonialisierung verändert das politische System
Die Bedeutungsänderung von »Hutu« und »Tutsi«
Die Hutu-Revolution
Habyarimana übernimmt die Macht
Der Einparteienstaat
Die Armee, die Kirche und akazu; Der kurze und flüchtige Wohlstand
Die Bedrohung des MRND-Blocks
Die ruandische Opposition; Der Angriff der RPF; Die Antwort der Regierung auf den Angriff; Die Konsolidierung der Opposition
Kubohoza – »befreien helfen«
Straffreiheit und Unsicherheit
Das Militär definiert »den Feind«
Propaganda und Praxis
Die Medien
Die Botschaft wird umgesetzt
Die Botschaft
»Die Einheit der Tutsi«; »Unterwanderung«; »Die Rückkehr des alten Regimes«; »Der Völkermord an den Hutu«; Der regionale Kontext; »Die Hutu als unschuldige Opfer«; »Die Tutsi sind an ihrem Unglück selbst schuld«; »Die Solidarität der Hutu«
Die Rede von Mugesera: »Laßt sie nicht bei euch einmarschieren«
Die Vernichtung in der Praxis
Das Ziel im Visier; Die Furcht nähren; Befehle zum Angriff; Die Gewalt wird verleugnet; Straflosigkeit
Die internationale Reaktion auf die Massaker
Die Internationale Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverstößen in Ruanda
Die Entscheidung für den Krieg
Wer den Frieden will, muß sich auf den Krieg vorbereiten
Waffen; Listen
Die Milizen und die »Selbstverteidigung«
Die AMASASU und Oberst Bagosora; Die Suche nach potentiellen Anführern
Der Angriff vom Februar 1993
Die Spaltung der Opposition
Die Unterstützung Frankreichs für Habyarimana
Der Preis des Krieges
Das Arusha-Abkommen
Die Gegner des Abkommens; Der Kauf von Macheten; Die Rekrutierung von Unterstützern; Rekrutierungsmaßnahmen der RPF
Die Friedenstruppen der Vereinten Nationen
Ressourcen und Mandat; Paragraph 17
Die Ermordung Melchior Ndadayes und die Gewalt in Burundi
Hutu Power
Vorboten
Chronologie
November 1993; Dezember 1993; Januar 1994; Februar 1994; März 1994; April 1994
Die Reaktion der Vereinten Nationen auf die Warnungen
Die Reaktionen der Regierungen Frankreichs, der USA und Belgiens
Ein eindringlicher Appell
Die Erneuerung des Mandats
Der Völkermord auf nationaler Ebene
April 1994: »Der Monat, der nicht enden wollte«
Der Angriff auf Habyarimanas Flugzeug
Die Übernahme der Kontrolle
Bagosora als Befehlshaber; »Die Premierministerin arbeitet nicht mehr … «; Vieldeutigkeit und Doppelzüngigkeit
Die Interimsregierung
Der Beginn des Vernichtungsfeldzugs
Die Initiatoren; Die Tutsi im Visier; Die militärische Opposition: Die Erklärung vom 12. April
Die Strategien der Vernichtung
Prioritäre Ziele; Gründliche Eliminierung: »Fangt auf einer Seite an … «; Massaker; Fluchthindernisse: Straßensperren und Patrouillen; Vergewaltigung und sexuelle Gefälligkeiten; Besonders brutale Verbrechen
Überlebensstrategien
Widerstand; Flüchten, sich verstecken und Sicherheit erkaufen
Die Organisation
Das Militär
Politiker und Milizen
Die Milizen
Die Verwaltung
Die Verbreitung der Botschaft; Die Mobilisierung der Bevölkerung; Die Umsetzung der Vorschriften
Ideelle und materielle Unterstützung
Der Klerus
Der Rundfunk – die Stimme der Kampagne
Täuschungsmanöver, Lügen und Verstellung
Die Mitwirkung der Bevölkerung
Die Ausweitung des Genozids
Die Beseitigung der Dissidenten
Anhaltende Konflikte unter den Militärs
Die Zerschlagung der Opposition in Gitarama
»Die Bevölkerung versucht nur, sich selbst zu verteidigen«
Straffere Kontrolle
Ruanda seinen »guten Namen« zurückgeben; »Die Gewalt […] sollte aufhören«; »Keine Leichen mehr auf den Straßen«; »Befriedung« als Täuschungsmanöver
»Gerechtigkeit« während des Genozids
Mitte Mai: Morde an Frauen und Kindern
»Eine Bresche für den Feind«: Konflikte unter Hutu
Politische Auseinandersetzungen; Eigentumsstreitigkeiten; »Wo soll das alles enden?«
Der Sieg der RPF
Der Völkermord auf lokaler Ebene: Gikongoro und Butare
Gikongoro
Hintergrund
Der Präfekt wird übergangen
Unterpräfekt Damien Biniga; Oberstleutnant Simba
Erste Angriffe
Die Gewalt breitet sich aus; Der Rundfunk macht gegen die Tutsi mobil
Musebeya
Der Bürgermeister widersetzt sich dem Völkermord; Simba übernimmt die Führung; Errichtung von Straßensperren; »Wir müssen sie alle auslöschen«
»Kein Wort zur Lösung des Problems«
Angriffe auf Abweichler; Nationale Behörden forcieren das Morden
Kivu: Der Verantwortung ausweichen
Die Tutsi in Musebeya werden ausgelöscht
