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Markus Schäfers, Gudrun Wansing (Hrsg.)

Teilhabebedarfe von Menschen mit Behinderungen

Zwischen Lebenswelt und Hilfesystem

Verlag W. Kohlhammer

 

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1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-029370-0

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029371-7

epub:    ISBN 978-3-17-029372-4

mobi:    ISBN 978-3-17-029373-1

 

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. Theoretisch-konzeptionelle Grundlegung von Behinderung und Teilhabebedarf
  3. Zur Einführung: Teilhabebedarfe – zwischen Lebenswelt und Hilfesystem
  4. Markus Schäfers und Gudrun Wansing
  5. 1 Hohe Relevanz bei gleichzeitiger Unbestimmtheit der Begriffe
  6. 2 Zum Begriff des Bedarfs
  7. 3 Teilhabe als zentraler Bezugspunkt von Bedarf
  8. 4 Problematisierung des Teilhabebedarfs: zwischen Lebenswelt und Hilfesystem
  9. 5 Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung als Schaltstellen
  10. 6 Übersicht über die Beiträge in diesem Band
  11. Literatur
  12. Der Bedarfsbegriff »revisited« – Aspekte der Begründung individueller Ansätze zur Bedarfserhebung und -umsetzung
  13. Iris Beck
  14. 1 Einleitung
  15. 2 Bedarf als sozialpolitische und fachliche Kategorie: eine erste Differenzierung der Verwendungszusammenhänge
  16. 3 Ursprünge und Motive der »Individualisierung« von Bedarfslagen – mehr als »individueller Hilfebedarf«
  17. 4 Spannungsfelder der Leistungserbringung
  18. 5 Perspektiven: Ansatzpunkte zur Begründung und Umsetzung eines »individuellen Teilhabebedarfs«
  19. Literatur
  20. Welche Bedeutung hat das Behinderungsverständnis der ICF für die Erhebung von Teilhabebedarfen?
  21. Marianne Hirschberg
  22. 1 Der Behinderungsbegriff der ICF vor dem Hintergrund der UN-BRK und des SGB IX
  23. 2 Gesellschaftliche Teilhabe aus Menschenrechtsperspektive
  24. 3 Potenzial der ICF für das Verständnis von Teilhabebedarfen
  25. 4 Veranschaulichung der Konstruktion von gesellschaftlichen Barrieren und Unterstützungsfaktoren in der ICF
  26. 5 Fazit
  27. Literatur
  28. Problematisierung des Bedarfsbegriffs
  29. Reflexionen zum Blick auf das Individuum in der Bedarfsermittlung
  30. Imke Niediek
  31. 1 Einleitung
  32. 2 Individuelle Teilhabeplanung als Produkt gesellschaftlicher Problemstellungen
  33. 3 Bedarfsermittlung als normalisierende Praktiken
  34. 4 Das autonome Subjekt als Grundlage der Bedarfsermittlung
  35. 5 Das Subjekt anders denken – ein Ausblick?
  36. Literatur
  37. Teilhabebedarfe im Sozialrecht
  38. Felix Welti
  39. 1 Einleitung
  40. 2 Bedarf ist nicht gleich Anspruch
  41. 3 Bedarfsfeststellung gehört sozialrechtlich zur Amtsermittlung
  42. 4 Übergreifende Teilhabeplanung ist Pflicht der Rehabilitationsträger
  43. 5 Individuelle Planung und Infrastrukturverantwortung
  44. Literatur
  45. Partizipation im Kontext von Bedarfsfeststellung – empirische Beispiele aus den Bereichen medizinischer Rehabilitation und Teilhabe am Arbeitsleben
  46. Andreas Weber
  47. 1 Einleitung
  48. 2 Partizipation
  49. 3 Bedarfsermittlung
  50. 4 Beispiel aus der medizinischen Rehabilitation
  51. 5 Beispiel Teilhabe am Arbeitsleben – Forschung und Praxis
  52. 6 Ausblick
  53. 7 Fazit
  54. Literatur
  55. Ethische Aspekte der Ermittlung von Hilfebedarfen im betreuten Wohnen bei Personen mit hohem Unterstützungsbedarf
  56. Sigrid Graumann
  57. 1 Rechte auf Selbstbestimmung und Inklusion
  58. 2 Ein Blick auf die Behindertenhilfe aus ethischer Sicht
  59. 3 Integrative Ethik
  60. 4 Ethische Kriterien für die Bestimmung von Hilfebedarfen
  61. Literatur
  62. Bedarfsfeststellung in der Anwendung
  63. Qualifizierte Hilfeplanung und -beratung in der Eingliederungshilfe – Erkenntnisse aus Evaluationsstudien im Rheinland
  64. Erik Weber, David Cyril Knöß und Stefano Lavorano
  65. 1 Einleitung
  66. 2 Qualifizierte Beratung im Kontext Individueller Hilfeplanung
  67. 3 Wohnberatung für Menschen mit Behinderung
  68. 4 Der Einfluss von Hilfeplanerstellerinnen und -erstellern auf die Bedarfserhebung im Rahmen einer stationären Folgehilfeplanung
  69. 5 Fazit – Beratung im (Reform-)Prozess der Eingliederungshilfe
  70. Literatur
  71. Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung
  72. Albrecht Rohrmann
  73. 1 Einleitung
  74. 2 Anforderungen an die Feststellung von Teilhabebedarfen im Rahmen einer individuellen Teilhabeplanung
  75. 3 Individuelle Teilhabeplanung im Rehabilitationsgeschehen
  76. 4 Individuelle Teilhabeleistungen und die Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens
  77. 5 Ausblick: Personenzentrierte Planung und die Koordination von Leistungen durch Teilhabezentren
  78. Literatur
  79. Bedarfsfeststellung und Integrierte Teilhabeplanung
  80. Petra Gromann
  81. 1 Entstehungsgeschichte der Integrierten Teilhabeplanung und konzeptionelle Eckpunkte
  82. 2 Die Entwicklungsgeschichte des Instrumentes ITP
  83. 3 Der Anspruch des ITP als ein leistungsträgerübergreifendes einheitliches Verfahren
  84. 4 Regionale koordinierende Vermittlung und Abstimmung
  85. 5 Zeitbezug und Absicherung der Finanzierung
  86. 6 Teilhabeplanung im Dialog mit Betroffenen
  87. 7 Abkehr von einer »defizitorientierten« Beschreibung im Kontext von Bedarfsermittlung – gelingt dies über die Nutzung der ICF?
  88. 8 Barrieren der Umsetzung von Teilhabeplanungsverfahren
  89. 9 Anwendungspraktische Hinweise für Organisationen von Leistungserbringern
  90. 10 Anwendungspraktische Hinweise für Leistungsträger der Eingliederungshilfe
  91. 11 Umsetzungsanforderungen einer personenzentrierten und integrierten Teilhabeplanung in der Eingliederungshilfe
  92. Literatur
  93. Teilhabe als kommunikativer Aushandlungsprozess
  94. Gudrun Dobslaw
  95. 1 Einleitung
  96. 2 Soziolinguistische Perspektiven auf Teilhabegespräche
  97. 3 Ausgewählte kommunikative Strategien in Teilhabegesprächen
  98. 4 Lässt sich Partizipation in Teilhabegesprächen realisieren?
  99. Literatur
  100. Autorinnen und Autoren

