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Über den Autor

Richard Lorenz

 

Richard Lorenz, geboren 1972 in Freising, und heute in München lebend, arbeitete im Bereich der onkologischen Pflege und Palliativmedizin, als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung Freising und als Konzertveranstalter, bevor er sich ganz auf das literarische Schreiben konzentrierte. Zahlreiche seiner Kurzgeschichten wurden seither veröffentlicht. Im Frühjahr 2014 erscheint zudem sein erster Roman »AMERIKA PLAKATE oder wie Leibrand aus der Welt fiel« in der Edition Phantasia.

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-95607-007-5

 

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Richard Lorenz, Kinderland – Teil 3: Sommerwolken

 

Die Zeit kennt kein Erbarmen – so wie die Geister der Vergangenheit, die noch immer die Träume der Menschen heimsuchen. Das Jahrhundertunwetter vor dreizehn Jahren hat die Einwohner der Stadt wie eine Sintflut bestraft, doch der Weg zur Erlösung ist noch weit. Und nur die guten Seelen sind bereit, ihn zu gehen.

 

Die Morphin-Tabletten lassen nach, aber ich darf heute keine mehr nehmen. Das wäre leichtsinnig. Ach, was soll’s … was soll’s. Eigentlich sollte ich schon längst im Bett sein, aber wer weiß, ob ich mich morgen noch an alle Einzelheiten erinnern kann. Geschichten wollen erzählt werden, vor allem Geschichten, die wahr sind. Rücken Sie ruhig noch ein wenig näher, ich beiße ja nicht. Ich nicht …

Die Kinder von 1986 sind erwachsen geworden, doch die Schrecken jener Allerheiligennacht sind unvergessen. Knapp dreizehn Jahre später braut sich über der kleinen Stadt in Bayern erneut ein Sturm zusammen, ein Geistergewitter aus Erinnerungen und Entsetzen. Die Kinder von damals wissen nicht, was geschehen wird, doch sie ahnen, dass ihre Zeit nun gekommen ist. Mit tapferen Herzen machen sie sich auf den Weg ins Kinderland. Dorthin, wo die Lebenden die Antworten begraben haben, nach denen die Toten so unerbittlich verlangen.

 

»Sommerwolken« ist der dritte Teil der Mystery serial novel »Kinderland« – sie kommen!

Ich hörte sie singen, dort draußen. In jenem Herbst des Jahrhundertunwetters 1986. Stimmen und Schreie und eine Menge toter Menschen.

Ich ging zu einigen Beerdigungen. Der lehmige Boden eingesunken, die Särge aufgereiht. Ich meide Begräbnisse. Nicht so wie die alten Weiber, die sich keines entgehen lassen. Sie wissen schon, jene Art von alten Damen, die man schon von weitem riechen kann. Sie riechen nach Mottenkugeln und einem Hauch von Weihrauch. Nach Verfall und kranker Vorfreude auf das Paradies. Einem Paradies, das es nicht gibt. Nicht hier, und schon gar nicht dort. Das haben mir die Geister verraten.

Während der Priester eine seiner Reden hielt (wie gewohnt ein wenig angetrunken), ging ich ein Stück weg von der offenen Grube und sah mich um. Ich holte meine Kamera aus der Manteltasche, Gott weiß, warum ich sie eingesteckt hatte. Zum Glück hat es niemand bemerkt, denn dann würde ich heute nicht vor meinem Haus sitzen, sondern in der geschlossenen Abteilung. Und ich glaube nicht, dass Sie sich dann meine Geschichte anhören würden, oder?

Ich ging hinter die letzten Reihen der Grabsteine (die blutroten Buchstaben darauf begannen zu verblassen) und blickte durch den Sucher der Kamera. Sie saßen auf dem Dach der Leichenhalle wie stumme Krähen auf einer Telefonleitung. Einige sprangen von Grabstein zu Grabstein, oder vielmehr schwebten sie, als würden sie an unsichtbaren Fäden gezogen. Leichenblasse Mondkinder, unzählige.

Damals dachte ich mir, dass das wohl der Preis dafür war. Dafür, dass wir die Kinder dort oben vergessen hatten. 1973. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es nur wegen des Grabhügels so gekommen ist. Vielmehr denke ich, dass die Kinder im Murr-Haus nur der berühmte letzte Tropfen waren, die das Fass zum Überlaufen brachten. Natürlich spreche ich von der Sache mit dem Kinderland.

Ein Sprichwort sagt: Wer Wind sät, wird Sturm ernten.

Und so war es dann auch.

