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Tropen

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Originalausgabe

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München unter Verwendung eines Fotos von Haralður Jónassan

Foto von Jón Gnarr (S. 1) © Hördur Sveinsson

Alle Abbildungen im Innenteil stammen vom Autor.

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50386-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10566-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Jón Gnarr hat dem Bürgermeisteramt echte Menschlichkeit verliehen mit seiner wunderbar radikalen Komik und alle Stagnation durch explosiven Humor aufgelöst. Seine Beste Partei ist den Finanzjongleuren mit umsichtiger Haushaltsführung zu Leibe gerückt und hat die Politik von korrupten Machtspielchen befreit. Alles in allem: Die Beste Partei hat Island verändert!

Björk

DIE ZUKUNFT

Es gibt immer wieder Leute, die die Zukunft voraussehen können. Nostradamus zum Beispiel konnte das. Und ich. Wir sind wahrscheinlich die einzigen Männer der Geschichte, die das von sich behaupten können, oder zumindest die einzigen beiden, die sich darüber geäußert haben. Vor Kurzem war ich im Ausland unterwegs und fühlte mich plötzlich bemüßigt, ein Schwimmbad zu besuchen. Ich fuhr also in eine Art Wellness-Resort, in dem ich eigentlich eines erwartet hätte, aber Fehlanzeige. Stattdessen gab es nur ein paar Hotpots, und die waren noch nicht einmal sonderlich heiß. Immerhin blubberte darin so eine Sprudelanlage, also gab ich der Sache eine Chance. Außer mir war nur noch ein anderer Badegast anwesend, ein alter Mann. Ich nickte ihm kurz zu, während ich ins Wasser stieg, dann schloss ich die Augen und ließ das Luftblasengeblubber allen Stress aus meinem Körper spülen. Auf einmal sprach mich der Alte an: »What do you think the future of Iceland will be like?« Ich war sprachlos. »I am from Iceland«, sagte ich schließlich. Er schwieg und ließ die Augenlider wieder sinken. Wusste er, dass ich Isländer bin? Und wenn ja, wie konnte er das wissen? Erst als wir uns auf dem Parkplatz voneinander verabschiedeten, entdeckte ich, dass er ein Sonderheft der Frankfurter Rundschau – das, in dem das Interview mit mir abgedruckt war – in seiner Sporttasche hatte. Der Mann war Knut Finkelstein, ein Zukunftsforscher aus Frankfurt am Main, der von diesem Interview fasziniert war und sich, wie derzeit offenbar viele Frankfurter Zeitungsleser, große Sorgen um die Zukunft unseres Landes machte. Aber natürlich unterhalte ich mich auf meinen Auslandsreisen auch oft mit Kindern und Jugendlichen. Auch die scheinen sich alle brennend für Island zu interessieren, auch die haben alle das Interview in der Rundschau gelesen und wollen alles Mögliche über die Beste Partei wissen. Ich bin immer ganz gerührt, wenn ich von diesen jungen Leuten umringt bin, die sich von allem, was um sie herum passiert, noch so vom Hocker reißen lassen. Neulich besuchte ich ein kleines Dorf draußen auf dem Land. Dort traf ich einen Touristen, der mir stolz berichtete, wie er einmal auf einer Urlaubsreise durch die Vereinigten Staaten isländisches Lammfleisch gegessen hätte. Was mich natürlich freute zu hören. Zufällig hatte ich eine große Flasche Cocktailsoße im Gepäck, die ich ihm zum Abschied in die Hand drückte. »Next time you have Icelandic lamb, dip it in this!«

