Cover

Simone de Beauvoir

Das Blut der anderen

Roman

Aus dem Französischen von Klaudia Rheinhold

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Simone de Beauvoir

Simone de Beauvoir, geboren am 9. Januar 1908 in Paris, gilt als führende Repräsentantin des französischen Existenzialismus in der Literatur und als eine der wichtigsten Vordenkerinnen der europäischen Frauenbewegung. Noch während ihres Philosophie-Studiums an der Sorbonne lernte sie Jean-Paul Sartre kennen, dem sie bald Lebensgefährtin und geistige Weggenossin wurde. Für ihren groß angelegten Schlüsselroman «Die Mandarins von Paris» (rororo 10761), der die intellektuelle Elite im Frankreich der IV. Republik porträtiert, erhielt sie die höchste literarische Auszeichnung ihres Landes, den «Prix Goncourt». Simone de Beauvoir starb am 14. April 1986 in Paris.

 

Weitere Veröffentlichungen:

die biographischen Schriften:

Kriegstagebuch

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

In den besten Jahren

Der Lauf der Dinge

Ein sanfter Tod

Alles in allem

Amerika Tag und Nacht

Zeremonie des Abschieds

Briefe an Jean-Paul Sartre 1 + 2

Eine transatlantische Liebe. Briefe an Nelson Algren

 

die Romane:

Sie kam und blieb

Alle Menschen sind sterblich

Die Mandarins von Paris

 

die Erzählungen und Essays:

Marcelle, Chantal, Lisa ...

Soll man de Sade verbrennen?

Auge um Auge

Eine gebrochene Frau

Missverständnisse an der Moskwa

 

sowie die Studien über die Rolle der Frau:

Das andere Geschlecht

Das Alter

Über dieses Buch

Dieser Roman der großen, mit dem «Prix Goncourt» ausgezeichneten französischen Autorin schildert mit dramatischer Spannung die Zeit der Résistance, in der die junge Intelligenz in tragischer Verstrickung das Bewusstsein der Verantwortung für die anderen gewann.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1945 unter dem Titel «Le Sang des autres» bei Librairie Gallimard, Paris.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2014

Copyright © 1963 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Le Sang des autres» Copyright © 1945 by Librairie Gallimard, Paris

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

(Foto: Die Befreiung von Paris – Szene an der Place de la Concorde)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-10545-6 (33. Auflage 2008)

ISBN E-Book 978-3-644-51181-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51181-1

Fußnoten

1

«La Roque an den Galgen.» La Roque, vor und während des Zweiten Weltkriegs ein Führer der nationalsozialistischen Bewegung in Frankreich. Der Lampions-Rhythmus geht auf die Zeit Karls X. zurück. Die Bevölkerung forderte damals durch rhythmische Rufe die Anlage einer Straßenbeleuchtung. In dem gleichen Rhythmus werden seitdem in Frankreich alle möglichen Forderungen im Sprechchor vorgetragen. (Anm.d.Ü.)

Für Nathalie Sorokine

Jeder Mensch ist für alle und alles verantwortlich.

Dostojewski

1

Als er die Tür öffnete, richteten sich alle Augen auf ihn:

«Was wollt ihr von mir?», fragte er.

Laurent saß rittlings auf einem Stuhl vor dem Herd.

«Hast du dich entschieden? Ich muss wissen, ob es morgen früh losgehen soll oder nicht», sagte Laurent.

Morgen. Er sah sich um. In dem Zimmer roch es nach gekochter Wäsche und Kohlsuppe. Madeleine rauchte, die Ellbogen auf die Tischdecke gestützt. Denise hatte ein Buch vor sich. Das Leben ging weiter. Für sie würde diese Nacht ein Ende haben; für sie würde es ein Morgengrauen geben.

Laurent sah ihn an.

«Wir können nicht länger warten», sagte er leise. «Ich muss um acht Uhr dort sein, wenn ich es tun soll.»

Er sprach vorsichtig, wie mit einem Kranken.

«Natürlich.»

Er wusste, dass man eine Antwort erwartete, aber er konnte nicht antworten.

«Komm morgen früh, wenn du aufgestanden bist, zu mir. Du brauchst nur anzuklopfen. Ich will es mir noch einmal überlegen.»

«In Ordnung. Ich komme gegen sechs Uhr», sagte Laurent.

«Wie geht es ihr?», fragte Denise.

«Im Augenblick schläft sie», sagte er.

Er ging zur Tür.

«Ruf, wenn du etwas brauchst», sagte Madeleine. «Laurent legt sich hin. Aber wir bleiben die ganze Nacht auf.»

«Danke.»

Er stieß die Tür auf. Entscheiden. Die Augen sind geschlossen; sie röchelt; die Bettdecke hebt und senkt sich; sie hebt sich zu schnell; das Leben zeigt sich zu deutlich, zu heftig; es wird erlöschen, beim Morgengrauen wird es erloschen sein. Sie leidet. Durch meine Schuld. Erst Jacques, nun Hélène. Weil ich sie nicht geliebt habe und weil ich sie geliebt habe; weil sie zu nah herangekommen ist und weil sie sich so weit entfernt hat. Weil es mich gibt, und dieser brutalen Tatsache hat sie sich unterwerfen müssen; sie, die frei, unabhängig und ewig ist, wurde unversehens an meine Existenz gekettet und mit den mechanisch aufeinanderfolgenden Augenblicken meines Lebens unauflöslich verbunden; und am Ende dieser schicksalhaften Kette traf sie der blinde Stahl: Meine Gegenwart in Gestalt von hartem Metall brachte ihr den Tod. Weil ich da war, undurchsichtig, unumgänglich, ohne Grund. Man hätte niemals sein dürfen. Erst Jacques, nun Hélène.

Draußen ist es Nacht; eine Nacht ohne Licht, ohne Sterne, ohne Stimmen. Vorhin ging eine Streife vorbei. Jetzt geht niemand mehr vorbei. Die Straßen sind verlassen. Vor den großen Hotels und den Ministerien zieht die Wache auf. Es geschieht nichts. Aber hier geschieht etwas: Sie stirbt. ‹Erst Jacques.› Wieder diese leeren Worte. Aber während die Nacht langsam verrinnt, steigt aus anderen Worten und vergangenen Bildern die ewige Empörung auf. Sie hat die ganz bestimmte Gestalt einer Geschichte angenommen, als ob etwas anderes möglich gewesen wäre, als sei nicht bereits seit meiner Geburt alles da gewesen: das ganze im Schoße eines jeden Menschenschicksals verborgene Unheil. Bei meiner Geburt und im Geruch und Halbdunkel dieses Sterbezimmers ganz gegenwärtig – immer gegenwärtig: in jeder Minute und in alle Ewigkeit. Heute und seit aller Zeit bin ich da. Ich bin immer da gewesen. Vorher gab es keine Zeit. Seit Anbeginn der Zeit bin ich da gewesen, für immer und über meinen eigenen Tod hinaus.

