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Münchner Reihe Palliative Care

 

Palliativmedizin – Palliativpflege – Hospizarbeit

Band 8

 

 

Schriftleitung

 

Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio (federführend)

Prof. Dr. med. Monika Führer (federführend)

Prof. Dr. rer. biol. hum. Maria Wasner (federführend)

Beate Augustyn, Palliativpflegekraft

PD Dr. med. Johanna Anneser

PD Dipl.-Psych. Dr. rer. biol. hum. Martin Fegg

Bernadette Fittkau-Tönnesmann MPH

PD Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox

Prof. Dr. med. Stefan Lorenzl

Dipl. Soz.-Päd. Dipl. Theol. Josef Raischl

Prof. Dr. theol. Traugott Roser

 

 

 

Die Publikationen in der Münchner Reihe Palliative Care verfolgen das Ziel einer verbesserten Versorgung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen und ihrer Angehörigen. Dem Palliative Care-Prinzip der Multiprofessionalität entsprechend widmen sich die Einzelbände unterschiedlichen Themenkomplexen und Handlungsfeldern aus den Bereichen Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit. Dazu dienen Beiträge aus medizinischer, pflegerischer, psychosozialer und seelsorglicher sowie aus rechts- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive. Die Reihe richtet sich an alle an diesen Fragestellungen Interessierten, insbesondere im Gesundheitswesen oder in der ehrenamtlichen Arbeit Tätigen.

Eckhard Frick Ralf T. Vogel (Hrsg.)

Den Abschied vom Leben verstehen

Psychoanalyse und Palliative Care

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

Wichtiger Hinweis:

 

Die Verfasser haben größte Mühe darauf verwandt, dass die Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen dem jeweiligen Wissenstand bei Fertigstellung des Werkes entsprechen.

Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, übernimmt der Verlag für derartige Angaben keine Gewähr.

Jeder Anwender ist daher dringend aufgefordert, alle Angaben auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Verantwortung des Benutzers.

 

 

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2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029284-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029285-7

epub:    ISBN 978-3-17-029286-4

mobi:    ISBN 978-3-17-029287-1

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort der Herausgeber zur 1. Auflage
  2. Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage
  3. 1 Feinfühligkeit als bindungsorientiertes Interventionskonzept in Palliative Care
  4. Yvonne Petersen und Teresa-Maria Hloucal
  5. 2 Sterbetrauer beginnt mitten im Leben
  6. Eckhard Frick
  7. 3 »Wird Mama jetzt ein Engel?« Das kindliche Erleben von Trauer und Verlust in der therapeutischen Begleitung von Kindern sterbender Eltern aus entwicklungspsychologischer Perspektive
  8. Verena Tyrkas
  9. 4 »Faith-in-O« und der Umgang mit der Unbestimmtheit des Todes
  10. Ross A. Lazar, Rainer Oechslen und Kirsten Jörgensen †
  11. 5 Selbst und Tod
  12. Ralf T. Vogel
  13. 6 Abschiedlich existieren – sich einlassen und loslassen
  14. Verena Kast
  15. 7 Leib, Symbol, Archetyp
  16. Renate Daniel
  17. 8 Die Patientenklingel als Bindungssignal. Eine bindungspsychologische Feldstudie zum Konzept der Feinfühligkeit in der Palliativversorgung.
  18. Cécile Loetz und Jakob Johann Müller
  19. 9 Wiederkehr der Kindheit? Psychoanalytische Überlegungen zum Sterben in der stationären Palliativversorgung
  20. Jakob Johann Müller und Cécile Loetz
  21. Verzeichnis der Herausgeber und Autoren

Vorwort der Herausgeber zur 1. Auflage

 

 

FRICK: Dieses Buch handelt von dem, was die Psychoanalyse zu Palliative Care beitragen kann. Warum hat sich die Psychoanalyse im Unterschied zu anderen psychotherapeutischen Richtungen erst sehr spät im Bereich von Palliative Care zu Wort gemeldet?

VOGEL: Interessanterweise beschäftigte sich die Psychoanalyse von Anfang an mit dem Thema »Tod und Sterben«. Freud selbst und nahezu alle Analytiker der ersten Generation haben dazu wichtige Beiträge verfasst. Trotzdem entstand die Hospiz- und Palliativ-Bewegung ohne Berücksichtigung der Psychoanalyse – und auch aus Wurzeln, die mit der Psychoanalyse erst einmal in keiner Verbindung standen.

FRICK: Was die frühe Beschäftigung mit palliativmedizinischen Themen angeht, so können wir zunächst an Freud selbst denken, der wegen seines fortschreitenden Gaumen- und Kieferkarzinoms 15 Jahre lang Palliativpatient war. Bei seinem Leibarzt Max Schur taucht der Begriff »palliativ« schon auf. Max Schur schreibt über den Kieferchirurgen Hajek: »Daß er sich mit einer lokalen Exzision zufrieden gab, die, wie er wissen mußte, die Ausbreitung des Krebses nicht zum Stehen bringen konnte, läßt sich nur durch die Annahme erklären, daß er den Fall als hoffnungslos aufgegeben hatte und deshalb nur pro forma Palliativmaßnahmen ergriff. Daß Hajek die nicht ganz kleine Exzision in der Ambulanz durchführte und dann Freud nach seiner Blutung ohne richtige ärztliche und pflegerische Betreuung ließ, wäre in jedem Fall unentschuldbar gewesen, auch wenn der Patient nicht jemand gewesen wäre, der Weltruhm erlangt hatte und dazu ein Freund seines Schwagers war« (Schur 1972/1977, S. 421 f.).
    »Palliativ« wird hier in dem Sinn von: »eigentlich kann man nichts mehr machen« gebraucht. Es wird oft vergessen, dass Freud seit 1923, unter teilweise massiven Schmerzen und Beschwerden, mit der großen Prothese arbeiten musste, die er brauchte, um nach den radikalen Operationen Mund- und Nasenraum wieder voneinander zu trennen. Die Wurzeln von Palliative Care, die du erwähnst, lassen mich jedoch in erster Linie an Cicely Saunders und an die Gründung des St. Christopher’s Hospice denken …

VOGEL: … Ja: Palliative Care ist in der Pflege entstanden, aus der ganz pragmatischen Sichtweise einer verbesserten Schmerzbehandlung. Mit Psychoanalyse hatte das zunächst einmal nichts zu tun.