Irgendwann wird es nur noch Elektroautos geben. Und Batterien, die um ein Vielfaches länger halten als heute. Und von selbst leuchtende Christbaumkugeln. Die Verantwortlichen denken nie weit genug voraus. Das ist nicht gut. Wir lassen uns willenlos treiben, driften vor uns hin wie jemand, der an einem Wetterballon hängt, den er nicht mehr steuern kann. Die Leute gucken ihm mitleidig hinterher und schütteln verständnislos den Kopf. Genau wie die, die hier im Land das Sagen haben. Die Autoritäten haben versäumt, in puncto Zukunftsplanung einen klaren Kurs einzuschlagen, mit dem alle leben können. Im Grunde scheren sie sich keinen Deut um die Zukunft, weil sie sie nämlich für vollkommen irrelevant halten. Bisher hat noch kein einziger Parlamentarier den Mut gehabt, offen und ehrlich wichtige Zukunftsfragen anzusprechen. Keine andere Partei betrachtet diesen programmatischen Blick in die Zukunft als einen ihrer Werte. Wir schon! Wir könnten durchaus einer rosigen Zukunft entgegensehen – vorausgesetzt, dass die Leute uns wählen. Wenn nicht, befürchte ich, wird es zappenduster. Die Stimmung wird bald ganz im Keller sein. Alles wird privatisiert, und gleichzeitig hat der Staat überall den Daumen drauf. Bier wird wieder illegal, genau wie schwul sein oder Auto fahren. Die EU wird uns mit Haut und Haar verschlingen und uns zwingen, allem zu entsagen, was uns lieb und teuer ist – wie etwa vergorene Hammelhoden und geräuchertes Lammfleisch. Wenn wir uns widersetzen, stört das keinen. Aber Brüssel wird Soldaten nach Island schicken, die jeden, der gegen die EU-Vorschriften verstößt, auf der Stelle erschießen. Man wird die Leute aus ihren Häusern zerren und mitten auf der Straße abknallen – bloß, weil sie vielleicht ihr Essen zu stark gesalzen oder sich eine Prise Schnupftabak genehmigt haben. Der Neoliberalismus wird mit Pomp und Pracht seinen Einzug halten, und über kurz oder lang steht alles zum Verkauf: eine Gesellschaft, irgendwo zwischen Wirtschaftsliberalismus und staatlicher Gängelung. Schließlich werden die Leute sogar ihre eigenen Organe zu Geld machen, um sich ein Minimum an Luxus leisten zu können. Was hat man davon, wenn man erst eine Niere verkaufen muss, um seinen Geburtstag feiern zu können? Nichts. Und alle tragen die gleichen Klamotten. Neulich träumte ich von der Zukunft. Ich saß mit irgendwelchen hohen Politikern in einer Versammlung. Die wichtigsten isländischen Minister waren da, aber auch Hitler, Mahatma Gandhi und Chuck Norris, und es hieß, diese Leute sollten ab jetzt unser Land regieren. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr, nur, dass ich auf einmal übernatürliche Kräfte besaß, so wie in Matrix, und durch Wände gehen konnte. In einem anderen Traum sah ich zu, wie in der Innenstadt, mitten auf dem Austurvöllur, Kinder geopfert wurden, um die Kapitaleigner milde zu stimmen. Und alle alteingesessenen Politiker kamen, um sich am Blut der Kinder schadlos zu halten. Die Premierministerin schlürfte so gierig, dass ihr das Blut aus den Mundwinkeln rann und in ihrer Bluse versickerte, der Finanzminister nagte an einem Menschenknochen, und Idi Amin leistete den beiden Gesellschaft. Und die Umstehenden weinten. Das ist ein düsteres Zukunftsszenario. Wollen wir eine solche Zukunft für unsere Kinder? Wollen wir, dass sie mit Haut und Haaren aufgefressen werden? Die Beste Partei will das jedenfalls nicht. Wir haben eine Verabredung mit der Zukunft, gehen ihr entgegen wie einem neuen Freund, erst zögernd und schüchtern, dann zunehmend aufgeschlossen und erwartungsvoll. In der Gesellschaft der Zukunft, so wie wir sie sehen, sind alle froh und zufrieden, benutzen die kostenlosen Busse und Schwimmbäder und unterhalten sich dabei darüber, warum die Beste Partei so gut ist. Krankheiten, Kummer und Schmerz gehören der Vergangenheit an. Man stirbt auch nicht mehr, sondern lebt immer weiter, und wenn man Geld braucht, geht man einfach in die nächste Bank und lässt sich welches drucken – unentgeltlich natürlich. Wobei Geld sowieso nur noch zur Dekoration oder als Spielzeug dient. Denn wenn wir unser Konzept tatsächlich irgendwann umsetzen können, dann gibt es sowieso alles umsonst. Dürfen wir dich zu einem Date mit dieser rosigen Zukunft einladen? Dann mach dein Kreuz bei der Besten Partei.