Vorwort

 

 

 

»Die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen […]

von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine

Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation.«

(Habermas 1981, 522)

Vor einigen Jahren begleiteten wir einen großen Träger der Behindertenhilfe dabei, in eine seiner Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung das Persönliche Budget einzuführen. Eine der ersten Schritte bestand darin, die Leistungsentgelte der Einrichtung aufzuschlüsseln und die Finanzierungslogik konsequent personenbezogen umzustellen, also auf den jeweiligen Bewohner bzw. die jeweilige Bewohnerin der Einrichtung zu beziehen. Den einzelnen leistungsberechtigten Personen gegenüber wurde transparent gemacht, in welchem Maße (übersetzt in Geld oder Zeit) sie einen Anspruch auf Unterstützung haben – ein, wie man meinen könnte, selbstverständlicher, in der Praxis aber im wörtlichen Sinne radikaler Akt.

Nun ist die Leistungssystematik in der Eingliederungshilfe eine komplizierte Angelegenheit: Von Investitionsbetrag, Grund- und Maßnahmepauschale ist da die Rede. Wortungetüme wie Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen, nach denen sich die Finanzierung unterscheidet, schwirrten durchs Haus – bis ein Bewohner der Einrichtung in einem Gespräch mit seiner Bezugsmitarbeiterin die Frage stellte: »Was bin ich für ein Leistungstyp?«

Die Doppeldeutigkeit der Wortverwendung »Leistungstyp« sorgte für Schmunzeln. Uns blieb sie lange im Gedächtnis. Die Situation zeigt – sprachlich vermittelt –, wie das Hilfesystem in die Lebenswelt eindringt und diese (im Sinne Habermas’) »kolonialisiert«. Für uns verdichtete sich in dieser Momentaufnahme die Widersprüchlichkeit der Planung und Bemessung von Unterstützungsleistungen: Es geht darum, einen Alltag aus der Perspektive eines Menschen, der Unterstützung benötigt, um ein Leben nach »eigensinnigen« Vorstellungen leben zu können, mit sozialstaatlichen Konzepten, Terminologien und Instrumenten abbildbar, handhabbar und für das Hilfesystem anschlussfähig zu machen.

Diese Widersprüchlichkeit – so meinen wir – zeigt sich in besonderer Weise für den »Teilhabebedarf von Menschen mit Behinderungen«, weshalb wir diesem Buch den Untertitel »Zwischen Lebenswelt und Hilfesystem« gegeben haben. Mit dem Buch wollen wir dem Teilhabebedarf als ›Vermittler zwischen den Welten‹ auf die Spur kommen. Diesen Ort für Reflexion und Erkenntnisgewinn zu schaffen, erscheint uns lohnenswert – vor allem als Spiegel für Wissenschaft und Fachpraxis, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich Unterstützungssysteme an die Vorstellungen von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen anpassen – und nicht umgekehrt.

Dieser Band knüpft an den Workshop Teilhabebedarfe im interdisziplinären Diskurs der Arbeitsgruppe Teilhabeforschung des Forschungsverbunds für Sozialrecht und Sozialpolitik (FoSS) der Hochschule Fulda und Universität Kassel im Jahre 2014 an. Aus diesem Workshop ist die Idee dieses Sammelbands erwachsen, insofern gilt unser Dank allen dort engagierten Expertinnen und Experten.

Als Herausgeberin und Herausgeber bedanken wir uns bei all jenen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Dies sind zuvorderst alle Autorinnen und Autoren, Frau Viviane Schachler, die uns fachkundig bei Manuskripterstellung und Lektorat unterstützt hat, sowie Herr Dr. Klaus-Peter Burkarth und Herr Dr. Marco Neumaier vom Verlag.

Den Leserinnen und Lesern dieses Buches wünschen wir gewinnbringende Einsichten.

 

Fulda/Kassel, April 2016

Markus Schäfers und Gudrun Wansing

 

Literatur

Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Zweiter Band: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

 

 

 

Theoretisch-konzeptionelle Grundlegung von Behinderung und Teilhabebedarf

Zur Einführung: Teilhabebedarfe – zwischen Lebenswelt und Hilfesystem

Markus Schäfers und Gudrun Wansing

 

Im professionellen Hilfesystem für behinderte Menschen werden wesentliche Weichen für das gesamte Rehabilitationsgeschehen dadurch gestellt, dass Bedarfe definiert, ermittelt, anerkannt und bemessen werden. Diese Entscheidungen sind maßgeblich dafür, ob überhaupt ein Anspruch auf sozialstaatliche Unterstützung bzw. auf Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe besteht, welche Programme und Maßnahmen in welchem Umfang in Frage kommen und welche Institutionen und Akteure im weiteren Rehabilitationsgeschehen Einfluss nehmen.