FRICK: Dann allerdings entwickelte Cicely Saunders das Konzept des »Total pain«, also ein recht umfassendes psychosomatisches Konzept, in dem psychosoziale, spirituelle und physische Aspekte als Einheit gesehen werden.

VOGEL: Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Psychoanalyse im palliativen Bereich »keinen Fuß in die Tür bekommen hat«, nämlich die Nähe zwischen der Palliativmedizin und der Psychoonkologie. Palliative Care hat die psychotherapeutischen Hauptrichtungen übernommen, die es auch in der Psychoonkologie gibt, vor allem verhaltenstherapeutische, gesprächstherapeutische, auch kreativtherapeutische Ansätze. In einer eigenen Untersuchung (Vogel 2011) habe ich dargelegt, dass Gesprächstherapie und Verhaltenstherapie auf den Palliativstationen deutlich überwiegen. Psychodynamische Therapieformen sind dort kaum präsent.

FRICK: Ich denke, eine große Rolle spielt auch die Befürchtung, durch Psychoanalyse könnten Patienten labilisiert werden, sie könnten in einer Situation, wo es um die Bewältigung geht und um Stärke, geschwächt werden durch einen psychodynamischen Zugang.

VOGEL: Das würde ich auch so sehen. Dieses Vorurteil gibt es immer noch. Es gründet darauf, dass lange Zeit auch nur die psychoanalytische »Einheitsmethode« angewandt wurde und man natürlich keinen Palliativpatienten auf die Couch legt und Psychoanalyse betreibt …

FRICK: Psychoanalytische Einheitsmethode, was heißt das?

VOGEL: Dreimal in der Woche im Liegen über den Ödipuskomplex sprechen. In diese Richtung geht jedenfalls das Vorurteil. Dabei heißt Psychoanalyse nicht unbedingt: Couchbehandlung mehrmals die Woche über viele Jahre, von der Situation begrenzter Lebenserwartung etwa im palliativen Kontext ganz abgesehen. Es ist zu wenig bekannt, dass die Psychoanalyse sich schon sehr früh verschiedenen Anwendungsfeldern in der Pädagogik, in der Kindertherapie sowie in der Gruppentherapie in modifizierter Form zugewandt hat.

FRICK: Aus der Psychoanalyse sind sehr pragmatische Kurz- und Langzeittherapien hervorgegangen, die psychoanalytisch orientiert sind, die psychoanalytisch heißen, aber nicht Psychoanalyse im Sinn der Standardbehandlung sind.

VOGEL: Allerdings kann man der Psychoanalyse einen Vorwurf nicht ganz ersparen: Was Palliative Care und Tod anbelangt, ist sie doch sehr theoretisch geblieben. Da hat sich eine starke theoretische Entwicklung vollzogen, aber es fehlte an der therapeutischen Umsetzung.

FRICK: Die theoretische Auseinandersetzung war lange Zeit von der Diskussion des Todestrieb-Konzeptes besetzt.

VOGEL: Das stimmt. Allerdings war schon die erste Generation nach Freud deutlich breiter aufgestellt, was das Todesthema anbelangt und die Frage des »Todestriebs«.

FRICK: An wen denkst du da?

VOGEL: Zum Beispiel an Melanie Klein. Sie sah Todesangst nicht nur als ein Derivat von Kastrationsangst, sondern schon beim kleinen Kind als Vernichtungsangst. Vor allem über Donald Woods. Winnicott hielt diese Position Einzug in die Psychoanalyse. Auch Otto Rank hatte wichtige Ideen zu Lebens- und Todesangst. Aber, wie gesagt: Aus diesen interessanten Theorien entstanden kaum praktische Konsequenzen. Die Ausnahme bilden hier vielleicht Carl Gustav Jung und seine Nachfolger. Darum haben wir uns ja besonders über den Beitrag von Verena Kast gefreut, die sich schon seit vielen Jahren aus der jungschen Richtung kommend mit Tod und Trauer befasst.

FRICK: Du selbst hast Dich ja sehr mit dem Thema des Todes in der Psychotherapie beschäftigt, nicht nur in der palliativen Situation – man könnte da auch an den Psychiater Meyer denken (Meyer 1973): Bei vielen Neurosen steht das Todesthema unbewusst und verborgen im Hintergrund.

VOGEL: Das Buch von Meyer wäre ein Beispiel dafür, dass es in der Psychoanalyse schon früh erste praktisch ausgerichtete Überlegungen gab, die aber in einem Seitenarm der psychoanalytischen Entwicklung verschwunden sind. Jetzt stelle ich als Supervisor auf Palliativstationen und in Hospizen fest, dass, obwohl die Kollegen dort sehr interessiert sind an psychodynamischen Sichtweisen, sie meist keine psychoanalytische oder psychodynamische Ausbildung haben.

FRICK: Was meinst du mit diesem Interesse an psychodynamischen Sichtweisen?

VOGEL: In erster Linie: Interesse am »Verstehen«. Andere Therapieverfahren eröffnen mit teilweise hervorragenden Manualen Möglichkeiten der Intervention. Aber die Reflexion des inneren Prozesses beim Helfer bleibt auf der Strecke, zu verstehen, was da passiert zwischen den beiden, zwischen dem Patienten und ihnen selber. An dieser Stelle kommt die Psychoanalyse mit ins Spiel. Die Psychoanalyse war schon immer auf die therapeutische Beziehung spezialisiert. Deshalb, so mein Eindruck, holen sich palliativ Arbeitende unterschiedlicher Berufsgruppen gerne einen Psychoanalytiker ins Haus.

FRICK: Du meinst also: Verstehen von Beziehungskonstellationen, Verstehen auch von Phantasien, die bei den Patienten eine Rolle spielen, bei den Angehörigen und den Mitgliedern des Teams?

VOGEL: Genau dies ist ja auch das Anliegen dieses Buches. Die einzelnen Beiträge wollen das komplexe Dasein in der palliativen Situation aus verschiedenen Perspektiven erhellen, Verständnis entwickeln helfen, und zwar für Patienten, Angehörige und Helfer.

FRICK: Was ist eigentlich das Besondere an einer psychoanalytischen Reflexion im Unterschied zu den anwendungsbezogenen Interventionsmanualen, von denen du gesprochen hast?