Das Massaker in Kaduha
Die Kontrolle wird verschärft
»Befriedung« in Gikongoro; »Zivile Selbstverteidigung« in Gikongoro; Der Bürgermeister von Musebeya wird abgesetzt
Nyakizu: Die Massaker
Butare: Der Präfekt und die Präfektur
Die Gemeinde Nyakizu
Bürgermeister Ntaganzwa: Sieg durch kubohoza
Die Herrschaft wird gefestigt; Hutu Power
Die Grenze und die Burunder
Ausbildung und Waffen
Der Beginn des Völkermordes
Zusammentreiben der Tutsi, Mobilisierung der Hutu; Die ersten Morde; Nkakwa
Cyahinda
Die »Schlacht«; Verstärkung der Angreifer; Hilfsversprechen, Vergeltungsdrohungen
Die Berggipfel
Flucht
Nyakizu: Die Verwaltung des Völkermordes
Die Wiederherstellung des »normalen« Lebens
Die Sprache des Krieges; Säuberungen
»Das restliche Unterholz säubern«
Mit einer Stimme sprechen
Zustimmung von oben; Der Sicherheitsausschuß
Der Bürgermeister: Man fürchtet ihn, statt ihm zu vertrauen
Verbündete werden zu Feinden; »Gier nach Besitztümern«
Der »Feind« trifft in Nyakizu ein
Butare: »Sie sollen Platz machen und uns die Arbeit verrichten lassen«
Die Ausgangssituation
Das Militär; Die Intellektuellen; Die Miliz und die politischen Parteien; Die Burunder
Die Gewalt beginnt
Der Versuch, die Kontrolle aufrechtzuerhalten; Reaktion auf die Angriffe aus Gikongoro; Umgang mit den Vertriebenen
Präfekt Habyalimana wird abgesetzt
Hutu Power in Butare auf dem Vormarsch; Massaker in Simbi; Massaker in Kansi
Begrüßung des neuen Präfekten
Der Süden von Butare
Das Treffen vom 20. April
Butare: »Dies ist eine Vernichtungskampagne«
Systematisches Gemetzel in Butare-Stadt
Gezielte Morde an Einzelpersonen; Die Tötungswelle rollt durch die Wohnviertel; Mordanschläge an der Universität und im Krankenhaus
Kollektives Gemetzel
Butare-Stadt; Gemeinde Ngoma: Massaker in Matyazo und Kabakobwa; Andernorts in der Präfektur: Die verheerende dritte Aprilwoche
Die Lüge von der »Befriedung«
Die Massaker vom 30. April
Überlebenskampf
Suche nach Hilfe; Widerstand
Operationen mit Völkermordabsicht
Die »tatkräftige Unterstützung« des Militärs; Die Miliz und die Zündholzfabrik; Das Handeln ziviler Stellen
Butare: »Arbeiter, die für ihr Land arbeiten wollen«
»Zivile Selbstverteidigung« in Butare
Leitung und Finanzierung; Training und Waffen; Die Sicherheit geht jeden an; Straßensperren und Patrouillen: Pflicht zur Teilnahme
Sicherheitsausschüsse
Die Morde vom Mai
Schutz für Tutsi
Gewährt und verweigert; Teilweiser Schutz: Die Gruppe vor dem Präfekturgebäude
Suche nach intellektueller Unterstützung: Der Premierminister der Übergangsregierung und die Professoren
Guhumbahumba: Jagd auf die letzten noch lebenden Tutsi
Durchsuchung der Felder, Waldstücke und Täler; Razzien in Butare-Stadt
Butare: »Niemand wird vor den Unruhen sicher sein«
Hutu gegen Hutu
Persönliche und politische Konflikte; Regionaler Konflikt; Eigentum und Frauen
Kontroversen über den Völkermord
Schutz durch Einzelpersonen; Schutz durch die Gemeinschaft; Schutz aus Prinzip
Aufsässiges Militär
Recht und Ordnung
Das Handeln der Justiz; Kontrollversuche vor Ort
Internationale Kontakte
Erlaubnis, einen Ort zu verlassen
Schwindender Rückhalt für die Mordkampagne
Die letzte Jagd in Butare
Überlebende
Autorität und Verantwortung
Der Völkermord und die internationale Gemeinschaft
Der Völkermord wird ignoriert
UNAMIR
»Defensive Überlebensübung«; Das Mandat und untätige Zeugen des Völkermordes
Die Evakuierungstruppen
Keine Einheimischen; Ecole Technique Officielle: »Laßt uns nicht im Stich!«
Die Politik Belgiens
»Die Aktivitäten der UNAMIR einstellen«;
»Die Sicherheit der UNAMIR«
Die Politik der Vereinigten Staaten: »Ein neues Somalia« und andere Fehlinterpretationen
Vernebelung durch die Vereinten Nationen: »Ein Volk ist in verhängnisvolle Umstände geraten«
Der Schutz »der unschuldigen Zivilisten in Ruanda«; Die UNAMIR wird reduziert; Ein Ausnahmefall: Das Hotel Mille Collines
Der Völkermord wird zur Kenntnis genommen
Ende April: Der Völkermord wird anerkannt
Erklärung des Generalsekretärs; Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrats
Die übliche Diplomatie
UNAMIR II
Menschenrechtseinrichtungen
Waffen und Munition
»Es lebe die französisch-ruandische Zusammenarbeit«
»Ohne schmutzige Hände geht es nicht«; Hilfe für die ruandischen Streitkräfte
Französische Soldaten: eine Privatinitiative?