Für die Einrichtungen und Dienste bestimmen die Anerkennung von Bedarfen und die daran geknüpfte »Kostenzusage« im Einzelfall wesentlich die Spielräume für professionelles Handeln. Für Menschen mit Beeinträchtigungen ist die Anerkennung und Bemessung ihrer Bedarfe folgenreich für Möglichkeiten der Lebensführung bzw. für Lebenschancen insgesamt, werden diese doch ganz wesentlich auch von Art und Ausmaß der (bewilligten bzw. verwehrten) Unterstützungsleistungen bestimmt.

 

1           Hohe Relevanz bei gleichzeitiger Unbestimmtheit der Begriffe

 

Angesichts dieser hohen praktischen Relevanz des Bedarfsbegriffs für alle Beteiligten im Rehabilitationsgeschehen könnte man annehmen, es herrsche in Fachkreisen weitgehende Transparenz und Einigkeit darüber, was ein Bedarf bzw. ein Teilhabebedarf im Kern sei, woran er festzumachen oder wovon er abzugrenzen sei. Zumindest könnte man meinen, dass um die Beantwortung dieser Fragen, deren Antworten weitreichende Konsequenzen in der Praxis der Leistungsgewährung haben, in Fachdiskursen intensiv und ausgiebig gerungen werde. Nach unserer Einschätzung ist jedoch beides nicht der Fall.

Bei einer ersten Annäherung an Wortbedeutungen und Verwendungszusammenhänge von Bedarf stellen wir vielmehr insgesamt eine begriffliche und konzeptionelle Unbestimmtheit fest. Dies gilt insbesondere für fachpraktische und -politische Felder. Auch eine sozialrechtliche Definition von Bedarf im Kontext des SGB IX gibt es nicht. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen (vgl. z. B. Beck 2002; Niediek 2010) fehlt es an theoriebasierten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Bedarfsbegriff ebenso wie an empirischer Forschung zur Praxis der Bedarfsfeststellung (für den Bereich der Behindertenhilfe vgl. Kulig 2006; Ratz, Dworschak & Gross 2012; für den Bereich berufliche Rehabilitation vgl. BAR o. J.). Wissenschaftliche Zugänge und Bewertungsgrundlagen zum Teilhabebedarf werden – wenn überhaupt – separiert in einzelnen disziplinären Diskursen geführt, z. B. der Behindertenpädagogik, der Sozialmedizin und des Sozialrechts (eine Zusammenführung findet sich im Schwerpunktheft Recht und Praxis der Rehabilitation 1/2015). Zudem zeigt sich eine geringe wechselseitige Wahrnehmung und Bezugnahme der fachlichen Auseinandersetzung im Kontext der sozialen Teilhabeleistungen (Behindertenhilfe mit Bezug auf den Leistungsbereich der Eingliederungshilfe) einerseits und der medizinischen und beruflichen Rehabilitation andererseits.

Der vorliegende Band stellt die grundlegenden Fragen danach, was ein Bedarf bzw. ein Teilhabebedarf eigentlich ist und wer auf welche Weise und mit welchen Folgen an der Konstruktion dieser für das Rehabilitationsgeschehen zentralen Kategorie beteiligt ist. Es geht um Ansätze der fachlichen Begründung, um die Reflexion von Macht und Deutungsansprüchen sowie um Fragen der praktischen Umsetzung von Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung. Die Beiträge nähern sich diesen Fragen aus verschiedenen disziplinären Perspektiven, die in der Zusammenführung ein facettenreiches Bild des Gegenstandes »Teilhabebedarfe behinderter Menschen« entstehen lassen.

Im Folgenden versuchen wir zunächst eine grundlegende Hinführung zum Begriff (Teilhabe-)Bedarf. Bereits zu Beginn dieses Buches wollen wir damit zu einer Schärfung des Begriffsverständnisses beitragen und zugleich den Bedarfsbegriff im Spannungsfeld zwischen Lebenswelt und Hilfesystem problematisieren.1 Im Anschluss geben wir eine Übersicht über die in diesem Band versammelten Beiträge.

 

2           Zum Begriff des Bedarfs

 

In einem ersten Zugang nähern wir uns dem Begriffsverständnis über die Wortbedeutung von »Bedarf«. Laut Duden (2016) sind Synonyme: »Bedürfnis, Interesse, Nachfrage; (gehoben) Notdurft und Verlangen«. Abstrahiert man die Essenz dieses Wortfelds, bezeichnet der Bedarf – bildlich gesprochen – eine Lücke zwischen dem, was aktuell ist, und dem, was sein muss, soll bzw. was gebraucht oder gewünscht wird.

Seine Wortherkunft lässt sich auf das mittelniederdeutsche bedörven (= bedürfen) zurückführen (vgl. Kluge 2012). »Bedürfen« wiederum lässt sich aufschlüsseln in das Verb »dürfen« und das Präfix »be-». Dürfen enthält Bedeutungsschichten wie »nötig haben«, »brauchen«, »entbehren«, »sich sättigen«, »befriedigt werden« (vgl. Köbler 1995, 93). Be- gibt dem Verb eine Richtung im Sinne der Präpositionen »auf«, »zu«, »hin« und »bei« (vgl. ebd., 40). Zusammenfassend bezeichnet der Bedarf somit ein »gerichtetes Nötig-Haben« oder ein »konkretisiertes Brauchen«.