Zunächst wusste er noch nicht, dass er da war. Jetzt sehe ich ihn, wie er sich aus dem Fenster der Loggia beugt. Aber er war sich seiner selbst noch nicht bewusst. Er glaubte, allein die Welt sei vorhanden. Er betrachtete die verschmutzten Fenster, durch die der Geruch von Druckerschwärze und Staub in dichten Schwaden emporstieg: der Arbeitsdunst der anderen. Sonnenstrahlen überfluteten die alten Eichenholzmöbel, während die Leute dort unten im trüben Licht grün beschirmter Lampen erstickten; den ganzen Nachmittag über surrten monoton die Maschinen. Manchmal floh er. Manchmal blieb er lange Zeit unbeweglich und ließ durch Augen, Ohren und Nase Selbstvorwürfe in sich eindringen. Unten, hinter den schmutzigen Scheiben, stand der Stumpfsinn, und in dem langen Raum mit den hellen Wänden breiteten sich in langsamen Spiralen die Gewissensbisse aus. Er ahnte nicht, dass die Arbeiter, wenn sie den Kopf hoben, durch die Luke sein Gesicht sehen konnten: das frische und artige Gesicht eines bürgerlichen Kindes.

Der Wollteppich unter seiner Wange war weich, aus der kupferglänzenden Küche drang ein guter Geruch von gebratenem Speck und Karamell; im Salon erklangen sammetweiche Stimmen. Aber im Duft der Sommerblumen und in den knisternden Feuern des warmen Winters lauerten unermüdlich die Selbstanklagen. Wenn er in die Ferien fuhr, ließ er sie hinter sich zurück; die Sterne, die am Himmel vorbeizogen, die Äpfel, die zwischen den Zähnen krachten, und das warme Wasser, das die nackten Füße umspülte, schienen keine Gewissensbisse zu kennen. Aber sowie man in die mit weißen Schonbezügen ausgestattete Wohnung zurückkam, sowie man die mit Naphtalin bestreuten Vorhänge zurückgezogen hatte, fand man sie geduldig wartend und unverändert wieder. Die Jahreszeiten vergingen, die Landschaften wechselten, in den goldgeschnittenen Büchern ereigneten sich neue Abenteuer. Nur das gleichmäßige Gemurmel der Maschinen blieb unverändert.

Der Geruch der Druckerschwärze aus dem düsteren Erdgeschoss durchdrang das ganze Haus. ‹Eines Tages wird es dein Haus sein.› An der Fassade hatte man es in den Stein geschlagen: ‹Blomart, Söhne. Druckerei›. Sein Vater stieg mit ruhigen Schritten von der Werkstatt in die große Wohnung hinauf. Die schwere Luft im Treppenhaus störte ihn nicht. Auch Elisabeth und Suzon waren ohne Argwohn. Sie hingen in ihren Zimmern Stiche an die Wände und ordneten die Kissen auf ihren Betten. Aber, davon war er überzeugt, seine Mutter kannte jenes Unbehagen, das den Glanz der schönsten Tage verdunkelte. Auch sie fühlte die Gewissenslast durch die Parkettritzen, die seidenen Vorhänge und die dicken Wollteppiche in die Wohnung dringen.

Vielleicht hatte sie sie auch schon früher empfunden, bei anderen Gelegenheiten, von denen er nichts wusste; sie trug sie ständig mit sich herum, unter ihren Pelzmänteln und unter den glänzenden Kleidern, die sich eng an ihren kleinen rundlichen Körper schmiegten. Wahrscheinlich sah sie deshalb immer so aus, als wolle sie jemanden um Verzeihung bitten; sie sprach in einem entschuldigenden Tonfall mit den Dienstboten und Lieferanten; sie ging mit kleinen raschen Schritten und etwas geduckt, als wolle sie den Platz, den sie für sich beanspruchte, noch verkleinern. Er hätte sie gern gefragt, aber er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. Einmal hatte er versucht, über die Leute in der Druckerei zu sprechen, aber sie hatte sehr rasch und mit leichter Stimme geantwortet: ‹O nein, sie finden es gar nicht so stumpfsinnig; sie sind es gewohnt. Und außerdem muss jeder in seinem Leben langweilige Dinge tun.› Er hatte nicht weitergefragt; das, was sie sagte, hatte nicht viel zu bedeuten: Man hatte bei ihr immer den Eindruck, sie spreche in Gegenwart eines gewichtigen und empfindlichen Zeugen, den man um keinen Preis verletzen dürfe. Aber wenn sie fieberhaft arbeitete, um für das Baby der Köchin Windeln zu nähen, die sie ebenso gut im Warenhaus hätte kaufen können, oder wenn sie das, was das Hausmädchen zu ungeschickt ausgebessert hatte, in langen Nächten in Ordnung brachte, dann glaubte er sie zu verstehen. ‹Das ist töricht und ganz unnötig›, sagten Elisabeth und Suzon grollend. Sie verteidigte sich nicht; aber von morgens bis abends lief sie in einer nicht enden wollenden Flucht hierhin und dorthin, schob mehrere Stunden lang den Rollstuhl der alten gelähmten Gouvernante, unterhielt sich mit Lippen und Händen mit der tauben Cousine. Sie sympathisierte weder mit der Gouvernante noch mit der Cousine. Nicht für sie plagte sie sich; sie tat es dieses impertinenten Geruches wegen, der das ganze Haus durchdrang.

Manchmal nahm sie Jean bei ihren Armenbesuchen mit; das war zum Beispiel, wenn eine Weihnachts- oder Geburtstagsfeier für sauber gewaschene Kinder veranstaltet wurde, die sich dann höflich für den schönen Plüschteddy oder für die kleine saubere Schürze bedankten; sie schienen nicht unglücklich zu sein. Auch die auf der Straße kauernden zerlumpten Bettler beunruhigten ihn nicht sonderlich; mit ihren weißen Augen, ihren verstümmelten Gliedern, ihren Metallflöten passten sie ebenso gut auf die Straße wie das Kamel in die Wüste oder die Chinesen mit ihren Zöpfen nach China. Und die Geschichten, die man über diese romantischen Vagabunden und die rührenden kleinen Waisenkinder erzählte, endeten immer mit Freudentränen, Händedrücken, frischer Wäsche und süßem Rosinenbrot. Das Elend schien nur da zu sein, dass man es lindern und kleinen reichen Jungen die Freude am Schenken erhalten könne: Das war es nicht, was Jean störte. Aber es gab noch etwas anderes, er wusste es – etwas anderes, von dem die goldgeschnittenen Bücher nichts sagten und von dem auch Madame Blomart nicht sprach: Vielleicht war es verboten, darüber zu sprechen.

Ich war acht Jahre alt, als ich dem Unrecht zum ersten Male begegnete. Ich saß gerade in der Loggia und las, als meine Mutter mit jenem Gesicht hereinkam, das wir so oft bei ihr sahen und das voller Vorwürfe und Entschuldigungen war. Sie sagte: «Louises Kind ist gestorben.»