Opération Turquoise
Die Erklärung von Kigeme und das Ende der »Legitimität«
Die Beendigung des Völkermordes
Die Ruandische Patriotische Front
»Weder Hutu noch Tutsi noch Twa«
Die Ideologie einer nationalen Einheit; Rekrutierung von Hutu als Gefolgsleute
Das Ende des Völkermordes
Kampfhandlungen des Militärs; Ablehnung von UNAMIR II
Menschenrechtsverstöße durch die RPF vor April 1994
Massaker und sonstige Menschenrechtsverstöße der RPF von April bis Juli 1994
Massaker im Verlauf militärischer Auseinandersetzungen; Kwitaba imana und kwitaba inama: Massaker bei öffentlichen Versammlungen; Summarische und willkürliche Hinrichtungen; Summarische Hinrichtungen von Personen, die der Beteiligung am Völkermord bezichtigt wurden
Behinderung humanitärer Hilfe
Informationskontrolle
Vorwürfe gegen die RPF wegen Menschenrechtsverstößen
Die Gersony-Mission
Umfang und Schlußfolgerungen; »Der Gersony-Bericht existiert nicht«
Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft
Verantwortlichkeit innerhalb der RPF
Gerechtigkeit und Verantwortung
Der internationale Strafgerichtshof für Ruanda
Beziehungen zwischen dem internationalen Strafgerichtshof und den nationalen Gerichtsbarkeiten; Die Verwaltung des internationalen Strafgerichtshofs; Zeugenschutz; Die Anklagen; Die Ruander und der internationale Strafgerichtshof
Die Strafverfolgung des Völkermordes durch ruandische Behörden
Gesetzgebung; Inhaftierungen; Gerichtsverfahren; Entschädigungsleistungen; Die Hinrichtungen von April 1998; Geständnisse; Zustände in den Gefängnissen und in den Hafthäusern der Gemeinden; Mit Auflagen verbundene Freilassungen
Strafverfolgung im Ausland und sonstige Verfahren
Verantwortung übernehmen
Zusammenfassung
Die wichtigsten Abkürzungen
Ruandische Begriffe
Auswahlbibliographie und zitierte Artikel
Personenregister
Sachregister
Zur Autorin
»Als ich nach draußen kam, waren keine Vögel da«, berichtete ein Überlebender, der sich während des Völkermordes versteckt gehalten hatte. »Die Sonne schien, und es stank nach Tod.«
Im Juli 1994 hing über weiten Teilen von Ruanda der süßliche, ekelerregende Gestank verwesender Leichen: auf den Gipfeln von Nyanza oberhalb der Hauptstadt Kigali, wo Schädel und Knochen, zerrissene Kleidungsstücke und Papierfetzen im Gebüsch verteilt waren; in Nyamata, wo sich auf Bänken und Fußboden einer Kirche Leichname häuften; in Nyarubuye im Osten Ruandas, wo der vor den Stufen einer Kirche liegende Leichnam eines Mädchen von so vielen Fahrzeugen überrollt worden war, daß er nur noch so dünn wie ein Stück Pappe war; an den Ufern des idyllischen Kivu-Sees im Westen von Ruanda, wo man Leichenteile die Steilküste hinuntergeworfen hatte; und auch in Nyakizu in Südruanda, wo die Sonne im Sand eines Schulhofs Teile von Knochen bleichte und wo auf einem nahe gelegenen Hügel der Brustkorb eines enthaupteten Kindes lag, der nur noch von einem kleinen roten Pullover zusammengehalten wurde.
In den 13 Wochen nach dem 6. April 1994 sind bei dem Völkermord in Ruanda mindestens eine halbe Million Menschen umgekommen. Möglicherweise macht ihre Zahl sogar drei Viertel des zu den Tutsi gehörenden Bevölkerungsanteils aus. Gleichzeitig wurden aber auch Tausende Hutu niedergemetzelt, weil sie sich gegen die Mordtaten und deren Anführer stellten.
Die Geschwindigkeit und Zerstörungswut, mit der die Mörder zuschlugen, ließen auf eine Verirrung der Natur schließen. »Ein Volk ist wahnsinnig geworden«, sagten einige Beobachter, während andere »einen neuen Kreislauf ethnisch motivierter Gewalt« zu erkennen glaubten. Die rund sieben Millionen Menschen zählende Bevölkerung Ruandas setzt sich aus drei ethnischen Gruppen zusammen. Die Twa sind zu wenige, um politisch eine Rolle zu spielen, so daß Hutu und Tutsi unmittelbar miteinander konfrontiert sind. Die zahlenmäßig weitaus größere Bevölkerung der Hutu hatte die vergangenen Jahre, in denen sie unter der Unterdrückung des Tutsi-Regimes gelebt und Gefühle von Groll und Furcht gegenüber der Minderheit angestaut hatte, nicht vergessen. Die inzwischen von Hutu geführte Regierung befand sich im Krieg mit der von Tutsi dominierten Rebellengruppe Ruandische Patriotische Front (RPF). Hinzu kam, daß Ruanda – ohnehin eines der ärmsten Länder der Welt – durch Überbevölkerung und fallende Weltmarktpreise für seine Produkte immer tiefer in die Armut geriet. Dürre und Krieg hatten die Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigt, so daß 1994 schätzungsweise 800 000 Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren.