Eine ähnliche Wortverwendung ist in der Wirtschaftswissenschaft zu beobachten, die im Kontext des Konsumverhaltens eine Unterscheidung von Bedürfnis, Bedarf und Nachfrage kennt (vgl. Weber & Kabst 2009). In diesem Sinne sind Bedürfnisse zurückzuführen auf das menschliche Streben danach, einen subjektiv empfundenen Mangel auszugleichen, seien es physiologische Grundbedürfnisse wie Nahrung und Schlaf oder soziokulturell geprägte Bedürfnisse wie Selbstverwirklichung, -aktualisierung und Individualität der Lebensführung (in westlich-demokratischen Gesellschaften). In diesem Sinne handelt es sich bei Bedürfnissen um vorökonomische Erscheinungen. Der Bedarf hingegen wird als ein ökonomisches Phänomen hervorgebracht (vgl. ebd., 3). Es handelt sich um eine erste inhaltliche Konkretion insofern, als der Bedarf das konkrete Verlangen nach Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse bezeichnet. Zum Beispiel kann das biologisch begründete Bedürfnis nach Nahrung durch unterschiedliche Produkte (Nahrungsmittel) oder Dienstleistungen (Restaurant, Lieferdienst) gestillt werden. Von Nachfrage wird dann gesprochen, wenn der Bedarf auf einem Markt an Wirtschaftsgütern (Produkte und Dienstleistungen) zum Kaufentschluss führt (vgl. Fleßa & Greiner 2013, 6 f.).

Bedarf lässt sich somit als ein vorläufiger Endpunkt eines Übersetzungsvorgangs beschreiben, in dem ein Bedürfnis von außen konkretisiert und gleichsam verobjektiviert wird (vgl. ebd.).

»Der Bedarfsbegriff stellt gegenüber der ›Bedürfnisorientierung‹ oder dem ›Bedürfnis‹ […] deutlicher die soziale Steuerung und Beeinflussung, die Dynamik, zeitliche Begrenztheit und Veränderlichkeit heraus. Das Grundbedürfnis wird als Erleben eines Spannungszustandes […] wirksam, auch ohne dass es als solches bewusst identifiziert werden muss. Zwischen diesem Spannungszustand und einer tatsächlichen Nachfrage nach etwas Bestimmten entwickelt sich die Konkretisierung im Sinne des aktuell und konkret gewordenen Bedarfs« (Beck 2002, 40).

An dieser Stelle wird bereits das – in diesem Band noch genauer auszuleuchtende – Spannungsfeld zwischen Lebenswelt und Hilfesystem deutlich, in dem sich der Bedarfsbegriff bewegt: Im Sozialwesen respektive im Bereich der Rehabilitation werden subjektive Bedürfnisse in sozialstaatliche Bedarfskategorien transformiert, damit sie anschlussfähig an verobjektivierte sozialrechtliche Anspruchs- und Leistungskategorien werden und durch konkrete soziale Güter und Dienstleistungen bearbeitet werden können. Das subjektiv geäußerte Bedürfnis einer Person mit Beeinträchtigungen nach »mehr Freundinnen« oder »mehr Unternehmungen« z. B. wird übersetzt in einen Bedarf an pädagogischer Unterstützung, der in der Leistungskategorie der Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft verankert und über Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe vermittelt wird.

 

3           Teilhabe als zentraler Bezugspunkt von Bedarf

 

Als Begriff, der auf etwas hin gerichtet ist, lässt sich ein Bedarf nur anhand eines bestimmten Referenzpunktes inhaltlich konkretisieren (Bedarf an oder für was?). Im Kontext sozialstaatlicher Leistungen handelt es sich beim Bedarf insofern immer um eine normative, soziokulturell geprägte und veränderbare Kategorie.

Im Kontext des Unterstützungssystems für Menschen mit Behinderungen stellt seit etwa der Jahrtausendwende »Teilhabe« den zentralen normativen Bezugspunkt für die Definition, Feststellung und Bemessung von Bedarfen dar, der sich auch in dem zunehmend verbreiteten Begriff »Teilhabebedarfe« niederschlägt (vgl. beispielweise BAGüS 2015; BAR 2014; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2009; Fachverbände für Menschen mit Behinderung 2014; Landschaftsverband Rheinland 2015). Zuvor wurde in Fachdiskursen vornehmlich der Begriff »Hilfebedarf« verwendet, der auf »die Angewiesenheit auf soziale oder materielle Mittel oder Leistungen zur Behebung einer konkreten, inhaltlich bestimmten Notlage« (Beck 2002, 47) gerichtet ist. Mit dem Begriff Teilhabebedarf soll ein modernes Verständnis von Unterstützung zum Ausdruck kommen, das der Zielorientierung sozialstaatlicher Leistungen (gesellschaftliche Teilhabe) stärkeres Gewicht verleihen soll. Intendiert ist die Abkehr von pauschalen Unterstützungsleistungen, die von vergleichbaren Hilfebedarfen einer Gruppe der »Behinderten« ausgehen und an deren Versorgung orientiert sind, und die Hinwendung zu individuell passenden (personzentrierten) Hilfen, die eine selbstbestimmte Lebensführung und soziale Teilhabe ermöglichen sollen.

Schubkraft hat der Leitbegriff Teilhabe von der 2001 verabschiedeten »International Classification of Functioning, Disability and Health« (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekommen. Diese basiert auf einem bio-psycho-sozialen Modell von Krankheit, Gesundheit und Behinderung und misst der Teilhabe (participation) an der Gesellschaft einen besonderen Stellenwert zu. Das in Deutschland im Jahr 2001 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch Neuntes Buch »Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen« (SGB IX) sowie das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 greifen diese Konzeption auf und richten den rechtlichen Behinderungsbegriff an den Folgen von Beeinträchtigungen für die gesellschaftliche Teilhabe aus. Auch die 2006 in Kraft getretene UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2008 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert und seit 2009 geltendes Recht) markiert einen Meilenstein für eine neue, menschenrechtsbasierte Sichtweise auf Behinderung und einen veränderten gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung. Zentraler Grundsatz ist die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft« (»full and effective participation and inclusion in society«; Art. 3c UN-BRK). Wie gesellschaftliche Teilhabe konkret zum Ausdruck kommt, wird in den einzelnen Artikeln der UN-BRK ausbuchstabiert, z. B. in Bezug auf Barrierefreiheit und Zugänglichkeit, Gesundheit, Bildung, Arbeit, selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft.