Ich sehe jetzt noch die gewundene Treppe und den Steinfußboden im Flur, von dem viele gleich aussehende Türen abgingen; Mama hatte mir gesagt, dass hinter jeder Tür ein Zimmer sei, in dem eine ganze Familie lebe. Wir gingen hinein. Louise nahm mich in die Arme; ihre Wangen waren weich und feucht; Mama setzte sich neben sie auf das Bett und begann mit leiser Stimme auf sie einzureden. Im Körbchen lag blass und mit geschlossenen Augen ein Baby. Ich blickte auf den roten Steinfußboden, die kahlen Wände, den Gaskocher und begann zu weinen. Ich weinte, Mama redete, aber das Kind blieb tot. Ich hätte meine Sparbüchse aufmachen können, und Mama hätte ganze Nächte hindurch wachen können; es wäre immer tot geblieben.

«Was ist denn mit dem Jungen los?», fragte mein Vater.

«Er war mit mir bei Louise», sagte Mama.

Sie hatte die Leidensgeschichte schon erzählt; aber noch einmal versuchte sie, die Meningitis, die qualvolle Nacht und den am Morgen erstarrten kleinen Körper zu schildern. Papa hörte zu und aß dabei seine Suppe. Ich konnte nicht essen. In einem anderen Zimmer weinte Louise, auch sie aß nicht; nichts würde ihr jemals ihr Kind wiedergeben; nichts würde dieses Unglück auslöschen, das die Welt beschmutzt hatte.

«Nun iss deine Suppe», sagte mein Vater, «alle sind schon fertig.»

«Ich hab gar keinen Hunger.»

«Gib dir ein bisschen Mühe, mein Liebling», sagte Mama.

Ich führte den Löffel an die Lippen und legte ihn dann mit einer Art Schluckauf in meinen Teller zurück:

«Ich kann nicht.»

«Hör mal zu», sagte mein Vater. «Es ist zwar sehr traurig, dass Louises Kind tot ist; und sie tut mir auch leid, aber wir können doch nicht unser ganzes Leben lang darüber vertrauern. Los, beeil dich.»

Ich aß. Mit einem Schlag hatte die harte Stimme den Druck um meinen Hals gelöst. Ich fühlte, wie die lauwarme Flüssigkeit durch meine Kehle glitt, und mit jedem Löffel schluckte ich etwas herunter, das noch widerwärtiger war als der Geruch der Druckerei. Aber der Druck hatte sich gelöst. Nicht unser ganzes Leben lang. Diese Nacht bis zum Morgengrauen und vielleicht noch einige Tage. Aber nicht unser ganzes Leben lang. Schließlich ist es doch sein Unglück, nicht das unsere. Es ist sein Tod. Sie hatten ihn mit seinem zerrissenen Kragen und mit dem geronnenen Blut im Gesicht auf die Bank gelegt; sein Blut, nicht das meine. ‹Ich werde es nie vergessen.› Auch Marcel hatte das in seinem Herzen geschrien. ‹Niemals, kleines Köpfchen, kleines Pferdchen, guter Junge. Nichts: dein Lachen nicht und deine lebhaften Augen nicht.› Und ruhig und fremdartig liegt sein Tod auf dem Grunde unseres Lebens, und wir, die Lebendigen, erinnern uns daran; wir leben und erinnern uns immer wieder daran, obwohl dieser Tod nicht mehr existiert und für ihn, der gestorben ist, niemals existiert hat. Nicht unser ganzes Leben lang. Nicht einmal einige Tage. Nicht einmal eine Minute. Du bist allein auf diesem Bett, und ich kann nur das Röcheln hören, das von deinen Lippen kommt und das du nicht hörst.

Er hatte seine Suppe und auch alles andere gegessen. Nun kauerte er unter dem Flügel; das Kristall des Kronleuchters funkelte in allen Farben, die kandierten Früchte glänzten mit ihrer Zuckerglasur; die schönen lächelnden Damen waren so süß und farbig wie petits fours. Er sah zu seiner Mutter hin; sie glich diesen parfümierten Feen nicht; sie trug ein schwarzes, schulterfreies Kleid und hatte ihre Haare, die ebenso schwarz waren wie das Kleid, zu einem schimmernden Band um den Kopf gelegt; bei ihr dachte man weder an Blumen noch an üppigen Kuchen, weder an Muscheln noch an blaufarbigen Kies. Sie war da, das genügte. Sie trippelte in ihren winzigen Satinschuhen mit den zu hohen Absätzen von einem Ende des Salons zum anderen; und auch sie lächelte. Sogar sie. Vorhin noch dieses bestürzte Gesicht; diese leise, durchdringende Stimme, die Louise etwas ins Ohr flüsterte; und nun dieses Lächeln. Nicht unser ganzes Leben lang. Er hatte die Nägel in den Teppich gekrallt. Louises Kind ist gestorben. Er wollte sich das Bild von neuem vorstellen: Louise saß auf dem Bettrand und weinte. Er weinte nicht mehr. Und nun sah er sogar durch dieses starre, durchsichtige Bild hindurch, und seine Augen folgten den malvenfarbigen, grünen und rosa Kleidern; und wieder stieg jene Lust in ihm auf: die Lust, in diese vollen weißen Arme zu beißen, das Gesicht in diese schön frisierten Haare zu drücken, die leichten Seidenstoffe wie ein Blatt zu zerknittern. Louises Kind ist gestorben. Umsonst. Es ist nicht mein Unglück. Es ist nicht mein Tod. Ich schließe die Augen, und ich rege mich nicht, aber ich erinnere mich nur an mich. Und ihr Tod dringt wohl in mein Leben ein: Ich aber dringe nicht in ihren Tod ein. Ich schlich mich unter dem Flügel fort, und in meinem Bett weinte ich, bis ich einschlief über jenes Etwas, das mir mit der lauwarmen Suppe durch die Kehle geflossen war und das bitterer war als die Gewissensbisse: die Schuld. Die Schuld zu lächeln, während Louise weinte; die Schuld, meine Tränen zu weinen und nicht die ihren. Die Schuld, ein anderer zu sein.