VOGEL: In erster Linie geht es in der Psychoanalyse um das sorgfältige Beachten des Unbewussten, und zwar das Unbewusste in Beziehung zu anderen Menschen, aber auch in Beziehung zu mir selbst. Zum Beispiel wird in Renate Daniels Beitrag deutlich, dass dieses Unbewusste verschiedene Tiefenschichten hat, die man betrachten kann, individueller Art, aber auch, wie Jung es uns gelehrt hat, kollektiver Art, archetypischer Art. Es gibt also nützliche psychoanalytische Impulse für die Arbeit im palliativen Feld, die aber bisher noch nicht wirklich bekannt sind. Erinnerst du dich noch, wie wir selbst auf die Idee kamen, uns mit Psychoanalyse und Palliative Care zu beschäftigen?

FRICK: Zunächst einmal haben wir beide etwas mit beiden Bereichen zu tun. Du als Supervisor, ich als Professor für Spiritual Care innerhalb der Technischen Universität München.

VOGEL: Irgendwann einmal kam von dir die Idee zu einer Tagung, die wir dann im März 2011 an der Hochschule für Philosophie durchgeführt haben. Dieser Ort hat von der gesamten Atmosphäre sehr gut gepasst, aber auch weil du an dieser Hochschule Psychosomatische Anthropologie lehrst und selbst zum Jesuitenorden gehörst, dem Träger dieser Hochschule.

FRICK: Diese Tagung war eine Art Initialzündung zu diesem Buch, der Versuch, Praktiker und Praktikerinnen zusammenzubringen und ihnen einen Einstieg in die Psychoanalyse zu ermöglichen. Also nicht nur über theoretische Abhandlungen und den psychoanalytischen Diskurs, der ist ja vielen Nicht-Analytikern verschlossen, sondern praxisbezogen. Deshalb haben wir eine Mischung aus Workshops, Vorträgen und Diskussionen angeboten.

VOGEL: Du bist auf der einen Seite Arzt und Psychoanalytiker, auf der anderen Seite – von der jesuitischen Seite und jetzt auch von der Professur für Spiritual Care her – betrachtest du das Thema aus einem ganz anderen Blickwinkel. Wie passt das eigentlich zusammen?

FRICK: In einem ganz weiten Sinn kann man das Spirituelle als einen Teil des psychosozialen Feldes ansehen. Also als eine Frage, die inzwischen auch von allen Gesundheitsberufen stärker berücksichtigt wird. In unserer Zeitschrift Spiritual Care, die im De Gruyter-Verlag erscheint, eröffnen wir ein Erfahrungs- und Forschungsforum für alle Gesundheitsberufe. Mein eigener psychoanalytischer Zugang geht vor allem über die Bindungstheorie: Was lernen wir im Lauf unseres Lebens, schon im ganz frühem Leben an Beziehungswissen, wie erfahren wir Beziehungen, die uns Sicherheit vermitteln? Oder inwieweit leiden wir unter Unsicherheit, und wie zeigt sich das in einer Gottesbeziehung? Oder, allgemeiner gesprochen, in einer Beziehung auf das Absolute oder in Beziehung auf die Transzendenz? Diese Vorgänge spielen in allen Krisen des Lebens eine große Rolle, nicht nur, aber eben auch am Lebensende.

VOGEL: Das Buch zeigt hier auch spannende Schnittflächen, z. B. in dem Beitrag von Ross A. Lazar zwischen Bion und Jung.

FRICK: Bion wird manchmal als der Mystiker unter den Psychoanalytikern bezeichnet. Noch in der Periode der traditionellen psychoanalytischen Religionskritik hat er es gewagt, das Spirituelle aufzugreifen, auch das Thema des Todes, insofern, dass er über das »Jenseits der Grenze« hinaus gedacht hat. Renate Daniel, die sich schon in ihrer medizinischen Dissertation mit der Symbolik der Krebserkrankungen beschäftigt hat, wendet dies nun auf Palliative Care an. Du selbst zeigst anhand des Todesthemas viele Schnittflächen zwischen verschiedenen analytischen Richtungen. Verena Tyrkas verknüpft ihre psychoonkologische Erfahrung mit der Perspektive der Kinder. Der bindungsbezogene Zugang von Yvonne Petersen und Teresa-Maria Hloucal in unserem Buch bezieht sich zwar auf die Terminalphase, ist jedoch auch für andere Übergangskrisen relevant.

VOGEL: Insgesamt zeigt das Buch, dass die psychoanalytische Reflexion für alle Palliative Care-Berufe bereichernd ist. Psychoanalyse ist kein Geheimwissen, sondern eine gemeinsame Ressource, die im Verstehen von therapeutischen Beziehungen liegt.

 

München und Ingolstadt, im Herbst 2011

Eckhard Frick und Ralf T. Vogel

Literatur

Meyer JE (1973) Tod und Neurose. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schur M (1972/1977) Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Vogel RT (2011) Psychotherapie auf Palliativstationen. Psychotherapeut 56:379–385.

Vorwort der Herausgeber zur 2. Auflage

 

 

Wir freuen uns sehr über das breite Interesse an unserem Buch und über die Möglichkeit, nun eine zweite, ergänzte Auflage vorstellen zu dürfen. Die fachliche, gesellschaftliche und politische Diskussion über die palliative Versorgung in den deutschsprachigen Ländern hat sich in den Jahren seit der Erscheinung der ersten Auflage erheblich intensiviert und differenziert. Wir tragen dem zum einen durch die Überarbeitung einiger Beiträge (Frick, Vogel und Lazar u. a.) Rechnung, zum anderen freuen wir uns, durch die beiden Kapitel unserer jungen Kollegen Cécile Loetz und Jakob Johann Müller Ergebnisse aktueller empirischer Forschungsarbeiten hinzufügen zu können.

Wir sind zuversichtlich, erneut einen Sammelband vorlegen zu können, der den Diskurs um ein dem sterbenden Menschen gerecht werdendes Verständnis palliativer Versorgung befruchten und den wichtigen Beitrag psychoanalytischen Wissens verdeutlichen kann.

 

München und Ingolstadt im Herbst 2016

Eckhard Frick und Ralf T. Vogel

1          Feinfühligkeit als bindungsorientiertes Interventionskonzept in Palliative Care

Yvonne Petersen und Teresa-Maria Hloucal1

1.1       Einleitung

Die palliativmedizinische Betreuung eines Patienten und seiner Angehörigen ist intensiv, intim und stellt an das Team besondere Anforderungen. Innerhalb kürzester Zeit entsteht eine zwischenmenschliche Interaktion, deren Qualität unmittelbar abhängig von bereits bestehenden persönlichen sowie familiären Dynamiken ist. Die bestehenden Strukturen zu kennen, zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, ist für die palliativmedizinische Begleitung Schwerstkranker mit ihren Angehörigen essentiell.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Möglichkeiten bindungstherapeutischer Interventionen in Palliative Care und bezieht sich dabei auf bereits veröffentlichte Überlegungen zu der Thematik (Petersen und Köhler 2005, 2006, Petersen 2008, 2009), in denen die Anwendung von Erkenntnissen aus der klinischen Bindungsforschung in Palliative Care geschildert wird. Vorangestellt wird diesen Überlegungen eine kurze Einführung in die zentralen Annahmen der Bindungstheorie und deren Bezug zur palliativen Situation.