Im Spiegel dieses Verständnisses von Teilhabe und dem oben formulierten Befund, dass der Bedarf ein »konkretisiertes Brauchen« bezeichnet, zielt der Begriff Teilhabebedarf also auf das, was jemand an Bedingungen, Kompetenzen und Ressourcen braucht, um Teilhabe an der Gesellschaft zu verwirklichen – und nicht etwa unmittelbar auf das, was an Teilhabe gebraucht wird für ein (wie auch immer gefasstes) gutes Leben. »Ein Bedarf besteht, wenn erwünschte und angemessene Teilhabeziele behinderungsbedingt nicht ohne Hilfe erreicht werden können« (Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge 2009, 27). Im Bedarfsbegriff klingt insofern immer auch der Aspekt der Intervention an, sei es materieller, medizinischer, pädagogischer oder psychosozialer Art. Was »erwünschte« Teilhabeziele sind, lässt sich subjektiv von behinderten Menschen (und ihren Interessenvertretungen) im Kontext ihrer Lebenswelt formulieren; was »angemessene« Teilhabeziele sind, dies bleibt ein kontinuierlicher Aushandlungsprozess, der wesentlich (gesellschafts-)politisch und ökonomisch gerahmt wird.

Der Bedarfsbegriff wäre folglich überfordert damit abzubilden, was einem Menschen an Teilhabe zuzugestehen ist, um ein würdevolles, kulturell angemessenes oder qualitätsvolles Leben führen zu können. Im Sinne des »konkretisierten Brauchens« ist der Teilhabebedarf vielmehr auf die Bestimmung der Leistungen gerichtet, die zur Vermittlung von Teilhabeoptionen als notwendig erscheinen. Angesichts dieses Charakters von Bedarf als eine inhaltliche und mengenmäßige Bestimmung dessen, was gebraucht wird, sind Begriffe wie Hilfebedarf, Unterstützungsbedarf, Assistenzbedarf oder Rehabilitationsbedarf logisch betrachtet zutreffender als der gegenwärtig vielfach bevorzugte Begriff des Teilhabebedarfs. Gleichwohl haben sich der Herausgeber und die Herausgeberin dieses Bandes bewusst für den Titel »Teilhabebedarfe« entschieden, um die konzeptionelle, an Zielen und Ergebnissen gesellschaftlicher Teilhabe orientierte (Neu-)Ausrichtung der Bedarfskategorie zu schärfen.

 

4           Problematisierung des Teilhabebedarfs: zwischen Lebenswelt und Hilfesystem

 

Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass die Funktion des Bedarfsbegriffs für das Unterstützungssystem darin zu sehen ist, empirisch komplexe Lebenssituationen und in gewisser Weise kontingente Phänomene von (beeinträchtigter) Teilhabe beschreibbar und bearbeitbar zu machen. Erst durch die Konkretisierung des Bedarfs im Sinne des auf Teilhabe »gerichteten Brauchens« von definierten Leistungen werden Teilhabeeinschränkungen (Behinderungen) für das Unterstützungssystem relevant (vgl. hierzu auch Wansing 2005, 139 ff.). Diese Begriffsanalyse offenbart ein immanentes Problem des Begriffes Teilhabebedarf, das auch handlungspraktisch bedeutsam wird. Kern des Problems ist, dass im Teilhabebedarf das Spannungsfeld zwischen Lebenswelt und Hilfesystem angelegt und gleichsam verdichtet ist: Das Hilfesystem nutzt den Teilhabebedarf als Transmissionskonzept, um die mit Teilhabe verbundene subjektive Perspektive der Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit sozialer Bezüge zu verobjektivieren und programmatisch zu rahmen. Insofern interessiert sich das System nur für jene Lesart von Teilhabe, die im Bedarfsbegriff als anerkennungsfähiges »konkretisiertes Brauchen« greifbar wird (vgl. Schäfers 2014). Die lebensweltliche Sinnperspektive stellt zwar in gewisser Weise den Startpunkt des Leistungsgeschehens dar, insofern die subjektive Äußerung eines Teilhabeproblems überhaupt erst die Bestimmung eines Bedarfs auf den Plan ruft. Der Lebensweltbezug entscheidet jedoch nicht unmittelbar darüber, was im Kontext der Leistungsgewährung als teilhaberelevant gilt. Hier wird eine Leerstelle sichtbar, welche die Frage provoziert: Was entscheidet dann? Wie bewerten wir Programme und Instrumente, die darüber befinden, was als Teilhabebedarfe im Hilfesystem wahrzunehmen und anzuerkennen ist, was zur gesellschaftlichen Teilhabe gebraucht werden soll oder darf? Woran messen wir diese Entscheidungen?

 

5           Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung als Schaltstellen

 

Praktisch problematisch werden diese Fragen im Zuge der Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung. Nicht umsonst stehen diese wichtigen Schaltstellen im Fokus einer Reformdebatte, die ein modernes Teilhaberecht verspricht (vgl. den Koalitionsvertrag, CDU et al. 2013, 78; auch Schäfers 2014).