Aber noch war er zu klein, um es zu begreifen. Er glaubte, die Schuld habe nur durch eine List in ihn eindringen können, weil seine Finger sich gelöst, seine Kehle sich plötzlich wieder geöffnet hatte; er ahnte nicht, dass sie in der Luft ist, die meine Lungen durchflutet, in dem Blut, das in meinen Adern fließt, in der Wärme meines Körpers. Er glaubte, dass er, wenn er sich genügend Mühe gäbe, diesen schmutzigen Geschmack nie wieder empfinden würde. Er gab sich Mühe. Er saß vor seinem Schulpult, und sein kindlicher Blick glitt zärtlich über das glatte Blatt, das keine Vergangenheit hatte und unberührt war wie die Zukunft. Nacktes Blatt; leere Leinwand; reine und vereiste Erde, die über die zukünftigen Revolutionen hinausleuchtet. Marcel hat seinen Pinsel fortgeworfen; das Blut in Jacques’ Gesicht; das Blut, das raucht, für jeden Tropfen, den wir gespart, und für jeden Tropfen, den wir vergossen haben. Dein Blut. Rot auf weißer Watte und auf den Verbänden; so langsam und schwer in deinen geschwollenen Venen. ‹Sie wird die Nacht nicht überstehen!› Keine Blumen und keinen Leichenwagen: Wir werden dich in der Erde verbergen. Dieser Schmutz an meinen Händen, dieser Schmutz auf unseren Seelen, das war die Zukunft des artigen kleinen Jungen, der arglos seine Buchstaben malte. Er konnte es nicht ahnen. Er wusste noch nicht, welche Gefahr von ihm ausging. Durchsichtig und weiß saß er vor dem weißen Blatt und lächelte der schönen, vernünftigen Zukunft zu.

Sie sprach so vernünftig; als habe sie nie jene fröstelnden Gebärden gemacht, als sei sie nie mit kleinen zögernden Schritten gegangen. Sie sagte, dass Unglück und Sklaverei, Waffen und Kriege und auch die herzzerreißenden Leidenschaften und die trüben Missverständnisse nur Dummheit seien, die unerklärliche Dummheit der Menschen. Wenn sie es nur wollten, könnte alles anders sein. Ich entrüstete mich über den Wahnsinn der Menschen; ich dachte, wir müssten Hand in Hand durch die Stadt laufen; sie würde in ihren winzigen Schuhen mit den schmalen Absätzen nebenhertrippeln, und ich würde sie in meiner kindlichen Begeisterung vorwärtsziehen; auf den Plätzen würden wir alle Vorübergehenden anhalten, wir würden in die Cafés gehen und in feierlichen Reden zu der Menge sprechen. Das schien gar nicht einmal so unmöglich. Ich erinnerte mich, in einer Seitenstraße von Sevilla hatten an einem Morgen, an dem man von einem Staatsstreich sprach, die Leute plötzlich in panischer Angst zu laufen begonnen; Papa war damals dem Volkshaufen willig gefolgt, auch er war gelaufen und hatte Elisabeth und Suzon mit sich gezogen; sie aber war stehengeblieben und hatte ihre kleinen Arme ausgestreckt, um dieses blöde Drängen aufzuhalten. Ich war überzeugt, hätte Papa sie nicht fortgezogen, hätte auch er seine großen Männerarme ausgestreckt, dann hätte man die Menge zur Einsicht gebracht, und die Leute wären beruhigt weitergegangen.

Aber mein Vater dachte nicht daran, den blinden Lauf der Welt anzuhalten; er lief mit Abstand in der Menge mit, und die beschwörenden Reden vermochten nicht, seinen festen Schritt zu ändern. Als ich ihn nichtsahnend darüber auszufragen begann, lächelte er zunächst. Später lächelte er nicht mehr: Er wies mit herbem Stolz auf sein arbeitsreiches und enthaltsames Leben hin. Er glaubte, auf den Luxus, der ihn umgab, noch größere Rechte zu haben, weil ihm nichts daran lag, ihn auszukosten. Er arbeitete den ganzen Tag, und am Abend las er in dicken Büchern und machte sich Notizen. Er mochte nicht, dass Besuch kam, und ging fast nie aus. Essen und Trinken waren ihm gleichgültig. Man hatte den Eindruck, er sehe in seinen Zigarren, seinem Burgunder, dem Armagnac von 1893 nur ehrenvolle Auszeichnungen und Beweise seines eigenen Erfolges, die sein Gewissen beruhigten.

«Nivellierungen führen immer nach unten», erklärte er mir. «Du wirst die Masse nie erheben, sondern die Elite zerstören.» Seine Stimme war schneidend, duldete keinen Widerspruch, aber tief in seinen Augen lag eine Art wütender Angst. Ich schwieg; nach und nach ahnte ich die Wahrheit: Wollüstig atmete er in dem verdorbenen Geruch der Welt und ließ ihn wie Weihrauch in sich eindringen. Denn nicht nur das Haus, die ganze Stadt, die ganze Welt war von diesem Geruch durchdrungen. Abends in der Métro schnürte mir wieder die gleiche Angst die Kehle zu. Die Männer hatten ihre Hände auf die Knie gelegt, die Augen der Frauen waren glanzlos, und bei den Stößen des Zuges drangen ihr Schweiß und ihre Mühsal in die schwere Luft; der Zug fuhr durch eine weiß gekachelte Halle, wo bunte Plakate das Alltagsgesicht dieser Welt mit ihren Salamandern und Gänseleberpasteten widerstrahlten; dann tauchte er in einen dunklen Tunnel ein. Es schien mir, als sei darin das ganze Schicksal dieser erschöpften Menschenmasse enthalten, und mein Herz zog sich zusammen. Ich dachte an einen Film, den ich mit meinem Freunde Marcel gesehen hatte: eine unterirdische Stadt, in der die Menschen in Leid und Nacht dahinsiechten, während eine stolze Rasse auf weißen Terrassen die Herrlichkeiten der Sonne genoss; die Geschichte endete mit einer großen Überschwemmung, einer Revolution und mit einer strahlenden Versöhnung, die sich in einem großen Durcheinander zerbrochener Retorten vollzog. Und ich fragte mich: «Warum machen diese Menschen hier keine Revolution?» Sonntags führte ich Marcel oft nach Aubervilliers oder Pantin. Viele Stunden gingen wir an vereinsamten Häusermauern, Gasometern, Fabrikschornsteinen und an Häusern mit rauchgeschwärzten Mauern vorbei. Ganze Menschenleben vergingen hier: von morgens bis abends immer die gleiche ermüdende Bewegung. Ein einziger Sonntag pro Woche. ‹Sie sind es gewöhnt.› Wenn sie es gewöhnt waren, so war das noch schlimmer.