1.2       Die Bindungstheorie als Grundlage therapeutischer Interventionen

Die Bindungstheorie postuliert eine Prädisposition für Bindungsverhalten beim Menschen, die überlebenssichernd ist (Brisch 2009, S. 36). Da sich Neugeborene und Kleinkinder in einer abhängigen Position befinden, in der sie Bedürfnisse nicht oder nur eingeschränkt aus eigenem Vermögen stillen können, sind sie darauf angewiesen, dass ihre Bedürfnisartikulation von Pflege- bzw. Bindungspersonen angemessen interpretiert und beantwortet werden kann (Bowlby 1958). Bedürfnisse ergeben sich sowohl durch äußere potenzielle Bedrohungen wie z. B. Reizüberflutung als auch durch innere Befindlichkeiten wie Hunger, Schmerz oder Krankheit. In solchen Situationen wird das von Bowlby benannte Bindungssystem aktiviert und das Kind zeigt Bindungsverhalten, welches darauf angelegt ist, Schutz und Sicherheit von der Bindungsperson zu erfahren (Bowlby 1958).

Erfolgt eine angemessene Reaktion auf das Bindungsverhalten des Kindes, reguliert sich das innere Bindungssystem positiv: Das Kind erreicht einen emotional stabilen Zustand. Die täglichen Interaktionen zwischen Bindungsperson und Kind führen zu einer Bindungsbeziehung und während des ersten Lebensjahres zu einem »inneren Arbeitsmodell« (inner working model; Bowlby 1969). Dieses beinhaltet Gefühle, Wissen und Vorstellungen über sich selbst sowie darüber, wie die Bindungsperson normalerweise auf Wünsche nach Nähe und Schutz reagiert.

»Wünschenswert ist eine Bindungsperson die […] prinzipiell verfügbar und bereit ist zu reagieren und zu helfen. Komplementär heißt dies: Man ist eine im Grunde liebenswerte und wertvolle Person, die es verdient, dass man ihr hilft« (Grossmann und Grossmann 2004, S. 72).

Aus den zunächst noch formbaren Arbeitsmodellen entsteht im Laufe der weiteren Entwicklung eine Struktur bindungsrelevanter Bewertungen und Erinnerungen (Bindungsrepräsentanzen), die sich auf die Bindungsbeziehungen im Laufe des Lebens auswirken. Der Aussagebereich der Bindungstheorie ist folglich nicht auf die Beziehungen zwischen kleinen Kindern und Bindungspersonen beschränkt, sondern ermöglicht auch Annahmen über Bindungsbeziehungen zwischen erwachsenen Personen. Den von Ainsworth beschriebenen kindlichen Bindungsmustern (Ainsworth et al. 1971), deren Charakteristika im Folgenden erläutert werden, können entsprechende Bindungsrepräsentanzen, also verinnerlichte Modelle von Bindungen im Erwachsenenalter zugeordnet werden, was für die klinische Anwendung der Bindungstheorie in Palliative Care zentral ist. Zwar sind kindliche Bindungsmuster und die Repräsentanzen von Bindungen beim Erwachsenen nicht deckungsgleich, dennoch zeigten Untersuchungen eine hohe Übereinstimmung dieser Muster mit den späteren verinnerlichten Bindungsmodellen beim Erwachsenen (z. B. Levy et al. 1998, DeWolff und van IJzendoorn 1997).

Im Folgenden werden die charakteristischen Merkmale der differierenden Bindungsmuster sowie der Repräsentanzen dieser im Erwachsenenalter skizziert. Mögliche Verhaltensweisen Erwachsener in der bindungsrelevanten Situation »Krankheit« werden am Ende jeder Passage geschildert.

1.2.1     Sichere Bindung und autonome Bindungsrepräsentanz

Die Bindungsperson (in der Regel die Mutter) reagiert zuverlässig und ihr Verhalten ist für das Kind vorhersehbar. Das bedeutet, sie reagiert in angemessener Weise auf die jeweilige Befindlichkeit und den Entwicklungsgrad des Kindes. Dieses Verhalten fördert die Entwicklung einer sicheren Bindungsbeziehung.

Im Erwachsenenalter zeichnet sich eine autonome Bindungsrepräsentanz, erfasst mit dem Adult Attachment Interview (AAI, dt. von Gloger-Tippelt und Hofmann 1997) dadurch aus, dass in kohärenter Weise über erlebte Beziehungserfahrungen gesprochen werden kann und dass diese Erfahrungen nicht idealisiert oder bagatellisiert, sondern mit der angemessenen affektiven Begleitung thematisiert werden können (Main 1996). Erlebte Bindungen werden von Menschen mit autonomer Bindungsrepräsentanz wertgeschätzt. Die Kindheitserfahrung, dass in Notsituationen Bindungspersonen anwesend sind und Unterstützung sowie Schutz bieten, wirkt sich auch im Erwachsenenalter positiv auf das Hilfesuchverhalten aus. In Situationen, in denen Erwachsene gewöhnlich auf Hilfe angewiesen sind, wie z. B. in schwerer Krankheit, fordern Menschen mit autonomer Bindungsrepräsentanz aktiv Hilfe und zeigen sich kooperativ (Strauß 2006). In der Gegenübertragung werden sie demzufolge positiv wahrgenommen. Es konnte auch gezeigt werden, dass Menschen mit autonomer Bindungsrepräsentanz weniger physische Symptome zeigen als Personen mit unsicheren Bindungsrepräsentanzen (Ciechanowski et al. 2002) und mehr von einer Psychotherapie profitieren, wenn sie eine solche in Anspruch nehmen (Strauß und Schwark 2007).