Jón Gnarr am 12. Januar 2010 auf der Homepage der Besten Partei (bestiflokkurinn.is)

WORAN ICH GLAUBE, IN DER POLITIK

Theorien sind eine clevere Sache. In der Politik gibt es eine Menge Theorien, die durchaus Sinn machen: der Sozialismus beispielsweise, inklusive Klassenlosigkeit, Gleichberechtigung und Brüderlichkeit. Oder der Liberalismus, der jedem Einzelnen den Spielraum geben will, den er braucht, um sich frei zu entfalten. Auch in Bildung und Kultur gibt es kluge Anschauungen. Und in den Religionen. Aber leider gibt es etwas, wogegen keine dieser hervorragenden Theorien gefeit ist: die menschlichen Schwächen. Unreife gehört dazu. Egoismus. Habgier. Ganz gleich, welcher Ideologie du anhängst, früher oder später kommen dir Habgier und Egoismus in die Quere, und zwar bevorzugt da, wo es um menschliche Begegnungen geht. Ob in Partnerschaft und Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz. Überall dort, wo Menschen versuchen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, kann schon ein Einzelner alles zum Einsturz bringen. Wir kennen das aus Mehrfamilienhäusern. Sobald nur einer aus der Reihe tanzt, läuft die Sache aus dem Ruder. In solchen Häusern gibt es meist irgendein Regelwerk, das die gemeinsame Nutzung von Wasch- und Trockenräumen koordiniert. Solange alle die Spielregeln befolgen, funktioniert das wunderbar. Aber leider gibt es immer jemanden, der offenbar nicht dazu in der Lage ist. Wer kennt sie nicht, die Nachbarn, die ihre Wäsche tagelang in der Waschküche hängen lassen? So was bringt das ganze System ins Wanken. Wenn sich dagegen alle ein bisschen bemühen, brauchen wir keine Regeln.

Ich habe die Menschen schon immer in zwei Kategorien eingeteilt: in die Gebenden, Großzügigen, die Verantwortung übernehmen und weder weltlichen noch geistigen Müll hinterlassen. Und dann die anderen, die nie etwas hergeben, weil sie es aus irgendeinem Grund nicht können oder wollen, vielleicht weil sie finden, dass die anderen ihnen etwas schuldig sind. Sie sind immer schnell dabei, fremde Hilfe anzunehmen, kommen aber nie auf die Idee, anderen Hilfe anzubieten. Geistige Blutsauger nennt man so was.

Nachdem ich dieses Problem schon mein ganzes Leben mit mir herumschleppe, bin ich inzwischen ziemlich routiniert darin, die Menschen in »gebend« und »nehmend« einzuteilen. Mir geht es gut, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die mir etwas mitgeben, nicht zuletzt Lebensfreude. Besonders dankbar bin ich für Leute, die mich überraschen. Die etwas Schönes, Lustiges oder Verblüffendes aus dem Hut zaubern, ohne eine bestimmte Gegenleistung zu erwarten. Die einfach etwas verschenken – worauf ich versuche, dasselbe zu tun.

Ich bin Anarchist – aber glaube ich deswegen ernsthaft, dass sich der Traum von der idealen Gesellschaft, in der jeder auf jeden Rücksicht nimmt und jeder die Rechte des anderen respektiert, real verwirklichen lässt? Eine Gesellschaft, in der man keine Regeln braucht, weil alle so gut und reif und intelligent sind? Nein, daran glaube ich nicht. Deshalb habe ich es mir in puncto Demokratie und Politik bisher auch eher in der passiven Haltung bequem gemacht. Die Beste Partei ist ein erster Versuch einer positiven Einmischung. Wie oft ist eine neue politische Bewegung, die auf einer wirklich guten Grundidee basierte, schon kurz nach ihrer Gründung wieder von der Bildfläche verschwunden, weil sich die falschen Leute zusammengefunden hatten.

Als ich die Beste Partei gründete, machte ich es mir deshalb zum Prinzip, möglichst viele Leute aufzutreiben, die ich kenne und für großzügige, intelligente und aufrichtige Menschen halte. Die meisten dieser Leute sind, so wie viele andere von dieser Sorte, auf dem passiven Weg gelandet. Mit der Besten Partei wollte ich genau diese Leute ansprechen und sie zum Mitmachen, zu einer positiven Einmischung bewegen. Obwohl der kluge Satz, der Anarchist sei einer, der vom gemütlichen Wohnzimmer aus die Gesellschaft kritisiert, leider auch auf mich selbst zutrifft. Meine Gesellschaftskritik spielt sich auf Facebook ab. Ich liebe Wortspiele. Ich wollte mich schon lange positiv in die gesellschaftliche Diskussion einklinken, habe aber nie den richtigen Ansatz gefunden. Und die richtige Partei. Egoismus, Aggression und Unmäßigkeit haben mich abgeschreckt. Immer und immer wieder.