Als ich vor ihr das Wort Revolution aussprach, wurde sie ganz rot: «Aber du bist doch noch ein Kind! Du redest von Dingen, die du nicht verstehst.» Ich versuchte mit ihr zu reden, aber sie unterbrach mich sofort, ihr ganzer Körper war von leidenschaftlicher Angst geschüttelt. Es war sinnlos, etwas an der Welt oder am Leben ändern zu wollen; die Umstände waren schon traurig genug, wenn man nicht daran rührte. Alles, was sie im Geiste und auch in ihrem Herzen verurteilte, begann sie nun leidenschaftlich zu verteidigen: meinen Vater, die Ehe, den Kapitalismus. Weil das Übel nicht in den Institutionen, sondern tief in unserem eigenen Innern war. Man musste sich in einen Winkel ducken, sich so klein wie möglich machen und alles hinnehmen, anstatt einen von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch zu machen. Diese Vorsicht! Diese sinnlose Vorsicht! Als gebe es eine Möglichkeit zu entkommen! Die Tür verschlossen halten, die Lippen verschließen; aber mein Schweigen schreit Befehle. ‹Du sagst nichts, und ich tue es.› Oder aber: ‹Du sagst nichts, und ich tue es nicht.› Meine Gegenwart ist Order. Schreite doch vorwärts, schreite voran in dem Unrat der Nacht! Entscheide. Ich habe deinen Tod entschieden, und damit ist es nicht getan. Weiter. Ich möchte um Gnade schreien: Aber es gibt keine Gnade. Ach, ich habe dich schlecht geliebt! Hätte ich die Tücken der Vorsicht eher erkannt, so hätte ich meine Tür geöffnet. Ich hätte meine Arme und mein Herz geöffnet. Stumm, steif. ‹Ich werde keinen Finger rühren, um einen Menschen töten zu lassen.› Und ich bedrücke die Erde mit meiner ganzen regungslosen Last. Du stirbst. Andere siechen langsam dahin, den Leib von Schlägen gezeichnet, nur noch Haut und Knochen. Zwei Millionen Gefangene zittern frierend hinter Stacheldraht. Die kleine Rosa ist aus dem Fenster gesprungen. Man hat ihn mit seiner Unterhose erwürgt in der Zelle gefunden. Sinnlos! Er hasste diese Vorsicht. Er hob die Hand, hob den ganzen Arm; er sah seine Mutter wütend an: ‹Wir werden die Welt ändern!› Diese Unvorsichtigkeit, diese sinnlose Unvorsichtigkeit. Er wollte reden, handeln. Und dann lag Jacques mit geschlossenen Augen auf der Bank, sein Hemd war offen, und auf seinem Gesicht klebte geronnenes Blut.

Aber alles schien damals so einfach, armer naiver guter Junge. Er erhob die Faust und sang im Chor: ‹Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.› Keine Kriege mehr und keine Arbeitslosigkeit, keine unwürdige Arbeit und kein Elend. Tod den Menschen, die schlechten Willens sind, und Freude in der Welt! In Gedanken zerstörte er die alte Welt und errichtete aus den Trümmern ein neues Universum, wie ein Kind die Steine aus seinem Baukasten aufbaut.

«Ich hab’s getan! Ich bin in die Partei eingetreten!», sagte ich strahlend, als ich in Marcels Atelier trat.

Marcel legte den Pinsel hin und drehte die Staffelei zur Wand. Alle seine Bilder standen mit dem Gesicht zur Wand; man sah immer nur ihren abweisenden Rücken.

«Natürlich», sagte er, «ich hab es kommen sehen.»

«Glaubst du, die Welt würde sich von selbst ändern, wenn wir keinen Finger dafür rühren?», fragte ich.

Marcel schüttelte den Kopf.

«Von unserer Welt kann man nichts erwarten. Der Kern ist schlecht. Ich würde lieber gleich eine ganz neue machen.»

«Aber deine Welt gibt es doch nur auf Bildern.»

Er lachte geheimnisvoll:

«Das werden wir ja sehen.»

Er hat es erfahren. Aber damals war auch er jung, er hoffte trotz seines Misstrauens. Fast jeden Tag klopfte ich an seine Tür. Er empfing mich manchmal freudig, manchmal gleichgültig. Aber er empfing mich. Er hätte mir seine Tür auch ablehnend verschließen können. Auch er war ahnungslos. Oder vielleicht wusste er, dass man niemals eine Tür verschlossen halten kann. Ich trat ein. Jacques saß an einem kleinen Tisch und arbeitete; er sah seinem Bruder ähnlich, nur waren seine Züge weich und nicht wie mit dem Messer in sein Gesicht geschnitten. Marcel stellte eine Flasche schlechten Marc auf den Tisch, auf dem sich Kakteen, Muscheln, Alraunenwurzeln und wunderliche Mosaike häuften, die er gern aus Steinen, Nägeln, Streichhölzern und Bindfäden zusammensetzte. In einem Einmachglas schwamm ein Seepferdchen: ein stacheliger krummer Stab mit einem edlen Pferdekopf. Wir zündeten unsere Zigaretten an und unterhielten uns. Ich unterhielt mich gern; ich wählte meine Worte sehr sorgfältig: Sie sollten Marcel jene gereinigte Welt vor Augen führen, der ich eifrig zustrebte; immerhin verstand mich Jacques.

Er hob den Kopf.

«Wie sollen wir an der Seite des Proletariats kämpfen können?», fragte er. «Wir gehören doch nicht dazu.»

«Wir wollen aber das Gleiche wie das Proletariat.»

«Gerade nicht. Ein Arbeiter will seine Befreiung. Du aber willst immer nur die Befreiung der anderen.»

«Macht nichts. Es geht darum, das gleiche Ziel zu erreichen.»

«Aber man kann das Ziel doch nicht von dem Kampf trennen, der zu ihm führt. Hegel erklärt das hervorragend. Du solltest ihn mal lesen.»

«Keine Zeit.»

Er ging mir mit seinen philosophischen Spitzfindigkeiten ein wenig auf die Nerven. Ich glaubte, es sei nur Geschwätz. Er aber war mit dem Herzen bei der Sache.

«Überleg doch mal», sagte er. «Man fordert doch nur, um etwas zu erreichen; und zwar, um das, was man gefordert hat, auch für sich zu erreichen. Ein Gut, das ich nicht gewollt habe, ist nicht mein Gut, ist kein Gut. Genau das können die Faschisten nicht verstehen. Ich bewundere Marx, weil er die Menschen nicht zum Empfangen, sondern zum Nehmen aufruft. Aber wir beide, du und ich, wir haben nichts zu nehmen. Wir sind nicht auf dieser Seite. Man kann sich nicht zum Kommunisten machen

«Und worin besteht dann unsere Aufgabe?»

Er zuckte die Achseln.

«Ich weiß es nicht.»

Ich lächelte. Er war doch noch ein Schüler. Ich hätte nicht lächeln sollen: Er wusste wenigstens, dass er auf Erden einen gewissen Platz einnahm, aber dass er niemals die Undurchsichtigkeit seines eigenen Daseins durchdringen würde. Ich wusste es immer noch nicht. Ich hatte nur Augen für die Zukunft, wo keine Gewissensbisse mehr auf mich lauerten.

Eines Tages dann habe ich mich leibhaftig gesehen, wie ich fest und undurchsichtig am Familientisch saß, auf dem das Omelette dampfte und wo die ganze Aufmerksamkeit meinem gutsitzenden Anzug und meinen gepflegten Händen galt; ich habe mich so gesehen, wie Jacques mich sah, wie die Arbeiter mich sahen, wenn ich durch den Betrieb ging; so, wie ich war: der junge Blomart; unter ihren fassungslosen Blicken, als vier Augenpaare empört an meiner zerschundenen Wange hingen, bin ich mir plötzlich sehr genau über mich selbst klargeworden.

Die Wange war im Verlauf des Vormittags noch weiter angeschwollen. ‹Was soll ich ihnen bloß sagen?› Bevor er ins Esszimmer ging, betupfte er sein Gesicht lange mit einem feuchten Tuch. Das Auge war fast geschlossen.