Doch der Völkermord war beileibe kein unkontrollierbarer Ausbruch der Wut eines von »althergebrachtem Stammeshaß« erfüllten Volkes. Genausowenig war er die vorhersehbare Folge durch Armut und Überbevölkerung entfesselter Kräfte.
Der Völkermord war das Ergebnis einer bewußten Entscheidung, getroffen von einer modernen Elite, die sich durch Verbreitung von Haß und Angst den Machterhalt zu sichern suchte. Diese kleine, privilegierte Gruppe brachte zunächst die Mehrheit gegen die Minderheit auf, um der zunehmenden Opposition innerhalb Ruandas Herr zu werden. Dann jedoch, angesichts der sowohl auf dem Schlachtfeld als auch am Verhandlungstisch erzielten Erfolge der RPF, änderten die Machthaber ihre Strategie der ethnischen Teilung und setzten statt dessen auf den Völkermord. Sie glaubten, ein Vernichtungsfeldzug könne die Solidarität der Hutu unter ihrer Führung wiederherstellen und ihnen dabei helfen, entweder den Krieg zu gewinnen oder zumindest ihre Chancen auf ein für sie günstiges Ergebnis der Friedensverhandlungen zu verbessern. Sie rissen die Kontrolle über den Staat an sich und bedienten sich seiner Maschinerie und seiner Autorität, um ihr Blutbad durchzuführen.
Ebenso wie die Organisatoren des Völkermordes waren auch die Täter keineswegs Dämonen oder Marionetten, die Kräften ausgesetzt waren, denen sie sich nicht entziehen konnten. Sie waren Menschen, die sich entschieden hatten, Böses zu tun. Zehntausende von Furcht, Haß oder der Hoffnung auf Profit getriebene Menschen trafen eine schnelle und leichte Wahl. Sie begannen zu töten, zu vergewaltigen, zu rauben und zu zerstören. Bis zum Schluß fielen sie immer wieder über Tutsi her – ohne Zweifel oder Reue. Viele von ihnen ließen ihre Opfer entsetzlich leiden und erfreuten sich daran.
Hunderttausende andere entschlossen sich nur zögerlich zur Beteiligung am Völkermord, einige unter Zwang oder aus Angst um ihr Leben. Anders als die Zeloten, die ihre erste Wahl niemals in Frage stellten, mußten diese Menschen immer wieder neu entscheiden, ob sie sich beteiligen wollten oder nicht, mußten ständig aufs neue abwägen, zwischen der geplanten Vorgehensweise und der Wahl des Opfers, ob ihnen eine Beteiligung Gewinn einbringen oder was es sie kosten würde, wenn sie nicht mitmachten. Daß vermeintlich legitime Behörden zu Angriffen anstachelten oder diese anordneten, machte es den Zweifelnden leichter, Verbrechen zu begehen und dennoch zu glauben oder vorzugeben, sie hätten nichts Unrechtes getan.
Die politischen Entscheidungsträger in Frankreich, Belgien und den Vereinigten Staaten wußten ebenso wie die Vereinten Nationen von den Vorbereitungen für ein gewaltiges Blutbad, unterließen jedoch die zu seiner Verhütung notwendigen Maßnahmen. Von Anfang an war ihnen bewußt, daß die Vernichtung der Tutsi geplant war, doch die führenden ausländischen Politiker wollten nicht einräumen, daß es sich um einen Völkermord handelte. Um die Anführer und ihre Zeloten aufzuhalten, hätte es einer militärischen Intervention bedurft, wofür in der Anfangsphase bereits eine relativ kleine Truppe ausgereicht hätte. Doch die internationale politische Führung wollte nicht nur dieser Marschrichtung nicht folgen, sie lehnte es auch wochenlang ab, ihre politische und moralische Autorität zu nutzen, um die Legitimität der für den Völkermord verantwortlichen Regierung in Frage zu stellen. Sie weigerte sich zu erklären, daß eine Regierung, die sich der Ausrottung ihrer Bürger schuldig gemacht hat, niemals internationale Unterstützung erhalten würde. Sie tat rein gar nichts, um den Radiosender zum Schweigen zu bringen, der Aufrufe zum Mord ausstrahlte. Und doch hätten schon derart einfache Maßnahmen ausgereicht, um die starke Stellung von Behörden, die sich dem Massenmord gefügt hatten, zu untergraben und die Ruander zum Widerstand gegen den Vernichtungsfeldzug zu ermutigen.
Als die internationale politische Führung schließlich ihre Mißbilligung laut werden ließ, vernahmen dies die für den Völkermord verantwortlichen Behörden sehr wohl. Zwar ließen sie nicht von ihrem Ziel ab, änderten aber gleichwohl ihre Taktik. Dieser kleine Erfolg macht jedoch die eigentliche Tragödie um so deutlicher. Denn wenn ein derart zaghafter Protest Ende April eine solche Wirkung erzielte, was wäre erst das Resultat gewesen, hätte die ganze Welt bereits Mitte April ihre Stimme erhoben und »Nie wieder« gerufen?