Leo Tolstoi hat einmal gesagt: »Alle wollen die Welt verändern, aber niemand sich selbst.« Doch, ich finde, ich habe mich selbst verändert. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Und als Nächstes will ich versuchen – wohl gemerkt, nur ein Versuch! –, die Welt zu verändern. Auf dem positiven Weg. Dazu gehört vor allem eines: mit gutem Beispiel voranzugehen. Die Beste Partei will so ein gutes Beispiel sein. Wir bemühen uns um Aufrichtigkeit. Wir sind gegen Gewalt. Und wo die anderen Probleme sehen, bieten wir Lösungen an. All das ist ungemein ermüdend.

Ich werde oft gefragt, worauf ich, die Parteiarbeit betreffend, besonders stolz sei. Natürlich haben wir eine ganze Menge erreicht. Wir haben seit meiner Wahl zum Bürgermeister von Reykjavík Fahrradwege angelegt, Fördermittel für soziale Projekte organisiert, Stadtviertel neu gestaltet und Kunstwerke dem öffentlichen Raum zugeführt. Aber wirklich stolz bin ich, wenn ich ehrlich sein soll, nur darauf, dass wir noch existieren. Wir sind noch da, und zwar nach wie vor in Originalbesetzung unserer Stunde Null. Ich kann mir gut vorstellen, oder hoffe es zumindest, dass unsere Aktionen und Methoden Schule machen. Sicher ist aber schon jetzt, dass wir junge Leute darin bestärkt haben, den Mund aufzumachen und sich überall da einzumischen, wo ihnen etwas ungerecht, falsch oder sinnlos vorkommt.

ISLAND

Auf alten Landkarten erscheint Island als unbewohnbares Gebiet »jenseits der bewohnbaren Welt«. Seeleute warnte man davor, auf diese Teufelsinsel Kurs zu nehmen, denn der Seeweg nach Island wimmelte auf alten Landkarten von Meeresungeheuern. Als die alten Griechen hier einmal vorbeikamen, wurde ihnen bald klar, dass an diesem Ort weder sie noch andere irgendetwas verloren hatten.

Seit jeher haben die Menschen versucht, sich auf den Namen »Island« einen Reim zu machen. Manche zum Beispiel vertreten die Theorie, die Namen »Grönland«, also Grün-Land, und »Island« seien in grauer Vorzeit irgendwann mal durcheinandergeraten. Island ist eine ziemlich grüne Insel. In keinem anderen Land der Welt wachsen so viele Moos- und Flechtenarten wie hier – in Grönland ist dagegen weit und breit kein Grashalm zu sehen. Interessant ist aber, dass die Vorsilbe Is- in den romanischen Sprachen nichts mit »Eis-« zu tun hat, sondern mit »Insel« – weil sie sich vom romanischen Wort insula oder isola ableitet. Meiner eigenen Theorie zufolge könnte es deswegen sehr gut so gewesen sein: Als die ersten Wikinger zu ihren Raubzügen in die Nordmeere aufbrachen, muss ihnen eine Landkarte christlicher Mönche untergekommen sein, auf der Island zwar eingezeichnet war, aber einfach Insula, also »Insel« genannt wurde. Die alten Nordleute aber, die mit Fremdsprachen nicht allzu viel am Hut hatten, konnten mit diesem Wort nichts anfangen, und so machten sie sich ihren eigenen Reim darauf; sie vertauschten die Buchstaben, hängten noch ein »–nd« daran – und siehe da: It made sense. Ich finde diese Erklärung nicht mal so abwegig – und davon abgesehen hätten wir hier den frühesten Beleg für eine unserer bereits sprichwörtlich gewordenen kreativen Notlösungen: Þetta reddast. Das passt schon irgendwie.

Alle Isländer gehen Schwimmen. Es gehört zu den unbestrittenen Vorzügen dieses Landes, dass man so gut wie überall ein vorbildlich ausgestattetes Schwimmbad in nächster Nähe hat. Isländische Schwimmbäder sind mehr als nur Schwimmbäder. Sie sind komplette Wellness-Anlagen mit Sauna, Hotpots, Massage und Solarium. Die Schwimmbäder werden von den Gemeinden unterhalten und zählen zur Grundversorgung. Die Kommunen sind sogar verpflichtet, ihren Bürgern den preiswerten Zugang zu ermöglichen. Sollte sich hierzulande der real existierende Sozialismus irgendwo eine Nische geschaffen haben – dann in den Schwimmbädern.