In Deutschland gibt es nicht eine zentrale Einrichtung, die dafür zuständig ist, Teilhabebedarfe festzustellen und Leistungen zu gewähren. Wir haben es mit unterschiedlichen Institutionen und Professionen mit jeweils unterschiedlichen Sichtweisen auf Bedarfe zu tun. Je eigene Begriffe, Kategorien und Methodologien im Bereich der medizinischen, beruflichen, bildungsbezogenen und sozialen Teilhabe entscheiden darüber, was als Bedarf wahrgenommen und interpretiert – letztlich anschlussfähig gemacht wird an die eigenen Regelwerke, Leistungsprogramme und Verfahrensinstrumente.

Diese fachlich zu fundieren und zu legitimieren, ist Anfrage an Wissenschaft. Sie versucht diesen Auftrag zu erfüllen, indem sie Bedarfsdimensionen und -kategorien entwickelt, systematisiert, fachlich begründet und evaluiert (vgl. z. B. Metzler 1998; GKV-Spitzenverband 2011; BAR o. J.). Unabhängig vom jeweiligen spezifischen Verwendungszusammenhang haben entstehende Konzepte der Bedarfsfeststellung immer die Aufgabe zu erfüllen, lebensweltlich relevante (Teilhabe-)Bedürfnisse bzw. Einschränkungen in verobjektivierte, systemrelevante (Teilhabe-)Bedarfe zu übersetzen. Lässt sich dieser Übersetzungsvorgang überhaupt wissenschaftlich solide begründbar, berechenbar, letztlich standardisiert gestalten?

Die Vielfalt subjektiver Wahrnehmungen und Lebensentwürfe, der Eigensinn der (potenziellen) Adressatinnen und Adressaten treffen auf das praktische Erfordernis, Bedarfe messbar, vergleichbar und in Zeit- und Geldwerten quantifizierbar zu machen (schließlich basieren zu bewilligende Leistungen auf dem Austausch Unterstützung gegen Geld). Das heißt, auf einer sehr konkreten Ebene spitzt sich das Problem zu in der Zuordnung eines festgestellten Bedarfs zu einem Geldwert (einer metrischen Skala). Wie schwierig sich dieser Vorgang offenbar gestaltet, zeigen eindrücklich die Erfahrungen in der Ausgestaltung Persönlicher Budgets. Diese zeigen, dass

»sich letztlich keine objektiven Kriterien der Bemessung von Geldbeträgen benennen [lassen]: Hier fließen zwangsläufig […] Wertentscheidungen und ökonomische Kriterien ein. Ohne die Anerkennung solcher Unschärfen bei allen Beteiligten ist eine Bemessung […] unmöglich. Welche Unschärfen man in Kauf nehmen will, sprich: welches Bemessungssystem man vorzieht, ist keine nach objektiven Kriterien entscheidbare, keine wissenschaftliche Frage, sondern eine normative, politische Entscheidung, die im besten Fall auf einer Abwägung von Erfahrungswerten basiert« (Kastl & Metzler 2005, 17; vgl. auch Metzler et al. 2007).

In der Fachpraxis ist dennoch beobachtbar, dass viel darin investiert wird, den Übersetzungsvorgang von lebensweltlich begründeten Teilhabezielen über die Bestimmung von Teilhabebedarfen zur Berechnung von Leistungsvergütungen kausal-deterministisch herleitbar zu machen, spitz formuliert: wissenschaftlich zu veredeln (vgl. z. B. BBI 2014; Bremauer 2010; Jaschke, Oliva & Schlanstedt 2012). Am Ende dieser Bemühungen stehen differenziert berechnete Entgelte, Pauschalen bzw. Fachleistungsminuten/-stunden, also Leistungspreise in Euro und Cent, die den Eindruck von wissenschaftlicher Genauigkeit und Rationalität erwecken. Durch diesen Anschein von Systematik und Transparenz auf der Vorderbühne der Verfahren werden möglicherweise auf der Hinterbühne vollzogene normative Setzungen und politische Entscheidungen mit allerlei Unschärfen ausgeblendet und die Rekonstruktion und Reflexion dieser Prozesse erschwert. Im Interesse einer diskursiven Verhandlung über gerechte und praktikable Verfahren ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Entscheidungen jedoch zentral, denn die Anerkennung von Teilhabebedarfen ist immer Ausdruck von Interessenpositionen und Aushandlungsprozessen. Fragen der Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung sind aufs Engste verknüpft mit Fragen der Leistungszuweisung und Finanzierung. In dieser Hinsicht ist zu untersuchen, welche Instanz welche Definitionsmacht hat – insbesondere, welche Position Menschen mit Behinderungen im gesamten Prozess zugewiesen bekommen. Diese Frage zielt auf Machtverhältnisse. Sie ist aber nicht bloß systemrelevant, sondern hat eine lebensweltliche Dimension: Sie ist im Hinblick auf ihre praktischen Konsequenzen zu untersuchen, in Richtung der Möglichkeiten der Lebensführung behinderter Menschen und Barrieren ihrer Teilhabe.

 

6           Übersicht über die Beiträge in diesem Band

 

Vor dem Hintergrund der skizzierten Problemstellen beabsichtigt der vorliegende Band, die im Begriff Teilhabebedarf manifestierten Übersetzungsleistungen zwischen Lebenswelt und Hilfesystem nachzuzeichnen. Diesen Konstruktionsprozessen auf die Spur zu kommen, verspricht ein tieferes Verständnis für die Ordnungslogiken des Hilfesystems und deren Funktionalität.

Die hier versammelten Beiträge beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen (Soziologie, Rechtswissenschaften, Pädagogik/Sozialpädagogik, Ethik, Psychologie und Soziolinguistik) die in diesem Einführungsbeitrag aufgeworfenen und weitere Problemstellen. Sie haben gemeinsam, dass sie die begriffliche Konstruktion von Teilhabebedarfen sowie konzeptionelle und praktische Fragen der Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung als Schaltstellen im Unterstützungssystem begreifen.