Die vorliegende und in der Einführung zusammengefaßte Studie schildert im Detail, wie der mörderische Feldzug ausgeführt wurde. Sie verbindet mündliche Aussagen und ausführliche schriftliche Dokumentationen. Die Studie umfaßt Interviews mit Menschen, deren Vernichtung geplant war, die jedoch überleben konnten, mit Personen, die selbst getötet oder Morde angeordnet haben, mit Menschen, die andere tatsächlich gerettet oder es zumindest versucht haben, sowie mit jenen, die das Morden mit angesehen haben und versuchten, davor die Augen zu verschließen. Der vorliegende Bericht enthält ferner Protokolle örtlicher Zusammenkünfte, bei denen Operationen gegen die Tutsi geplant wurden, sowie den Schriftverkehr von Verwaltungsbeamten, die ihren Untergebenen Glückwünsche für die erfolgreiche Vernichtung »des Feindes« aussprachen. Er analysiert ferner die verschiedenen Sprachebenen und das Verschweigen von Tatsachen, mittels deren man bei Radiosendungen oder öffentlichen Zusammenkünften die Menschen über den tatsächlichen Verlauf des Völkermordes hinwegtäuschte. Der Bericht stellt den Völkermord in einen unmittelbaren politischen Kontext und zeigt auf, wie kommunale oder nationale Rivalitäten unter den Hutu den Verlauf der Vernichtungskampagne gegen die Tutsi beeinflußt haben. Des weiteren geht er taktischen Veränderungen bei der Organisation des Feldzuges nach und schildert dessen Zusammenbruch nach dem Sieg der RPF über die Regierung.
Die vorliegende Dokumentation stützt sich auf zahlreiche Quellen, darunter bislang unveröffentlichte Aussagen und Dokumente von Diplomaten und Mitarbeitern der Vereinten Nationen, die belegen, wie die internationalen Akteure dabei versagt haben, den Völkermord zu verhindern oder zu beenden. Sie stellt ferner einen Zusammenhang her zwischen der Untätigkeit auf internationaler Ebene und der Ausweitung des Völkermordes und zeigt auf, daß die schließlich doch noch laut gewordenen internationalen Proteste selbst bei örtlichen Zusammenkünften und in abgelegenen Gebieten Ruandas Thema von Debatten waren. Damit wird belegt, daß die internationale Gemeinschaft, trotz ihrer Bemühungen, sich aus dem Geschehen herauszuhalten, in gewisser Weise Anteil am Völkermord in Ruanda hatte.
Als die RPF am 1. Oktober 1990 von Uganda aus nach Ruanda eindrang, verlor der seit nahezu zwei Jahrzehnten regierende Präsident Juvénal Habyarimana an Popularität bei den Ruandern. Obwohl es die erklärte Absicht der RPF war, ihn aus dem Amt zu entfernen und die Rückkehr Hunderttausender ruandischer Flüchtlinge zu ermöglichen, die seit einer Generation im Exil gelebt hatten, sah der Präsident die Rebellen zunächst nicht als ernsthafte Bedrohung an. Dennoch entschieden er und ihm nahestehende Kabinettsmitglieder, die Bedrohung durch die RPF hochzuspielen, um auf diese Weise dissidente Hutu wieder auf ihre Seite zu ziehen. Gleichzeitig erklärten sie die Tutsi unter den Ruandern zu Kollaborateuren mit der RPF. Die folgenden dreieinhalb Jahre arbeitete diese Elite daran, die Bevölkerung zu spalten in gegenüber dem Präsidenten loyale »Ruander« und »ibyitso« oder »Komplizen des Feindes«, womit Angehörige der Tutsi-Minderheit oder der Hutu-Opposition gemeint waren.
In dem Bemühen, unter den Hutu Gefühle von Haß und Furcht gegenüber den Tutsi zu säen, setzte der Kreis um Habyarimana auf die Erinnerung der Bevölkerung an die einstige Herrschaft der Minderheit und an das Erbe der Revolution von 1959, die das Tutsi-Regime gestürzt und viele von ihnen ins Exil getrieben hatte. Es war nicht schwer auszumachen, wer zu den Tutsi gehörte: Per Gesetz müssen sich sämtliche Ruander entsprechend ihrer Volkszugehörigkeit registrieren lassen. Auf dem Lande – nur wenige Ruander wohnen in Städten – wußte man ohnehin im allgemeinen, wer Tutsi war. Hinzu kam, daß man viele Tutsi schon an ihrer körperlichen Erscheinung als solche erkennen konnte.
Allerdings war es kein leichtes Unterfangen, die Bindungen zwischen Hutu und Tutsi zu zerstören. Jahrhundertelang hatten sie dieselbe Sprache gesprochen, sie besaßen eine gemeinsame Geschichte und Kultur und teilten dieselben Ideen. Sie lebten als Nachbarn, besuchten dieselben Schulen und Kirchen, arbeiteten in denselben Büros und tranken in denselben Bars. Eine beträchtliche Zahl von Ruandern entsprang darüber hinaus Mischehen zwischen Hutu und Tutsi. Um also die ethnische Identität zum vorherrschenden Thema zu machen, mußten Habyarimana und seine Anhänger die Unterschiede innerhalb der breiten Masse der Hutu beseitigen oder zumindest verringern, insbesondere die zwischen den Bewohnern des Nordwestens und der übrigen Landesteile, zwischen Anhängern unterschiedlicher politischer Lager und zwischen Armen und Reichen.