 

Nicht mehr lange, und ich werde bei meiner Frau sein. Im Himmel oder sonst wo. Die Morphin-Tabletten lassen nach, aber ich darf heute keine mehr nehmen. Das wäre leichtsinnig. Ach, was soll’s … was soll’s. Eigentlich sollte ich schon längst im Bett sein, aber wer weiß, ob ich mich morgen noch an alle Einzelheiten erinnern kann. Geschichten wollen erzählt werden, vor allem Geschichten, die wahr sind. Rücken Sie ruhig noch ein wenig näher, ich beiße ja nicht. Ich nicht …

 

Das Allerheiligenmädchen lag im Koma, und die Welt drehte sich weiter. 1986. Der Winter kam über die Stadt und schließlich ein neues Jahr. Die Leute waren auf der Hut, wussten aber nicht mehr, wovor, vor wem. Drehten sich auf der Straße um, weil sie glaubten, Schritte zu hören. Schliefen schlecht, träumten nicht mehr von schönen Dingen, hofften, überhaupt nicht mehr zu träumen.

Ob danach noch Kinder verschwanden? Ich weiß es nicht. Der Pulsschlag der Stadt hatte sich verändert. Es war den Leuten eine Lehre gewesen, um es so zu sagen. Wer wollte schon zum nächsten Allerheiligen in der Leichenhalle hängen? Oder liegen? Auch wenn wir die Gespenster nicht sehen konnten, konnten wir sie doch spüren. Sie waren da. In der Einsamkeit unserer Träume, in den Herzen voller Schuld.

Noch eine kleine Wahrheit auf den Weg: Der Mensch vergisst. Oder besser: Der Mensch verdrängt die Dinge, die ihm nicht gefallen. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, je mehr Zeit verstrichen war. Damals … Wir brauchten nicht viel, und das Geld, das meine Frau verdiente, reichte für uns beide. Wir haben keine Kinder, wissen Sie? Ach, das hab ich schon erzählt? Richtig … Nun, ich übernahm den Haushalt und das Kochen. Sie können mich mitten in der Nacht aufwecken und ich zaubere ihnen einen Kartoffelauflauf – meine Frau liebte Kartoffelauflauf … Jedenfalls vergaßen die Leute die Allerheiligennacht und das, was passiert war, oder sie verdrängten es, so genau kann ich das natürlich nicht sagen. Das Jahrhundertunwetter und die Leichen, die seltsamen Geschehnisse in jenem Herbst. Aber wir alle wussten: Das Feuer war entzündet. Denn das Allerheiligenmädchen war nicht alleine gewesen bei ihrem mutigen Versuch, die Stadt, die Kinder zu retten. Sie sind alle noch hier, und sie waren natürlich auch 1999 hier. Karlas Freunde aus jener Nacht.

Erinnern Sie sich an das, was ich über die Zyklen gesagt habe? Alles wiederholt sich, alles kommt wieder. Es ist unsere Aufgabe, diese Dinge zu beeinflussen. Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die Kinder von 1986 sind erwachsen geworden. Viele von ihnen zogen weg von hier. Ich hätte dasselbe getan.

Was halten Sie von dem Gedanken, dass Menschen andere Menschen so stark beeinflussen können, dass sie sich verändern? Ich glaube daran. Wenn Sie ein Mädchen vor dem Ertrinken retten, dann verändern sich zwei Leben. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Ich glaube, das funktioniert auch mit Träumen. Jedenfalls, wenn die Träume stark und hell genug sind.

Wir werden gleich Thomas, Leonard und Magdalena begegnen. Von Karlas Bruder werden wir auch hören. Geschwisterherzen können außerordentlich stark sein. Stärker als Löwenherzen.

Wir kommen dem Wunder näher. Haben Sie noch ein wenig Geduld. Das Jahr 1999 war eine Zeit, in der man vor allem eines haben musste: Geduld.

Denn zur Erlösung ist es ein weiter Weg.

Die verlorenen Erwachsenen

Sommer 1999

 

Tom

 

Thomas Dobler, den früher alle Tom genannt hatten (heute tun das nur noch wenige, manchmal seine Frau), hatte mehrmals versucht, der dunklen Stadt und ihren noch dunkleren Träumen zu entkommen. Den alten VW-Bus mit den Rostflecken an beiden Türseiten vollgestopft mit allem, was er finden konnte, auf schmalen Straßen unterwegs, weg von dort. Aber schon im ersten Motel, ein flackerndes Werbeschild mit gebrochenen Neonröhren über dem Fenster, hatte ihn dieses Gefühl von Übelkeit eingeholt. Tom kannte es nur zu gut. Selbst auf kleinen Booten und ruhigem Wasser musste er sich nach nur wenigen Minuten übergeben. Kalkweißes, verschwitztes Gesicht, das ihn aus dem fleckigen Spiegel über dem dreckigen Waschbecken anstarrte. Noch ein paar Stunden Fahrt, und er hätte ein neues Leben erreicht. Ein Leben fernab der alten Geschichten und der alten Träume; ein neues Leben hinter den Augen, die so viel gesehen hatten. Zu viel.