Das Buch ist unter drei großen inhaltlichen Überschriften gegliedert. Im ersten Teil befassen sich – nach diesem einführenden Beitrag – auch die beiden folgenden Beiträge mit theoretisch-konzeptionellen Grundlagen von Behinderung, Teilhabe und Bedarfen. Iris Beck liefert fachlich-wissenschaftliche Begründungen für Ansätze zur Bedarfserhebung und -umsetzung. Dabei rekonstruiert sie insbesondere die Ursprünge der Individualisierung der Bedarfskategorie, und zwar bezogen auf den Wandel von der institutionellen zur personalen Orientierung im Bereich der Eingliederungshilfe.

Marianne Hirschberg setzt sich mit dem Behinderungsbegriff der ICF und seinen Folgen für das Verständnis von Teilhabebedarfen auseinander. Am Beispiel der Kategorisierung von Barrieren und Unterstützungsfaktoren veranschaulicht sie das Potenzial der ICF für eine differenzierte Beschreibung von Behinderung, Teilhabe und Teilhabebedarfen. Zugleich zeigt sie Schwachstellen bzw. Möglichkeiten der Weiterentwicklung der ICF im Interesse ihrer Anwendung für die Bedarfsfeststellung auf.

Im zweiten Teil des Buches geht es um eine Problematisierung des Teilhabebedarfs. Imke Niediek diskutiert Bedarfsermittlung im Kontext einer Gouvernementalität der Gegenwart und entfaltet in Anlehnung an Michel Foucault eine Perspektive für die kritische Reflexion der Grundannahmen, die vielen Konzepten zur Bedarfsermittlung im Kontext der Eingliederungshilfe immanent sind.

Felix Welti untersucht den Teilhabebedarf im Kontext der Anwendung und Auslegung sozialrechtlicher Normen. Im Blickpunkt steht dabei das Verhältnis des individuellen Bedarfs zum Leistungsanspruch. Mit Bezug auf die Sozialleistungsträger als zentrale Akteure werden deren Pflichten bei der Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung sowie ihre Verantwortung für eine sozialräumliche Infrastruktur thematisiert.

Andreas Weber widmet sich in seinem Beitrag der Partizipation behinderter Menschen im Kontext von Bedarfsfeststellung anhand von empirischen Beispielen. Für den Bereich der medizinischen Rehabilitation stellt er die grundsätzliche Frage nach Möglichkeiten der Partizipation angesichts von Leitlinien und standardisierten Behandlungsprogrammen. Am Beispiel der Teilhabe am Arbeitsleben wird untersucht, inwiefern Gesetze bei den betroffenen Menschen bekannt bzw. faktisch handlungsrelevant sind. Zudem eröffnet er Perspektiven für eine partizipative Teilhabeforschung.

Sigrid Graumann beleuchtet in ihrem Beitrag ethische Aspekte der Ermittlung von Hilfebedarfen mit einem Fokus auf das betreute Wohnen von Personen mit hohem Unterstützungsbedarf. Dabei arbeitet sie Spannungsfelder der Bedarfsermittlung heraus zwischen allgemein verbindlichen Ansprüchen auf Teilhabeleistungen und individuellen Rechtfertigungspflichten sowie zwischen paternalistischer Bevormundung und Eigenverantwortung. Für eine angewandte Ethik in der Behindertenhilfe stellt sie ein integratives Modell vor, aus dem sie ethische Kriterien für die Bestimmung von Hilfebedarfen ableitet.

Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit Anwendungsfragen von Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung. Erik Weber, David Cyril Knöß und Stefano Lavorano diskutieren in ihrem Beitrag Bedingungen einer qualifizierten Hilfeplanung und -beratung in der Eingliederungshilfe. Auf der Basis von Evaluationsstudien im Rheinland identifizieren sie wesentliche Kriterien für eine qualifizierte Hilfeplanung und Wohnberatung, die insbesondere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen eine selbstbestimmte Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft ermöglichen sollen.

Albrecht Rohrmann diskutiert in seinen Ausführungen über Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung den Beitrag des Ansatzes personenzentrierter Hilfen, um defizitorientierte Perspektiven auf Unterstützungsbedarfe zu überwinden. Dabei wird auch das Potenzial sozialräumlicher Perspektiven geprüft in Form einer Verknüpfung individueller Teilhabeleistungen mit der Entwicklung einer barrierefreien, inklusiven Infrastruktur.

Petra Gromann erörtert eine individuelle, person- und umweltzentrierte Vorgehensweise am Beispiel des Instrumentes »Integrierter Teilhabeplan«, das im Bereich der Eingliederungshilfe eingesetzt wird. Die Entstehungsgeschichte sowie konzeptionelle Eckpunkte werden erläutert und Anforderungen an Kooperation und Koordination, insbesondere auch an die Partizipation behinderter Menschen skizziert. Die Autorin diskutiert diesbezügliche Barrieren in der Umsetzung der Teilhabeplanung und liefert praktische Hinweise für eine Weiterentwicklung seitens der Leistungsträger und Dienstleistungserbringer.

Gudrun Dobslaw fokussiert ihre Analyse zu den Gelingensbedingungen partizipativer Teilhabeplanung auf die Mikroebene der Kommunikation. Anhand von Konversationsanalysen von Teilhabegesprächen mit kognitiv beeinträchtigten Menschen identifiziert sie grundlegende Probleme ihrer partizipativen Einbindung, und sie leitet hieraus Kommunikationsstrategien zur Sicherung von Partizipation ab.

In der Gesamtheit zeigen die Beiträge die Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas »Teilhabebedarfe behinderter Menschen« im Kontext fachwissenschaftlicher und sozialpolitischer Diskurse auf: von der Makroebene gesellschaftlicher Teilhabebedingungen und der sozialpolitischen Steuerung über die Mesoebene der Einrichtungen, Dienste und sozialräumlichen Vernetzung bis hin zur Mikroebene der Interaktion zwischen behinderten Menschen und professionellen Akteuren und Akteurinnen; von der Ebene fachwissenschaftlicher Begründungen bis hin zu praktischen Umsetzungsfragen der Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung. Dieser Band soll der Diskussion um eine Neuausrichtung und Weiterentwicklung der Bedarfsfeststellung und daran anschließend der Planung und Gestaltung von Unterstützungsarrangements für behinderte Menschen Substanz verleihen und zum interdisziplinären Dialog einladen.