Dort geht es zu wie im Telefonbuch: Hier sind alle gleich. Im Hotpot, seit jeher eine Art offener Stammtisch, sitzen Bankdirektor und Hafenarbeiter zusammen im heißen Wasser und diskutieren über Politik und Zeitgeschehen. Extra-Schwimmbäder für die oberen Zehntausend gibt es nicht. Die Reichen planschen im selben Becken wie das gemeine Volk. Vielleicht hören Menschen, die splitternackt nebeneinander unter der Dusche stehen, auf, in Schubladen zu denken. Der Nackte gehört keiner Klasse an. Er ist einfach nur Mensch.

Um Island zu verstehen, muss man ins Schwimmbad gehen. Es sind die Schwimmbäder, die uns zu einer Nation zusammenschweißen. Mehr als alles andere. Draußen siehst du den Leuten an, aus welcher Gesellschaftsschicht sie stammen, kannst an ihrer Kleidung und ihrem Auftreten in etwa ablesen, wie viel sie verdienen. In einem isländischen Hotpot kannst du das vergessen. Der untersetzte Glatzkopf neben dir ist vielleicht ein steinreicher Schiffsreeder mit vier Geliebten gleichzeitig, und der feinsinnige junge Mann gegenüber, bei dem du spontan auf Philosoph oder Dichter getippt hättest, könnte genauso gut Schuhmacher sein. Alle ziehen sich nackt aus, um sich vor aller Augen unter der Dusche einzuseifen. Das macht einen bescheidener.

Unsere Verbundenheit mit den Norwegern, Dänen und Schweden hält sich in Grenzen. Wir fühlen uns den Festlandskandinaviern nicht besonders nah, obwohl die ersten Siedler Islands aus genau diesen Ländern kamen. Stattdessen fühlen wir uns auf rätselhafte Weise zu den Finnen hingezogen. Isländer betonen oft und gern, wie »isländisch« die Finnen doch seien, worauf die Finnen das Kompliment bereitwillig erwidern: Sie finden uns wiederum ziemlich »finnisch« – etwa genauso relaxt, unbeholfen und depressiv. Dieses geheime Band zwischen Finnen und Isländern muss etwas mit der finnischen Saunakultur zu tun haben. Die Finnen sind nämlich, genau wie wir, ein nacktes Volk. Auch in Finnland ist es die natürlichste Sache der Welt, vor wildfremden Leuten splitternackt herumzulaufen, ohne sich für seinen Körper – oder für den der anderen – zu schämen.

In den isländischen Schwimmbädern kann man regelmäßig ausländische Besucher beobachten, denen diese unbekümmerte Nacktheit fremd ist. Die Touristen hüllen sich blickdicht in ihr Badetuch, bevor sie sich darunter verschämt ihrer Unterwäsche entledigen und in die Badehose steigen. Diese Verklemmtheit amüsiert uns Isländer immer wieder – während wir, das Handtuch lässig über die Schulter geworfen, unsere frisch geduschten Brüste oder Schwänze fröhlich durch die Gegend baumeln lassen.

Soweit ich mich zurückerinnern kann, war in Island alles ziemlich überschaubar. Hier passiert genau genommen gar nichts. Wenn jemand vom Fahrrad stürzt, ist das mindestens eine Schlagzeile in der Tageszeitung wert. Wenn Prominente aus dem Ausland hier unterwegs sind, betonen sie oft, wie angenehm und entspannt es bei uns sei – im Gegensatz zu dem grotesken Medienrummel, der überall sonst um sie veranstaltet wird. Hier gibt es keine Regenbogenpresse und keine Paparazzi.

Die berühmteste Isländerin aller Zeiten ist Björk. Trotz allem ist sie immer sie selbst geblieben. Im Ausland muss sie ständig vor Fans und Journalisten flüchten, die sie bis in den letzten Winkel verfolgen, während man ihr zu Hause im Schwimmbad, im Bus oder beim Einkaufen begegnen kann. Im Allgemeinen lässt man sie in Ruhe. Trotzdem ist sie bei fast allen beliebt, und wir sind ungemein stolz auf sie und auf das, was sie macht.