1.2.2     Unsichere Bindung

1.2.2.1    Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster und distanzierte Bindungsrepräsentanz

Indem sie ihr Kind in Stress und Gefahrensituationen nicht angemessen und feinfühlig tröstet und beruhigt, reagiert die Bindungsperson vorhersehbar unangemessen: Das Kind muss also, um die Befindlichkeit der Mutter zu erfassen und beruhigende Zuwendung zu erhalten, sensible Antennen entwickeln und sich auf sie hingerichtet entsprechend verhalten. So entsteht eine große Feinfühligkeit gegenüber der Umgebung, die eigene Befindlichkeit und Bedürftigkeit bleiben dahinter zurück. Um nicht immer wieder durch Zurückweisung verletzt zu werden, entwickelt das Kind Strategien, um die Situation des Zurückgewiesenwerdens zu vermeiden. Es entsteht ein unsicheres, gefühlsvermeidendes Bindungsmuster.

Als Erwachsene sprechen Menschen mit distanzierter Bindungsrepräsentanz im AAI inkohärent über ihre Bindungserfahrungen. Sie messen negativen Erfahrungen keine Bedeutung bei, können positive Erfahrungen jedoch nicht mit Beispielen belegen und weisen Erinnerungslücken bezüglich ihrer Kindheitsgeschichte auf (Main 1996). Hilfe in Anspruch zu nehmen, fällt Personen mit distanzierter Bindungsrepräsentanz schwer. Sie neigen weniger dazu in Notsituationen wie z. B. Krankheit Hilfe in Anspruch zu nehmen und bagatellisieren ihre Probleme (Strauß 2006). In der Gegenübertragung lösen diese Patienten mit Abstand am meisten Feindseligkeit beim Therapeuten aus (Strauß 2006).

1.2.2.2    Unsicher ambivalentes Bindungsmuster und verstrickte Bindungsrepräsentanz

Wenn die Bindungsperson manchmal angemessen, manchmal aber auch nicht feinfühlig reagiert, agiert sie grundsätzlich unvorhersehbar und unangemessen. Ihr Handeln ist nicht kalkulierbar und von ihrer eigenen momentanen Befindlichkeit abhängig. Das Kind kann sich auf das Verhalten der Mutter nicht sicher einstellen, es wirkt emotional verunsichert. Um angemessene Zuwendung zu erhalten und aus Angst, diese zu verlieren, neigt das Kind zu einem klammernden Kontakt zu der Bindungsperson. Diese wiederum benötigt und benutzt unter Umständen ihr Kind zur Aufrechterhaltung des eigenen Gleichgewichtes. Die Autonomiebestrebungen des Kindes werden nicht gefördert, sondern teilweise sogar sanktioniert: Es entsteht ein unsicher ambivalentes Bindungsmuster.

Im AAI zeigen sich bei den Personen mit verstrickter Bindungsrepräsentanz mitunter intensive Gefühle, von denen die interviewte Person überwältigt scheint. Die Erzählstruktur ist beeinträchtigt und die Transkripte sind teilweise sehr lang, wobei auch zahlreiche irrelevante Inhalte bzw. vage Angaben zu finden sind (Main 1996). In bindungsrelevanten Situationen wie z. B. Krankheit suchen diese Personen aktiv Hilfe auf und neigen dazu ihre Situation zu übertreiben (Strauß 2006). Dementsprechend fühlt sich der Therapeut in der Gegenübertragung auch sehr beansprucht (Strauß 2006). In Einklang mit diesen Erkenntnissen berichten Patienten mit verstrickter Bindungsrepräsentanz auch mehr physische Symptome und verursachen durch häufigere Arztbesuche mehr Kosten (Ciechanowsky et al. 2002).

1.2.3     Desorganisiertes Bindungsmuster und von unverarbeitetem Objektverlust beeinflusste Bindungsrepräsentanz

Wenn die Bindungsperson, die in Gefahrensituationen eigentlich beruhigend wirken sollte, in der Interaktion mit dem Kind beispielsweise durch psychopathologische Symptome abwesend ist oder selbst als Gefahrenquelle auf ihr Kind einwirkt (z. B. durch Missbrauch), erfolgt in jedem Fall eine unangemessene Reaktion auf das Bindungsverhalten des Kindes. Weil die Bindungsperson keinen Schutz gewähren kann und selbst zur Quelle der Gefahr für das Kind wird, versagen die Anpassungsstrategien des Kindes. Geschieht dies häufig, z. B. bei schwer traumatisierten, psychisch kranken Müttern oder in einer aggressiven, gewalttätigen Umgebung, kann das Kind keine Bindungsstrategien aufbauen. Es entsteht ein desorganisiertes Bindungsmuster. Bei der Erhebung dieser Bindungsrepräsentanz mit dem AAI zeigen sich mitunter totale Brüche in der Erzählung, inhaltliche Widersprüche, aber auch dissoziative und wahnhafte Elemente (Main 1996). Diese Bindungsrepräsentanz wurde von verschiedenen Autoren in Verbindung mit einer psychopathologischen Entwicklung gebracht (z. B. Rosenstein und Horowitz 1996). Für die gelingende Inanspruchnahme von Hilfe in einer existenziellen Notsituation wie schwerer Krankheit erweist sich die von unverarbeitetem Objektverlust beeinflusste Bildungsrepräsentation als sehr ungünstig wegen des Fehlens möglicher positiver Antworten auf Bindungsangebote.

Die Bindungsrepräsentanzen erwachsener Menschen stehen, wie den obigen Ausführungen zu entnehmen ist, in Zusammenhang zu spezifischen Verhaltensweisen in Notsituationen. Diese Erkenntnis kann für den Kontext der Palliativen Situation nutzbar gemacht werden, indem Interventionsstrategien die internalisierten Bindungserfahrungen der Patienten als Erklärungsmodell für aktuelle Verhaltensweisen nutzen. Darauf aufbauend ist therapeutisch das Angebot einer sicheren Bindungsbeziehung von großer Bedeutung. Die Merkmale einer solchen Beziehung und wie diese vonseiten der Bindungsperson entwickelt werden kann, wird im Folgenden erläutert.

1.3       Wesentliche Merkmale einer sicheren Bindungsbeziehung

Feinfühligkeit wird als wesentliche Grundlage für die Qualität der Bindungsbeziehung gewertet (z. B. Brisch 2009). Feinfühliges, empathisches Pflegeverhalten unterstützt ein Interaktionsmuster, das als sichere Bindungsbeziehung bezeichnet wird (Ainsworth et al. 1971), wenngleich der Zusammenhang zwischen Feinfühligkeit und sicherer Bindung nicht so stark ist, wie ursprünglich von Ainsworth angenommen (vgl. die Metaanalyse von DeWolff und van IJzendoorn 1997). Die Befunde konnten dahingehend spezifiziert werden, dass Feinfühligkeit insbesondere in außerordentlichen Stresssituationen ein guter Prädiktor für Bindungssicherheit zu sein scheint (Mc Elwain und Booth-LaForce 2006). Dieses Ergebnis ist von großer Relevanz für die Anwendung des Konzepts Feinfühligkeit in Palliative Care.