«Guten Tag, Mama; guten Tag, Papa», sagte er so fröhlich wie möglich.

Er beugte sich hinunter, um seine Mutter zu küssen.

«Mein Gott, was ist dir passiert?», rief Madame Blomart entsetzt.

«Siehst du aber aus!», sagte Suzon.

Er setzte sich, ohne zu antworten, und faltete die Serviette auseinander.

«Deine Mutter fragt dich, was dir passiert ist», sagte M. Blomart trocken.

«Ach, nichts weiter», sagte Jean. Er brach ein Stück Brot durch: «Ich war gestern Abend mit ein paar Freunden in einer Bar am Montmartre, und da ist es zu einer Schlägerei gekommen.»

«Mit welchen Freunden?», fragte seine Mutter. Sie war ein wenig rot geworden, wie immer, wenn sie verärgert war.

«Marcel und Jacques Ledru», antwortete Jean. Er hatte Angst, auch rot zu werden; er mochte sie nicht anlügen.

«Dann hast du da einen Faustschlag ins Gesicht bekommen?», fragte M. Blomart gedehnt.

Hinter dem Zwicker glitzerten wachsam seine Augen.

«Ja», sagte er.

Er fuhr mit der Hand über das geschwollene Gesicht.

«Der Kerl muss aber eine feste Faust gehabt haben, eine Faust wie einen Gummiknüppel», sagte M. Blomart. Er betrachtete seinen Sohn streng: «Was hast du denn eigentlich um Mitternacht vor dem Lokal Bullier gemacht – mitten in einer rasenden Menge, die die Internationale grölte?»

Das Blut stieg Jean in die Wangen; er schluckte mühsam.

«Ich kam aus einer Versammlung.»

«Was soll denn das wieder heißen?», fragte Madame Blomart.

«Das soll Folgendes heißen», sagte M. Blomart mit beherrschter Stimme: «Der Polizeikommissar hat mich heute Morgen angerufen, um mir mitzuteilen, dass dein Sohn fast wegen Beleidigung und Körperverletzung eines Polizeibeamten angezeigt worden wäre. Gott sei Dank ist Perrun ein vernünftiger Mann; als er meinen Namen sah, hat er sofort Befehl gegeben, ihn wieder freizulassen.»

Ein ganzes Leben der Arbeit und der Ehre … Jean starrte auf die violetten Äderchen, die sich auf den Wangen seines Vaters abzeichneten; er sah aus, als würde ihn jeden Augenblick der Schlag treffen. M. Blomarts Ruhe zeugte von einer schwer erkämpften Selbstbeherrschung. Jean konnte sich noch so bemühen: Trotz seines Hautausschlags und seines grauen Spitzbartes schüchterte ihn dieses tugendhafte Gesicht ein.

«Wir haben nichts getan», sagte er, «sie sind einfach auf uns losgegangen; unter dem Vorwand, wir hielten eine Versammlung auf offener Straße ab, haben sie mit Gummiknüppeln auf uns eingeschlagen und uns zur Wache geführt.»

«Ich nehme an, die Polizei tat, was sie tun musste», sagte Monsieur Blomart. «Was ich aber gern wissen möchte, ist, was gerade du in einer kommunistischen Versammlung zu suchen hattest?»

Es herrschte Totenstille. Jean zerbröckelte ein Stück Brot zwischen den Fingern.

«Ihr wisst doch seit langem, dass ich in diesen Dingen nie mit euch einer Meinung war.»

«Dann bist du also Kommunist?», fragte M. Blomart.

«Ja», antwortete Jean.

«Jean», sagte seine Mutter bittend.

Es klang, als flehe sie, er möge eine ungehörige Bemerkung zurücknehmen.

M. Blomart begann wieder zu atmen; mit einer großartigen Gebärde wies er auf den gedeckten Tisch:

«Und was machst du dann hier am Tisch eines ekelhaften Kapitalisten?»

Er betrachtete Jean grinsend.

Da hatte er sich plötzlich gesehen, wie er mit den anderen in dem großen Esszimmer saß; ein wenig verwirrt hatte er den Schrank betrachtet, in dem die vielen verschiedenen alten Cognacsorten standen, und den Tisch mit dem Käse-Omelette. Dann stand er auf und verließ das Zimmer. Meine Wohnung, mein Haus: Der menschliche Körper braucht so wenig Platz, bringt so wenig Luft in Bewegung; dieser riesige aufgeblasene Panzer für ein so bescheidenes Tier war widerwärtig. Und die vielen aus bestem Stoff extra für ihn angefertigten Anzüge in seinem Schrank: für ihn, den Sohn Blomart.

Er hatte die Tür hinter sich zugeschlagen und war lange Zeit gelaufen. Es war ein schöner Herbsttag. Zwischen den rötlichen Blättern der Kastanienbäume tanzten noch einige frische kräftige Blüten, die sich wohl in der Jahreszeit geirrt hatten. Da ging er, in seinen schönen Schuhen, in seinem gutgeschnittenen Anzug: der Sohn Blomart. Er hatte also doch einen Platz in der Welt, einen Platz, für den er sich nicht entschieden hatte. Er war mit sich selbst nicht zufrieden; aber es beunruhigte ihn nicht sehr: Bestimmt würde alles in Ordnung kommen, bestimmt gäbe es eine Möglichkeit zu leben. Wie hätte er ahnen können, dass die Gefahr in ihm lag? Dass er selbst gefährlich war? Gefährlich wie der Baum an der Ecke des Weges, der, ohne es zu wissen, seinen schwerelosen Schatten verbreitet; gefährlich wie das schwarze harte Spielzeug, das Jacques lächelnd betrachtete. Es schien so harmlos, mit den Händen in den Taschen spazieren zu gehen und den rauchigen Geruch der Bäume einzuatmen. Er stieß mit dem Fuß eine Kastanie fort, die über den Asphalt rollte, hier stahl er niemandem die Luft, die er nun atmete. ‹Es wird keinen Sohn Blomart mehr geben›, dachte er stolz. Das Handwerk könnte man schnell erlernen; höchstens zwei Jahre Lehrzeit. Danach wäre das Brot, das er essen würde, wirklich sein Brot. Er fühlte sich plötzlich sehr glücklich. Er wusste nun, warum seine Kindheit und Jugendzeit immer diesen fauligen Beigeschmack gehabt hatten: Es war der verdorbene Saft der alten Welt, der durch seine Adern floss. Aber er würde die Wurzeln abschneiden und sich neu erschaffen.

Im Treppenhaus roch es nach gebratenen Zwiebeln, und von der Tür hörte man ein verlockendes Knistern. Er klopfte an. «Herein», rief Marcel. Jacques stand mitten in einer dicken beißenden Rauchwolke und beugte sich über eine Pfanne. Jean griff ihm in die Haare: «Na, wie geht’s dem guten kleinen Koch?» Er ging zu Marcel, der faul auf dem Sofa lag: «Tag, Alter.»