Von Anfang an waren die Machthaber darauf vorbereitet, ihre Ziele mit Hilfe tätlicher Angriffe und Beschimpfungen zu erreichen. Mitte Oktober 1990 und fünf weitere Male bis 1994 ordneten sie Massaker an, denen Hunderte Tutsi zum Opfer fielen. Bisweilen töteten die Anhänger von Habyarimana auch politische Gegner unter den Hutu, ihr erklärtes ideologisches Ziel blieb jedoch der Mord an Tutsi.
Als Habyarimana 1991 das Machtmonopol seiner Partei aufgeben mußte, bildeten sich rasch rivalisierende Parteien, die um die Unterstützung der Bevölkerung wetteiferten. Mehrere von ihnen gründeten Jugendorganisationen, deren Mitglieder bereitstanden, um für die Interessen ihrer Parteigenossen zu kämpfen. Von Anfang 1992 an ließ Habyarimana die Jugend seiner Partei militärisch ausbilden, um sie dann in eine unter dem Namen Interahamwe (Die zusammenstehen oder Die zusammen angreifen) bekannte Miliz zu übernehmen. Massaker der Interahamwe an Tutsi sowie andere Verbrechen der Miliz blieben ebenso ungesühnt wie Übergriffe anderer Gruppierungen. So entstand der Eindruck, es sei »normal«, zur Erreichung politischer Ziele Gewalt einzusetzen.
Bis Ende 1992 konnten Habyarimana und seine Gruppe mit Angriffen, bösartiger Propaganda und ständigen politischen Manövern die Gräben zwischen Hutu und Tutsi beträchtlich vertiefen. Nachdem jedoch die RPF 1993 bedeutende militärische Erfolge hatte verzeichnen und eine für sie vorteilhafte Friedensvereinbarung treffen können, nach der Staatsvertreter – und dazu zählte auch der Präsident – für Übergriffe der Vergangenheit strafrechtlich verfolgt werden konnten, sahen sich Präsident Habyarimana und seine Anhänger mit einem drohenden Machtverlust konfrontiert. Auch weite Teile der Hutu, selbst wenn sie sich zuvor nicht für Habyarimana eingesetzt hatten, zeigten sich zunehmend besorgt angesichts der Ambitionen der RPF. Diese Befürchtungen machte sich der neue Sender Radio Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) ebenso zunutze wie eine parteienübergreifende Bewegung namens Hutu Power, welche die seit drei Jahren von Habyarimana verfochtene ethnische Solidarität unter den Hutu verkörperte. Ende Oktober 1993 nahmen im benachbarten Burundi Soldaten der Tutsi den erst wenige Monate zuvor in freien und fairen Wahlen gewählten Hutu-Präsidenten gefangen und ermordeten ihn. Der Mord löste Massaker aus, bei denen Zehntausende Burunder – sowohl Hutu als auch Tutsi – den Tod fanden. Das Verbrechen, das von RTLM massiv für politische Zwecke ausgebeutet wurde, bestätigte die Befürchtungen vieler ruandischer Hutu, daß die Tutsi niemals die Macht mit ihnen teilen würden, und verschaffte der Bewegung Hutu Power beträchtlichen Zulauf.
In der Zwischenzeit traf der Kreis um Habyarimana logistische und organisatorische Vorbereitungen für den Angriff auf die Minderheit der Tutsi. Im Verlauf des Jahres 1993 erweiterten einige Loyalisten aus der Partei Habyarimanas die Rekrutierungs- und Ausbildungsprogramme der Interahamwe. Andere, die möglicherweise Belastungen der Miliz durch rivalisierende Parteigenossen befürchteten, schlugen die Bildung einer »zivilen Selbstverteidigungstruppe« vor, für die weniger auf Parteiebene, sondern eher auf dem Verwaltungswege junge Männer rekrutiert werden sollten. Diese Rekruten sollten von ehemaligen Soldaten oder Ortspolizisten ausgebildet werden, die sie bei Einsätzen gegen den »Feind« in ihren Gemeinden anleiten sollten. Anfang 1993 entwarf Hauptmann Théoneste Bagosora in seinem Terminkalender erste Elemente eines solchen Programms, während der Intellektuelle Ferdinand Nahimana in einem Brief an Freunde und Kollegen gleichfalls die Bildung einer derartigen Truppe befürwortete und Verwaltungsbeamte darangingen, Listen mit den Namen ehemaliger Soldaten, die solche Truppen anführen könnten, aufzustellen. 1993 und Anfang 1994 gaben Soldaten und politische Führer Schußwaffen an Milizen und andere Anhänger Habyarimanas aus, doch Bagosora und andere kamen zu dem Schluß, es sei zu kostspielig, an alle Beteiligten der »zivilen Selbstverteidigungstruppe« Schußwaffen zu verteilen. Statt dessen schlugen sie vor, die jungen Männer mit Macheten und ähnlichen Waffen auszustatten. Habyarimana nahestehende Geschäftsleute importierten daraufhin eine große Zahl von Macheten, genug, um jeden dritten erwachsenen männlichen Hutu zu bewaffnen.