Charakteristische Merkmale feinfühligen Verhaltens sind Ainsworth et al. (1971, 1974) zufolge:

1.  Die Bindungsperson sollte in der Lage sein, die Signale des Kindes (z. B. schreien) wahrzunehmen,

2.  diese richtig zu interpretieren (z. B. als Hungergefühl) und sie

3.  angemessen sowie

4.  prompt zu beantworten.

Das Ausmaß der Feinfühligkeit mütterlichen Verhaltens kann z. B. auf der von Ainsworth und Mitarbeitern entwickelten Skala (Ainsworth et al. 1974) mit den Polen »highly sensitive« – »insensitive« bewertet werden. Ein zentraler Aspekt feinfühliger Interaktionen zwischen Baby und Mutter ist die Fähigkeit der Mutter, die Welt mit den Augen des Kindes zu sehen (Mind-Mindedness; Meins 1997), was sich in der Interaktion unter anderem in Kommentaren der Mutter über den mutmaßlichen Gemütszustand des Babys äußert (vgl. Meins et al. 2001). Mind-Mindedness ermöglicht der Mutter folglich die Wahrnehmung ihres Kindes als intentionales Individuum, was grundlegend für die Sinnzuschreibung der kindlichen Signale und darauf aufbauende feinfühlige Reaktionen ist.

Etablierte Mind-Mindedness der Mutter ermöglicht die sensible Wahrnehmung und richtige Interpretation kindlicher Signale. Wichtig für eine gelungene feinfühlige Interaktion ist die sich daraus ableitende Reaktion der Mutter, wobei von besonderem Interesse der Fall ist, dass eine angemessene Reaktion auf ein Bedürfnis des Kindes darin besteht, dieses zu verweigern (z. B. der Wunsch nach Fortführung des Spieles, wenn die Mutter das Kind zu Bett bringen möchte). Nach Ainsworth et al. (1974) zeichnet sich eine hohe Feinfühligkeit in diesem Fall dadurch aus, dass die Mutter signalisiert, das Bedürfnis des Kindes verstanden zu haben und ihm eine zeitlich prompt erfolgende und akzeptable Alternative (in dem oben genannten Beispiel vielleicht durch Vorsingen eines Liedes) zu bieten, sodass die Interaktion für beide – Mutter und Kind – befriedigend verläuft.

1.4       Der Sterbeprozess als bindungsrelevante Situation – Interventionen nach dem Konzept »Feinfühligkeit«

Die Bindungstheorie von John Bowlby fußt zwar auf Beobachtungen von Verhaltensmustern in der frühen Kindheit, aber schon er betont, dass sich Bindungsverhalten in Zeiten größter Abhängigkeit – in der frühen Kindheit und im hohen Alter – am ehesten zeigt (Bowlby 2003, S. 27). In der Phase des Sterbens, dieser existentiell bedrohlichen Trennungs- und Gefahrensituation unseres Lebens, ist das Bindungssystem des Patienten, aber auch der Angehörigen hoch aktiviert. Bei genauer Beobachtung lassen sich die Bindungsrepräsentanzen anhand typischer Interaktionsmuster im Familiensystem, durch genaue Wahrnehmung des Patientenverhaltens; aber auch in der Interaktion zwischen Team und Patienten erkennen und für therapeutische Zwecke nutzen.

Dabei scheint das Konzept von »Feinfühligkeit« hilfreich zu sein, da es dem therapeutischen Team eine Verhaltensgrundlage für das Angebot einer sicheren Bindungsbeziehung gibt (Signale wahrnehmen, richtig interpretieren, angemessen und prompt reagieren) und einen verständnisvollen Zugang zum Verhalten des Patienten ermöglicht. Das multidisziplinäre Team einer Palliativstation kann bei Schwerkranken durch dieses Beziehungsangebot als Zuflucht – mit einem Begriff aus der Bindungstheorie – als »secure base« fungieren. Wie Grossmann (2003) zeigen konnte, ist das zentrale Merkmal einer Intervention, die sich auf das Konzept der »Feinfühligkeit« bezieht, die individuelle Herangehensweise. In der Mutter-Kind-Situation gibt es einen reichhaltigen gemeinsamen Erfahrungshorizont, der die Interpretation kindlicher Signale erleichtert. Auf diesen kann in der palliativen Situation nicht zurückgegriffen werden. Umso wichtiger ist daher die Diagnostik der prägnanten Bindungsrepräsentanzen des Patienten, da deren Kenntnis die Voraussetzung für eine sinnvolle Interpretation der Patientensignale ist. Welchen Bedürfnissen der Patient mit seinen Signalen Ausdruck verleihen möchte und wie das Team angemessen darauf reagieren kann, muss durch eine Analyse der Bindungsgeschichte für jeden Patienten neu entschieden werden. Die Möglichkeit des Einsatzes standardisierter Erwachsenen-Bindungsdiagnostik im Bereich der stationären Palliativmedizin wird derzeit von den Autoren untersucht.

Hinweise auf Bindungsrepräsentanzen ergeben sich im Erstkontakt während des Aufnahmegesprächs über verbale und nonverbale Kommunikation (Sprache, Sprachduktus, Gestik, Körpersprache und Gefühlsäußerungen). Für dieses Gespräch ist viel Zeit notwendig, da es gilt, Sorgen, Ängste und Wünsche zu erkennen. Klare medizinische sowie pflegerische Strategien des Palliativkonzepts wirken meist schon beruhigend und entlastend. Innerhalb des Teams werden die weiteren Kontakte zu dem Patienten und seinen Angehörigen (pflegerisch, medizinisch) täglich in Form von Übergaben kommuniziert. Im Idealfall entsteht sehr schnell das Gefühl einer sicheren Verbindung, einer »secure base« auf Seite des Patienten.

Im Folgenden wird dargestellt, wie die einzelnen Bindungsrepräsentanzen klinisch beobachtet und mit dem Konzept von »Feinfühligkeit« therapeutisch genutzt werden können. Ziel der Interaktionen ist das Angebot einer korrigierenden emotionalen Erfahrung, die letztlich einen ruhigen Sterbeprozess unterstützt.