«Tag», sagte Marcel und reichte ihm nachlässig die Hand.

Dann fuhr er mit einem Satz hoch:

«Junge, hast du ein Gesicht! Hast du das gesehen, Jacques?»

Jacques wandte sich unwillig von seiner Pfanne ab, in der zwei Würste zischend ihr Fett verspritzten.

«Mein Gott», sagte er, «wer hat dich denn so zugerichtet?»

Jean berührte seine Wange:

«Hab eins mit dem Gummiknüppel abgekriegt», sagte er.

«Da haben sie aber gut zugeschlagen», sagte Jacques. Sein Gesicht war voller Bewunderung. «War es gestern Abend?»

«Ja. In dem Moment, als wir bei Bullier herauskamen, kloppte die Polente auf uns ein.» Seine Stimme klang stolz. Ein Dummkopf, ein Blinder. Er kannte weder die Gefahr seiner Gegenwart noch die Falle, die sich in jedem Wort und in jedem Ton seiner scherzenden Stimme verbarg. Und Marcel ließ mich reden; anstatt mich die Treppe hinunterzuwerfen, lächelte er sein riesiges, kannibalisches, blödsinniges blindes Lächeln.

«Sie hätten dir die Knochen zerbrechen können», sagte Jacques.

«Beruhige dich, mein kleines Pferdchen», sagte Marcel. «Du siehst, er ist nicht zerbrochen.» Er berührte Jeans Schläfe: «Wollen wir das begießen?»

«Gib mir lieber was zu essen», sagte Jean.

Er sah hungrig auf die Würste, die sich auf einem goldgelben Zwiebelbett ausbreiteten, die krosse Haut war geplatzt, und aus den großen Rissen brachen langsam kleine Fleischwülste hervor.

«Du hast noch nicht zu Mittag gegessen?», fragte Marcel. «Traust du dich nicht, dich zu Hause zu zeigen?»

«Leider habe ich mich schon gezeigt», sagte Jean.

«Und es hat Krach gegeben?»

«Das kann man wohl behaupten.» Jean machte einige Schritte und blieb vor der leeren Staffelei stehen: «Weißt du, welcher Gedanke mir vorhin gekommen ist? Ich hätte Lust, bei dem alten Martin Druckerlehrling zu werden, ohne meinem Vater etwas davon zu sagen. Und an dem Tag, an dem ich ausgelernt und einen Beruf habe, verlasse ich das Haus.»

Ich hätte es wissen müssen. Jacques’ Augen glänzten vor ungläubiger Begeisterung. Sie glänzten zu stark.

«Warum?», fragte Marcel. «Was hättest du davon?»

«Ich will aus meiner verlogenen Situation herauskommen!»

«Glaubst du, es gäbe Situationen, die nicht verlogen sind?», fragte Marcel. Er schnitt sich in der Pfanne ein großes Stück Wurst ab und verschlang es. «Wir wollen essen», sagte er.

«Und nun hau ab», sagte er, als das Essen beendet war, und fügte hinzu: «Ich muss arbeiten.»

«Ich haue ab», antwortete ich. Ich sah Jacques an; es war so schön draußen, ich hatte keine Lust, allein zu sein: «Musst du auch arbeiten? Willst du nicht mit mir spazieren gehen?»

Er errötete vor Verwunderung und Freude:

«Soll ich wirklich?»

«Ich habe es dir doch vorgeschlagen.»

Wir hatten uns im Parc Montsouris an einen kleinen Teich gesetzt; ein Schwan glitt langsam über das Wasser, und einige Kinder spielten in unserer Nähe.

«Du hast vielleicht Glück!», sagte Jean zu mir. «Man hat bei dir das Gefühl, du weißt immer genau, was du tun musst.»

«Wenn du dich nicht mit einem Haufen intellektueller Skrupel herumschlagen würdest …»

«Aber ich bin doch ein Intellektueller», sagte Jacques.

Ich zuckte die Achseln.

«Dann finde dich damit ab und philosophiere weiter.»

«Handeln, um zu handeln, wäre ein Selbstbetrug», sagte er. «Aber vielleicht sind meine Bedenken auch ein Selbstbetrug.»

Er sah mich unsicher an. Er war so jung, so leidenschaftlich; für ihn hätte es leicht sein müssen, zu leben; man hätte meinen können, er brauchte sich nur gehenzulassen.

«Du bist zu schüchtern», sagte ich. «So lange, wie du dich danach fragst, ob die Sache des Proletariats auch wirklich deine Sache ist, wird sie es nicht sein. Sag dir einfach: Sie ist meine Sache.»

«Ja», antwortete Jacques, «aber ich kann es nicht ohne einen Grund sagen. Man müsste es schon gesagt haben!» Er sah einen Augenblick auf den großen weißen Schwan, und dann lächelte er: «Ich möchte dir etwas zeigen.»

«Zeig her.»

Er zögerte noch und griff dann in die Tasche:

«Es ist ein Gedicht, mein letztes Gedicht.»

Ich verstand nicht viel von Poesie, aber das Gedicht gefiel mir.

«Ich glaube, es ist ein schönes Gedicht», sagte ich, «mir gefällt es jedenfalls. Hast du schon viele gemacht?»

«Einige. Ich kann sie dir mal zeigen, wenn du willst.»

«Was sagt Marcel dazu?»

«Ach, Marcel, weißt du, er ist mein Bruder», sagte Jacques verlegen.

Vermutlich hielt Marcel seinen Bruder für ein junges Genie. Aber was war er denn eigentlich, er, den ich dort, nahe am Teich, auf dem ein Schwan dahinzog, unter dem sanften Blick der Hausfrauen langsam zu ermorden begann? Was war er nicht?

Von nun an war ich jeden Tag in der Druckerei. Meinem Vater hatte ich gesagt, dass ich die verschiedenen Arbeitsgänge kennenlernen wollte, und nun versank auch ich im Dunstkreis der Arbeit, im unpersönlichen Licht der grün beschirmten Lampen.

«Die Lüftung funktioniert miserabel», sagte ich zu dem alten Martin. «Man müsste neue Gebläse anbringen. Sie sollten mit meinem Vater darüber sprechen.» Er zupfte an seinem Schnurrbart. «Das ist immer so gewesen», sagte er. Sie standen da, eine Handvoll alter Arbeiter, eher Hausangestellte als wirkliche Proletarier; ich hasste ihre devoten Stimmen und ihre unerschütterliche Ergebenheit. Das ist immer so gewesen: gerade deshalb! Zerstören musste man alle diese sinnlosen Lebensbedingungen, die da waren, ohne dass man sie geschaffen hatte. Ich selbst hatte mich, so, wie ich vor der Setzmaschine saß, neu erschaffen. ‹Ich werde es tun.› Ich berührte meinen grauen Leinenkittel: Ich werde die Tür hinter mir zuschlagen und mit leeren Händen und erhobenem Kopf durch die Straßen gehen. Kein Sohn Blomart mehr: nichts als ein Mann, ein wirklicher Mann ohne Makel, der von niemand anderem als sich selbst abhängig ist. Ich hob den Kopf und sah in die Augen eines jungen Arbeiters, der sich schnell abwandte: Unter meinem staubigen Kittel sah er den hellen Tweed-Anzug; wenn ich versucht hätte, mit ihm zu reden, hätte er mich für einen Spitzel gehalten. Ich war immer noch der Sohn des Chefs.