 

Literatur

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1     Für eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Kategorien Bedürfnis, Bedarf, Hilfebedarf vgl. auch Beck 2002 sowie aktualisiert in diesem Band.

Der Bedarfsbegriff »revisited« – Aspekte der Begründung individueller Ansätze zur Bedarfserhebung und -umsetzung

Iris Beck

1           Einleitung

 

Für die Einführung von Verfahren der zur Entstehungszeit ab den frühen 1990er Jahren sog. individuellen Hilfeplanung waren unterschiedliche Motive und Begründungszusammenhänge ursächlich. Ausgehend von einer Differenzierung der sozialrechtlichen und fachlichen Verwendungszusammenhänge, in denen Bedarfsermittlung eine Rolle spielt, sollen nachfolgend Ursprünge der »Individualisierung« der Bedarfskategorie und zwar bezogen auf den Wandel von der institutionellen zur personalen Orientierung nachgezeichnet werden. Diese Ursprünge stehen, was die fachlichen Entwicklungen betrifft, in engem Zusammenhang mit der Forderung nach einer an alltäglichen Lebensvollzügen ausgerichteten Leistungserbringung und einem veränderten Behinderungsverständnis. Das hier entfaltete Verständnis einer individualisierten Bedarfserbringung soll hinsichtlich seiner tragenden Elemente nachgezeichnet werden. Die Bedarfserbringung steht dabei aber im Spannungsfeld zwischen System und Lebenswelt. Diese Spannungsfelder zu thematisieren ist, so meine These, deshalb zentral, weil sich erst hierüber die Chancen und Grenzen der Bedarfserfüllung und Anforderungen an die Gestaltung der Leistungserbringung zeigen. Überlegungen zur wissenschaftlichen Begründung individueller Ansätze zur Bedarfserhebung und -umsetzung sollten sich an den fachlichen Leitzielen und ihrem Gehalt ebenso orientieren wie an den Spannungsfeldern, in denen sich die Bedarfserbringung vollzieht. Ganz wesentlich ist aber das Verständnis von »Teilhabe«, »Bedarf« und »Behinderung«, das der Komplexität und Relationalität dieser Kategorien gerecht werden sollte und sich unmittelbar auf die Handlungsspielräume der Adressaten und Adressatinnen auswirkt. Im Sinne eines Versuchs der Begründung und Differenzierung des Themas »individueller Hilfebedarf«, bezogen auf den Bereich der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, habe ich 2002 diesbezügliche Bilanzierungen zum damaligen Stand angestellt (vgl. Beck 2002). Im Rückblick und unter Bezug auf diese Überlegungen soll abschließend ein Fazit hinsichtlich der aktuellen Auseinandersetzung zur Frage des Wandels hin zur personalen Orientierung, zum Gehalt des Teilhabebegriffes, zum Verständnis alltäglicher Lebensvollzüge und behindernder Bedingungen gezogen werden.

 

2           Bedarf als sozialpolitische und fachliche Kategorie: eine erste Differenzierung der Verwendungszusammenhänge

 

Sowohl hinsichtlich der Begriffsbestimmung, der theoretischen Begründungszusammenhänge als auch der Praxis der Bedarfserhebung, -planung und -erfüllung lassen sich unterschiedliche Verständnisweisen, Zielsetzungen und Verwendungszusammenhänge finden. So unterscheidet sich eine durch einen gesetzlichen Leistungsträger vorgesehene Bedarfsermittlung als Basis der Prüfung von Leistungsansprüchen von der Planung der konkreten Leistungen und deren Umsetzung durch einen Leistungsanbieter. Die Ziele für die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs im Schulbereich sind andere als die der Hilfe- oder Teilhabeplanung für das unterstützte Wohnen. Es macht einen Unterschied, ob es um den Bedarf von bestimmten Bevölkerungsgruppen oder den eines oder einer Einzelnen geht. Bezogen auf Gruppen kann die Zielsetzung eine auf Kommunen oder Regionen bezogene Sozialplanung sein, in deren Rahmen Angebote und Leistungen für eine bestimmte Zielgruppe und eine eingegrenzte Problemlage entwickelt bzw. ausgebaut oder miteinander vernetzt werden sollen. Es kann hier aber auch darum gehen, alle Felder der Lebensführung zielgruppenübergreifend hinsichtlich des Abbaus von Barrieren der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit zu verändern (vgl. Rohrmann 2016). In diesem Fall wird von »kommunaler Teilhabeplanung«, aber auch von »Aktionsplänen« oder »Inklusionsplänen« gesprochen, die wiederum ein Pendant auf der Ebene der Länder und mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf der Bundesebene haben. Eine gänzlich andere Zielsetzung unterliegt hingegen der im SGB XII § 75, 76, 79 enthaltenen Maßgabe der Bildung von »Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf«, die als Basis der Leistungsentgeltberechnung für Einrichtungen dient. Sie muss von der Sozialplanung und vor allem von der individuellen Bedarfsermittlung und -planung deutlich unterschieden werden. Diese Hilfebedarfsgruppenbildung rekurriert auf die Identifikation von Anspruchsberechtigungen auf einen vorab definierten behinderungsbedingten Bedarf und dessen finanzielle Steuerung. Sie wird damit als Rahmenbedingung für eine Einrichtung leitend, weil sie in engstem Zusammenhang mit Vereinbarungen zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen steht; sie unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von der Ebene der alltäglichen Lebensführung und Behinderungsbewältigung.