1.4.1     Autonome Bindungsrepräsentanz

Bei Patienten mit autonomer Bindungsrepräsentanz ist die Kommunikationsfähigkeit fließend mit offenem, klarem Blickkontakt. Im Gespräch zwischen Arzt und Patient, aber auch innerhalb der Familie, werden Gefühle offen und angemessen gezeigt. Der Sprachduktus ist schwingend, modulierend, die Mimik und die Körpersprache entsprechen den Gefühlen. Symptome der Erkrankung werden in klarer, direkter Form offen mitgeteilt. Die Patienten haben ein natürliches Bedürfnis über ihr Leben und ihre Beziehungen zu erzählen. Die Narration wirkt dabei kohärent, biographische Erlebnisse werden selbstreflexiv wiedergegeben. Patienten mit einer autonomen Bindungsrepräsentanz gehen eine »elastische Kooperationsbereitschaft« mit dem Palliative-Care-Team ein.

1.4.1.1    Biographie

Biographisch schwierige Zusammenhänge können in kohärenter, selbstreflexiver Art berichtet werden. Schmerzhafte Erlebnisse werden realistisch und emotional angemessen in ihrem eigenen Kontext dargestellt, empathisches Mitschwingen ist gut möglich. Die Patienten gehen flexibel auf Fragen und neue Sichtweisen des Gesprächspartners ein und können sie in ihre eigenen

Vorstellungen integrieren. Weil Gefühle auch sichtbar in Gestik, Mimik und Körperhaltung kommuniziert werden, ist ein offener verbaler Dialog möglich. Wenn Worte nicht ausreichen, um Trauer in Worte zu fassen, trägt gemeinsame Stille.

1.4.1.2    Interventionen

Dem Konzept von »Feinfühligkeit« folgend lassen sich die Signale des Patienten eindeutig wahrnehmen und gut interpretieren. Ärztliche und pflegerische Hilfe und Entlastung kann angemessen und prompt angeboten werden. Die Begleitung von Patienten mit autonomer Bindungsrepräsentanz ist für Patient, Familie und Team befriedigend.

Sichere, autonome Bindungsrepräsentanz

Der 82-jährige Patient wurde wegen Schmerzen und Sturzneigung bei einem zugrundeliegenden Prostatakarzinom auf unsere Station aufgenommen. Im Erstgespräch fiel auf, dass der Patient – auch im Beisein seiner Familie – offen und klar über seine Erkrankung und die damit einhergehenden körperlichen Symptome, aber auch seine Ängste sprechen konnte. Er äußerte den Wunsch, vor seinem Tod noch einmal nach Hause zu seiner Frau zurückkehren zu können. Als Therapieziel wurde zunächst die befriedigende Behandlung der Schmerzen vereinbart.

Da der Patient seine Familie als große Unterstützung erlebte, reagierte das Stationsteam auf diese Bedürfnisse, indem viel Raum und Zeit für die Angehörigenbesuche zur Verfügung gestellt wurde, sodass pflegerische und ärztliche Aktivitäten nach Möglichkeit nicht den Besuch störten. Bei gleichzeitiger Signalisierung von Verfügbarkeit, beispielsweise in den Visiten und bei der Pflege, konnte das Team der Palliativstation so angemessen auf den Wunsch des Patienten nach Nähe zu seinen Angehörigen reagieren. Die offene Kommunikation in der Familie wurde unterstützt: Mit dem Einverständnis des Patienten wurden die Möglichkeiten der Behandlung mit ihm und seinen Angehörigen besprochen. In den Visiten war es möglich, einfühlsam über die Situation des Patienten zu sprechen und sie gemeinsam mit ihm zu betrauern. Die Gespräche mit dem Stationsteam wurden vom Patienten und den Angehörigen als erleichternd empfunden. Als sich abzeichnete, dass der Patient nicht mehr nach Hause entlassen werden konnte, sagte er: »Frau Doktor, ich wäre so gern noch mal in meine Wohnung zurück, aber das geht nicht mehr. Ich würde so gern noch ein wenig leben – aber das geht nicht. Ich bleibe bei Euch.«

1.4.2     Distanzierte Bindungsrepräsentanz

Im Aufnahmegespräch fällt eine eher spröde, verhaltene Kommunikation mit kürzeren oder längeren Pausen auf, meist ohne spontanen offenen Blickkontakt. Die Sprachmelodie ist wenig modulierend, fast monoton. Es fällt schwer, konzentriert zuzuhören. Situativ angemessene Gefühle werden nicht gezeigt, schwierige Momente im Krankheitsverlauf eher beiläufig, nüchtern, stockend berichtet. Die Angehörigen sind zwar präsent, aber meist in räumlicher und körperlicher Distanz. Das Gefühl von Distanz überträgt sich sofort auf den Zuhörer, es lässt keine spontane Nähe zu. Aus der Körpersprache lässt sich eine gewisse Spannung ablesen, so z. B. geballte Fäuste. Der Gesprächsinhalt beschränkt sich zunächst auf praktische Dinge, Emotionales wird wenig kommuniziert. So sind häufige Bemerkungen: »Da kann man nichts tun«, »Da muss man eben durch« oder ähnliches.

1.4.2.1    Biographie

Erinnerungen an frühere Ereignisse, insbesondere Kindheitserinnerungen, weisen Erinnerungslücken auf, meist wird mindestens ein Elternteil als streng und distanziert beschrieben. Es fällt eine wenig kohärente Narration bei Erzählungen auf. Eltern und Erziehungsmethoden werden idealisiert. Negative Erfahrungen werden umgedeutet (»Eine Tracht Prügel ab und zu, die habe ich immer verdient!«). Der Wunsch nach eigener Unabhängigkeit und eine große Schwierigkeit, fremde Hilfe anzunehmen, werden immer wieder betont. Die Ablösung aus dem Elternhaus erfolgt in der Regel früh.

Diesen Patienten fehlt die frühe Erfahrung einer feinfühligen Zuwendung in Momenten von Gefahr. Die Verhaltensstrategien sind dementsprechend darauf ausgerichtet emotionale Abhängigkeiten aus Angst vor Zurückweisung zu vermeiden, und diese Situationen aus eigener Kraft zu lösen.