Die RPF erhielt Kenntnis von diesen Vorbereitungen und ahnte den kommenden Konflikt. Auch sie rekrutierte weitere Anhänger und Truppenangehörige und verstieß gegen das Friedensabkommen, indem sie die Zahl der Soldaten und Schußwaffen in Kigali erhöhte. Die RPF erkannte die Gefahr, die neuerliche Kampfhandlungen für die Tutsi darstellen würden, insbesondere für jene, die sich in den vergangenen Monaten öffentlich als Anhänger der RPF zu erkennen gegeben hatten, und leiteten entsprechende Warnungen auch an ausländische Beobachter weiter.
Von Ende März 1994 an waren die Führer von Hutu Power entschlossen, Tutsi und habyarimanafeindliche Hutu in einem großangelegten Blutbad niederzumetzeln, um sich der »Komplizen« zu entledigen und die Friedensvereinbarung zunichte zu machen. Sowohl in der Hauptstadt Kigali als auch in entlegenen Gebieten wie Cyangugu im Südwesten Ruandas, in Gisenyi im Nordwesten und in Murambi im Nordosten standen Soldaten und Milizen bereit, um die anvisierten Opfer anzugreifen. In anderen Landesteilen waren die Vorbereitungen dagegen noch nicht abgeschlossen. In der Landesmitte war die Doktrin von Hutu Power erfolgreich verbreitet worden, doch herrschte Unsicherheit darüber, wie viele der gewöhnlichen Menschen die Ideologie auch tatkräftig umsetzen würden. In anderen Landesteilen, beispielsweise im Süden Ruandas, hatte Hutu Power nicht genügend Anhänger für ihre Idee gewinnen, geschweige denn organisieren können, um sie in die Tat umzusetzen.
Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug mit Präsident Habyarimana an Bord durch Raketen zum Absturz gebracht. Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen sind niemals identifiziert worden. Eine kleine Gruppe seiner engsten Verbündeten – es ist ungewiß, ob sie an dem Anschlag auf den Präsidenten beteiligt waren oder nicht – entschied, die geplante Vernichtungsaktion durchzuführen. Mit Rückendeckung der Milizen ermordeten Angehörige der Präsidentengarde und anderer Truppenteile unter Hauptmann Bagosora Regierungsvertreter der Hutu und die Anführer der politischen Opposition und schufen auf diese Weise ein Vakuum, in dem Bagosora und seine Anhänger die Kontrolle übernehmen konnten. Gleichzeitig begannen Soldaten und Milizionäre mit dem systematischen Mord an den Tutsi. Innerhalb weniger Stunden entsandten, weitab von der Hauptstadt, Militäroffiziere und Verwaltungsbeamte Soldaten und Milizionäre in die Umgebung, um Tutsi und die politischen Führer der Hutu zu ermorden. Nach monatelangen Warnungen, Gerüchten und ersten Angriffen versetzten die Gewaltakte Ruander und Ausländer gleichermaßen in Panik. Die Schnelligkeit, mit der die ersten Morde verübt worden waren, vermittelte den Eindruck, man habe es mit einer großen Zahl von Angreifern zu tun. Tatsächlich war ihre Wirkung aber wohl eher auf ihre Umbarmherzigkeit und ihr organisiertes Vorgehen zurückzuführen als auf ihre große Zahl.
Der Völkermord war keine Todesmaschinerie, die sich unaufhaltsam vorwärts bewegte, sondern eher ein Feldzug, dessen Teilnehmer im Laufe der Zeit mit Hilfe von Drohungen und Anreizen rekrutiert wurden. Zu den ersten Organisatoren zählten Militäroffiziere und Verwaltungsbeamte, Politiker, Geschäftsleute sowie andere Personen, die keine offiziellen Ämter innehatten. Um den Völkermord durchführen zu können, mußten sie sich des Staates bemächtigen. Das hieß nicht nur, Personen ihrer Wahl an die Spitze der Regierung zu bringen, sondern auch, sich in allen anderen Bereichen des Systems der Zusammenarbeit von Beamten zu versichern.
Zunächst bemühten sich Bagosora und sein Umfeld um die Rückendekkung oder zumindest das Einverständnis der Mehrheit der Militärführung. Während noch unter ihrem Kommando stehende Truppen in den Straßen Ruandas Zivilisten ermordeten, begannen sie bereits mit den Verhandlungen um militärische Unterstützung. Bagosoras erster Vorschlag, selbst die Macht zu übernehmen, wurde sowohl von mehreren einflußreichen Offizieren als auch vom führenden Vertreter der Vereinten Nationen in Ruanda zurückgewiesen. Seinen nächsten Schritt, ein Regime aus Extremisten zu bilden und als angeblich legitime Regierung einzusetzen, akzeptierten dagegen sowohl die Soldaten als auch der UN-Vertreter und die internationale Gemeinschaft. Einen Tag nach Habyarimanas Tod nahm die RPF den bewaffneten Kampf gegen die Regierungstruppen wieder auf und reagierte so auf anhaltende Angriffe der ruandischen Armee auf Zivilpersonen und das Hauptquartier der RPF. Das erneute Aufflammen des Krieges und der darauf folgende Druck, sich solidarisch zu zeigen, erschwerte es den Offizieren, die Bagosora ablehnend gegenüberstanden, sich seinem Vorgehen zu widersetzen.