«Wann wirst du dich entscheiden?», fragte Jacques.

«Wenn ich das Handwerk wirklich beherrsche.»

So vergingen zwei Jahre. Ich war inzwischen ein guter Buchdrucker geworden. Ich kannte alle Geheimnisse von Satz und Druck. Und ich ging immer noch nicht fort.

«Wenn ich eine Stellung gefunden habe.»

Aber ich suchte nicht. Es war ihretwegen. Sie war da, starr und stumm, stellte niemals Fragen und war doch immer darauf vorbereitet, beim ersten Schock die Lippen zusammenzukneifen wie bei dem Mittagessen nach der Versammlung bei Bullier, wie an dem Tag, wo sie von Suzons heimlichen Verabredungen erfahren hatte. Wir waren frei – frei, unsere Seelen schmutzig zu machen, frei, unser Leben zu verpfuschen; sie nahm sich nur die Freiheit, darunter zu leiden. Das war schlimmer, als wenn sie etwas gefordert hätte. Ich hätte ihre Forderungen und Vorwürfe hassen können. Aber sie war da, nichts weiter; und ich nahm ihr das übel, ich war böse auf sie, einfach weil sie da war. Gerade ihre Gegenwart hätte ich gern verachtet. Konnte ich sie lieben und ihre Gegenwart hassen? Ich verstand es nicht, und ich kämpfte gegen die Wahrheit. Die Wahrheit über meine Liebe und über deinen Tod. Es war nicht ihre Schuld; es war nicht meine Schuld. Die Schuld war zwischen uns, und wir konnten nur voreinander fliehen. Vor ihr fliehen und vor dem Kummer, den ich ihr durch meine Schuld bereitete, vor mir selbst fliehen, um nicht das Geheimnis, das auf ihr lastete, in mir erkennen zu müssen.

«Du brauchst doch nur mit ihr zu reden. Sie wird es schließlich verstehen.»

Eines Abends ging er zu ihr. Sie saß in dem kleinen Salon bei einer Lampe; sie las. Sie hatte vor einem Jahr ihre schönen schwarzen Haare abschneiden lassen, und nun lagen sie kurz und dicht um ihren Kopf; selbst in ihren Haaren war noch menschlicher Reichtum: Frauenhaare, die von intelligenten Händen gepflegt, gebürstet und frisiert wurden. Er sah sie lange an und setzte sich dann ihr gegenüber. Er fing sofort an, davon zu reden: «Weißt du, Mama, ich werde die Druckerei nicht übernehmen.» Sie hörte einen Augenblick zu, dann richtete sie sich auf, stützte beide Hände auf die Sessellehnen und rief empört: «Aber das ist doch sinnlos!» Die Entrüstung gab ihrer Stimme einen mondänen Klang.

Er flehte:

«Bitte, Mama, versuch mich zu verstehen; ich bin gegen dieses System; wie könnte ich damit einverstanden sein, einen Nutzen daraus zu ziehen?»

«Aber du hast doch schon einen Nutzen daraus gezogen; du entziehst dich jetzt nur noch deinen Pflichten. Deine Erziehung, deine Gesundheit, all das verdankst du deinem Vater, und nun, wo er dich braucht, willst du ihn im Stich lassen!»

«Alle Vorteile, die ich bisher hatte, bekam ich, ohne es zu wollen. Ich glaube nicht, dass mir irgendeine Verpflichtung daraus entstanden ist.»

Sie stand auf, ging zum Flügel und ordnete einige Blumen in einer Vase; dann drehte sie sich um:

«Worauf wartest du dann noch? Warum sprichst du nicht mit deinem Vater?»

«Ich wollte zuerst mit dir sprechen.»

«Das ist unanständig. Du hast ihn deine Lehrzeit bezahlen lassen; und nun isst du in aller Ruhe an seinem Tisch, bis du eine Stellung gefunden hast: Du machst es dir wahrhaftig leicht.»

Er starrte sie ärgerlich an. Alles, was sie ihm nun vorwarf, sein Zögern und seine Feigheit, hatte er ihretwegen getan. Auch sie starrte ihn an, mit zusammengepressten Lippen, auf ihren Backenknochen standen rote Flecke. Einen Augenblick lang sahen sie einander scharf an, und jeder fürchtete, in dem anderen das Abbild seiner eigenen Schwäche zu erblicken.

«Gut, ich werde sofort mit ihm reden.»

«Es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben.»

Die Stimme war rau und schneidend. Er hörte noch eine andere, bittende Stimme in ihr: ‹Wenn er doch noch nicht reden, wenn er doch noch eine kurze Zeit bei mir bleiben würde.› Aber weder sie noch er durfte diesem stummen Stammeln folgen. Er verließ den Salon; im Vorbeigehen versetzte er einem Seidenpuff einen Tritt. Dieser zänkische Gerechtigkeitssinn, mit dem sie sich leidenschaftlich für den Mann, den sie nicht liebte, einsetzte! Immer bereit, sich als Erste zu opfern und mit sich selbst das zu opfern, woran sie am meisten hing. Sie hat es so gewollt. Außerdem hat sie recht, ich kann nicht anders. Er ging in die untere Etage und klopfte an die Tür des Büros.

«Ich möchte mit dir reden.»

«Setz dich.»

Er hatte sich gesetzt. In der Freude, endlich davon befreit zu werden, hatte er ohne Schüchternheit und Umschweife geredet. Da man ihn dazu aufgefordert hatte, war er glücklich, nun alle Brücken hinter sich abbrechen zu können; auf diese Weise würde er wirklich in den Lebenskampf geworfen; es bestünde kein so großer Unterschied mehr zwischen ihm und einem Arbeitslosen, der sich sein tägliches Brot zu verdienen sucht. Er leerte sein Portemonnaie auf dem Schreibtisch aus. «Ich schwöre dir, dass ich nichts mehr von mir hören lassen werde.»

‹Ich habe es getan.› Er öffnete seinen Schrank und sah erleichtert auf die Anzüge, die auf den Bügeln hingen. Das war zu Ende. Er breitete eine alte Ausgabe der Humanité auf dem Bett aus und legte Zahnbürste, Seife und Rasierapparat darauf. Er zögerte eine Sekunde, dann nahm er noch ein Hemd, Taschentücher, zwei Unterhosen und drei Paar Socken. Das Paket würde nicht allzu schwer sein. ‹Ich werde mich bei Thierry, bei Coutant & Fils und bei Faber vorstellen.›