1.4.2.2    Interventionen

Da es Menschen mit Affektvermeidung schwer fällt, direkte Signale zu geben, können die verborgenen Wünsche nur indirekt wahrgenommen und feinfühlig gedeutet werden. So mag der wiederholte Wunsch nach einem Schmerzmittel das Signal für Angst und Zuwendungsbedürfnis sein und eine angemessene und prompte Antwort darauf: »Ich bleibe gerne ein wenig bei Ihnen und warte bis das Mittel gewirkt hat«. Diese Reaktion ist unter Umständen wirksamer als eine erneute Schmerzmittelgabe. Die Aussage: »Ich fühle mich heute elend und übel«, könnte bedeuten »Ich habe so Angst, wie es mit mir weitergeht und was mir noch bevorsteht. Vor Angst ist mir ganz schlecht«. Wichtig ist, die Inhalte vorsichtig zu interpretieren und den Patienten stets zu weiteren Erläuterungen seinen Zustand betreffend zu ermutigen, um seine Bedürfnisse zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren.

Die verinnerlichten Bindungsmodelle bei Patienten mit distanzierter Bindungsrepräsentanz enthalten die Erfahrung, dass Bindungssignale nach Schutz und Hilfe nicht verstanden oder abgelehnt werden. Um der wiederholten Erfahrung von Schmerz oder Ablehnung in Bindungssituationen zu entgehen, minimieren Personen mit distanzierter Bindungsrepräsentanz ihre Bindungserfahrungen und schaffen sich so weitgehende Unabhängigkeit. In Palliative Care wird den Patienten das Gefühl ermöglicht, dass Signale richtig interpretiert und adäquat beantwortet werden können, was eine emotional korrigierende Erfahrung aufseiten des Patienten unterstützt. Natürlich lässt sich nicht jeder Patient emotional erreichen. Manchmal ist die emotionale Vermeidungshaltung so ausgeprägt, dass sie unterstützt und mitgetragen werden muss. Bei Zusammenbruch der Abwehr drohen sonst heftige, zum Teil delirante psychische Entgleisungen.

Unsichere, distanzierte Bindungsrepräsentanz

Die Einweisung auf die Palliativstation erfolgte bei der 60-jährigen Patientin wegen Schmerzen bei einem zugrundeliegenden Pankreaskarzinom. Im Erstgespräch fielen eine gespannte Stimmung und der mangelnde emotionale Rapport der Patientin auf. Ihr Mann verabschiedete sich beim Eintreten der Ärztin mit einem Kopfnicken von der Patientin und verließ das Zimmer. Die Kommunikation der Patientin war inkohärent: Während die Gesprächsinhalte einen formellen Charakter aufwiesen, spiegelten sich in Mimik und Gestik durch geballte Fäuste bzw. weit aufgerissene Augen Angst und Anspannung. Die Angst der Patientin wurde vom Stationsteam als Bedürfnis nach Klärung und Strukturierung einer »unfassbaren« Situation gedeutet. Daher bestand die erste Intervention in einer Erläuterung der Behandlungs- und Entlassmöglichkeiten. Diese führte zu einer verbal geäußerten Entspannung bei der Patientin (»Ich hatte gedacht, ich müsste hierbleiben!«).

Da die Schmerzen von der Patientin als »unerträglich« wahrgenommen wurden, lag der Schwerpunkt der therapeutischen Intervention auf der Schmerztherapie. Nach erfolgreicher Schmerztherapie wurde die Patientin offener, dennoch waren Gespräche über ihre Situation, insbesondere die Thematisierung emotionaler Erlebnisinhalte, kaum möglich. Die diesbezüglichen Abgrenzungswünsche der Patientin und ihrer Angehörigen (der Mann nahm nur selten Kontakt zu uns auf, der Sohn der Frau erkundigte sich nur telefonisch nach ihrem Befinden) wurden als Grenzen der therapeutischen Intervention vom Stationsteam akzeptiert. Den Bedürfnissen der Patientin entsprechend wurde eine gute Struktur für die Entlassung nach Hause entwickelt. Dies und die wirksame Schmerztherapie stellten angemessene therapeutische Reaktionen dar und führten zu einer tragfähigen und zufriedenstellenden Behandlungsbeziehung zwischen dem Team und der Patientin. Auf Grundlage dieser Beziehung gelang es der Patientin, bedingt eine Ausdrucksform für ihre Gefühle zu finden, indem sie während der Zeit auf der Palliativstation zu malen begann. Am Ende der Behandlung konnte sie noch einmal nach Hause entlassen werden.

1.4.3     Verstrickte Bindungsrepräsentanz

Die Mitteilungsfähigkeit ist bei dieser Bindungsrepräsentanz meist sehr überschwänglich und zwar seitens des Patienten und seiner Angehörigen. Der Erstkontakt ist teilweise von sehr heftigen Emotionen und einer unruhigen Atmosphäre geprägt. Die verbalen Mitteilungen erfolgen in einer stark modulierten Sprache. Gefühle werden oft in schnellem Wechsel von Trauer, Angst und Ärger kommuniziert. Körperlich besteht zwischen Patient und Angehörigen eine deutliche, fast klammernde Nähe. Als Zuhörer ist man von der aufgeregten Atmosphäre zunächst irritiert, es dauert einige Zeit, die Situation zu strukturieren und den Patienten in das Zentrum des Geschehens zu rücken. In der Narration fällt eine gewisse Sprunghaftigkeit auf, der Patient berichtet etwas konfus, teilweise mit schier endlosen, detaillierten, ermüdenden Beschreibungen von seinen Krankheitserlebnissen.

1.4.3.1    Biographie

Erinnerungen an frühere Ereignisse und Kindheitserlebnisse sind durch eine Fülle von Details, inhaltlichen Verstrickungen und widersprüchlichen Aussagen gekennzeichnet. Meist erzählen die Patienten von einer »wunderschönen« Kindheit. Frühe Bindungserfahrungen werden als unstet bewertet und oft sehr ambivalent beschrieben. Eine Ablösung aus dem Elternhaus erfolgt meist spät, bei genauem Hinterfragen lassen sich meist Verstrickungen und symbiotische Beziehungen erkennen.

1.4.3.2    Interventionen

Die Signale der Patienten und einer meist sehr eng klammernden Familie zu erkennen und dann feinfühlig zu beantworten, ist anstrengend. Zunächst übernimmt oft der mitunter überlastete Angehörige die Führung des Aufnahmegespräches, der Patient scheint erschöpft und kontaktunfähig, bei genauem Hinspüren fühlt man meist eine gewisse Verstimmung und Ärgerlichkeit.