Bei der Konsolidierung ihrer Kontrolle über die Militärführung kamen der neuen Führung in Ruanda die ersten nur zögerlichen Reaktionen der internationalen Gemeinschaft beträchtlich zugute. Nur wenige Stunden lang versuchten die UN-Truppen, die sich auf der Grundlage des Friedensabkommens in Ruanda aufhielten, den Frieden aufrechtzuerhalten, dann zogen sie sich – auf Anordnung ihrer Vorgesetzten in New York – von ihren Posten zurück und lieferten die örtliche Bevölkerung der Gnade ihrer Angreifer aus. Bagosorafeindlichen Offizieren war klar, daß für eine Begrenzung des Vernichtungsfeldzuges eine Fortdauer der ausländischen Präsenz von grundlegender Bedeutung war. Sie appellierten an die Vertreter Frankreichs, Belgiens und der USA, Ruanda nicht zu verlassen. Doch in Erwartung der drohenden Greuel hatten die Ausländer ihre Koffer schon gepackt. Eine erfahrene und gutausgerüstete Truppe französischer, belgischer und italienischer Soldaten eilte schnellstens herbei, um alle Ausländer zu evakuieren, und verließ das Land gleich darauf wieder. In das Gebiet entsandte Soldaten der US-Marineinfanterie blieben gleich in Burundi, als deutlich wurde, daß die US-Bürger auch ohne ihre Hilfe aus Ruanda würden evakuiert werden können. Der erste Eindruck, daß die internationale Gemeinschaft dem Schicksal der Ruander gleichgültig gegenüberstehe, bestätigte sich kurz darauf, als die Belgier erste Vorkehrungen dafür trafen, ihre Kontingente aus den UN-Friedenstruppen abzuziehen. Zuvor waren zehn ihrer Soldaten, die nicht an der Evakuierungsaktion teilgenommen hatten, ermordet worden. Ganz wie die Organisatoren der Gewaltakte dies vorausgesehen hatten, wollte die belgische Regierung das Risiko weiterer Opfer nicht eingehen.
Vor dem Hintergrund der Billigung des ruandischen Militärs und der Flucht der Ausländer gingen Bagosora und seine Verbündeten nun daran, auch Verwaltungsbeamte und politische Führer in ihre Mordkampagne einzubinden. Sie erwarteten und erhielten Unterstützung von Politikern, Präfekten und Bürgermeistern, die Habyarimanas Partei angehörten. Doch um ihren mörderischen Feldzug noch auszuweiten, benötigten Bagosora und seine Leute auch die Unterstützung von Verwaltungsbeamten und örtlichen Führern der anderen Parteien, die in Zentral- und Südruanda den stärksten Rückhalt hatten. Die Anhänger dieser Parteien, die in den ersten Tagen wie gelähmt mit angesehen hatten, wie ihre Kollegen unter den Hutu ermordet worden waren, waren inzwischen bereit, Soldaten und Milizen Widerstand zu leisten, von denen sie annahmen, sie kämpften nur für die Wiederherstellung der alleinigen Kontrolle durch die Partei von Habyarimana. Die neuen Machthaber jedoch beeilten sich, diese Bedenken zu zerstreuen. So beriefen sie für den 11. April ein Treffen der Präfekten ein und ließen am 12. April über den Rundfunk Appelle des Verteidigungsministers und einflußreicher Politiker ausstrahlen, die für die Einheit der Hutu warben und betonten, Parteiinteressen müßten zurückstehen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die Tutsi.
Am 15. April wurde deutlich, daß der UN-Sicherheitsrat den Friedenstruppen nicht nur keine Anweisung geben würde, der Gewalt nach Möglichkeit Einhalt zu gebieten, sondern sogar einen vollständigen Rückzug aus Ruanda in Betracht zog. Bis dahin hatten die Organisatoren des Völkermordes ihre Reihen beträchtlich gefüllt und waren nun stark genug, ihre Gegner aus dem Weg zu räumen und die Einwilligung in den Vernichtungsfeldzug durchzusetzen. Am 16. und 17. April lösten sie den Militärstabschef ab sowie jene Präfekte, von denen bekannt war, daß sie sich dem Morden widersetzen würden. Ein Präfekt wurde später in Haft genommen und hingerichtet, der andere zusammen mit seiner Familie ermordet. Drei Bürgermeister sowie mehrere andere Funktionsträger, die versucht hatten, das Gemetzel zu beenden, wurden ebenfalls getötet, entweder Mitte April oder kurz darauf. Die Anführer des Völkermordes beriefen in der Mitte und im Süden Ruandas Versammlungen ein, um noch zaudernde örtliche Verwaltungsbeamte unter Druck zu setzen, mit ihnen zu kollaborieren. Gleichzeitig zogen sie ihre Mörder aus Gegenden ab, in denen das Blutbad in vollem Gange war, und schickten sie in Gemeinden in der Mitte und im Süden Ruandas, wo die Bewohner ihre Beteiligung an dem Morden verweigert hatten. Außerdem bedienten sie sich des Rundfunks, um Verwaltungsbeamte und örtliche Politiker, die zur Besonnenheit aufgerufen hatten, zu verspotten und zu bedrohen.