Ich wurde hierzulande mit vierzehn berühmt – ein Vierzehnjähriger mit einem Irokesenschnitt und einem Ring durch die Nase. Als ich dreißig war und als Komiker und Schauspieler mein Geld verdiente, kannte mich in Island fast jedes Kind. Deswegen galt es geradezu als Sensation, wenn irgendwo ein alter Herr mal nicht wusste, wer ich war. Einmal erzählte mir jemand von einem solchen alten Knacker, der allen Ernstes nie von mir gehört habe – was bei den Anwesenden ungläubiges Gelächter hervorrief. Berühmtsein ist in Island anders als anderswo. In Island ist alles stinknormal. Auch Berühmtheit. Die Leute wissen, dass du vor dem Schwimmen genauso nackt unter der Dusche stehst wie sie selbst.

Wenn ich gerade in einer Fernsehserie spielte, hingen in der Stadt riesige Werbeplakate mit einem Bild von mir an den Hauswänden. Und wenn ich in einen Bus stieg, war es nicht unwahrscheinlich, dass dieser ebenfalls für mich Reklame fuhr – und den meisten fiel das nicht mal auf.

Der einzige praktische Nutzwert des Berühmtseins ist, dass es dir am Wochenende vor den Klubs unter Umständen das Schlangestehen erspart. Vermutlich musst du dich aber auch hier wie alle anderen brav einreihen. Sogar Björk stellt sich hinten an und wartet, bis sie dran ist, und alle finden das normal. Wenn doch mal irgendein Türsteher meint, ihr eine Vorzugsbehandlung anbieten zu müssen, finden das die Umstehenden deplatziert und peinlich. Und Björk selbst am allermeisten.

Der isländische Seelenzustand wird von den Jahreszeiten beherrscht. Der Sommer ist die beste Zeit. Am »Ersten Sommertag«, nach dem Kalender der dritte Donnerstag im April, wünscht man sich einen »Schönen Sommer!«. Das ist ein hübscher Brauch. Im Sommer sind alle fröhlich und vergnügt, und es gibt kaum einen isländischen Dichter, der nicht früher oder später unseren Sommer besungen hätte, unseren wunderbaren Sommer, der so viel besser ist als alle anderen Sommer auf der Welt. Obwohl, so viel besser dann auch wieder nicht.

Wir nutzen die Kraft des positiven Denkens. Wir genießen das halb volle Glas, wo andere über das halb leere jammern. Das Thermometer schafft es selten über zwanzig Grad Celsius, aber wir reißen uns schon bei zehn Grad alle Kleider vom Leib, und Temperaturen ab fünfzehn Grad gelten als Hitzewelle. Im Sommer ist alles easy. Und wenn jemand seinen notorischen Pessimismus zelebriert, hören wir einfach nicht hin. Alle sind optimistisch und gut gelaunt, wir sind das glücklichste Volk unter der Sonne – denn es ist Sommer.

Mit dem Herbst kommt die Angst. Die Tage werden kürzer und die Nächte dafür länger. Auf einmal sind die Sorgen wieder da. Wir fragen uns, ob es wohl einen harten Winter gibt. Und wenn der Winter dann kommt, stecken wir den Kopf unters Gefieder. Jetzt ist Zuhausebleiben angesagt. Für Winterromantik hat man in diesem Land äußerst wenig übrig. Denn nicht nur haben wir keinen richtigen Sommer, sondern auch keinen richtigen Winter. Wenn es an einem Tag schneit, gibt es am nächsten Tag Frost und am dritten Regen. Die Seen sind morgens zugefroren und am Abend wieder getaut. Du weißt nie, was dich erwartet. Deshalb haben wir Isländer es, im Gegensatz zu den anderen Skandinaviern, im Wintersport nie besonders weit gebracht. Die einzige Sportart, in der wir wirklich gut sind, ist Schach. Drinnen vor dem Schachbrett hocken kann man schließlich das ganze Jahr.

Wir sind durch und durch von der Natur und der Witterung geprägt. Wir haben ein ungeheures Anpassungsvermögen – und davon brauchst du auch reichlich, wenn du in diesem Land überleben willst. Hier kann alles passieren. Hier kann die Erde beben oder ein Vulkan ausbrechen. Du kannst dich niemals darauf verlassen, dass alles so bleibt, wie es war. Dein Garten wird vielleicht unter einem Lavastrom begraben, und es gibt Schneestürme im Juni. Aber wir haben gelernt, damit zu leben – vielleicht, indem wir uns eine gewisse Demut gegenüber der Natur und ihren Launen bewahrt haben.