Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Der erste Rebell der Neuzeit
Wie Martin Luther das Christentum veränderte
Ritter, Tod und Teufel
Das Jahrhundert Martin Luthers war eine Zeit zwischen Aufbruch und Umbruch
Der Abfall des Empörers
Das Privatleben des Reformators
Das Silicon Valley des Mittelalters
Luther als einer der ersten großen Publizisten der Menschheitsgeschichte
„Sinn fürs Praktische“
Interview mit dem Historiker Andrew Pettegree über die Medienstrategie Luthers
Die Idee vom fröhlichen Tod
Der Theologe Johann Hinrich Claussen über die Frömmigkeit Luthers
Deutsche Protestantische Republik
Das Erbe Martin Luthers
Literatur
Die wichtigsten Bücher zum Lutherjahr
Impressum
Einleitung

Der Rebell 

Martin Luther und die Reformation 
Die Behauptung, dass Geschichte von großen Männern gemacht wird, wird heute eher belächelt, sie gilt als Relikt der Historiographie des 19. Jahrhunderts. Inzwischen werden soziale Bewegungen und kulturelle Innovationen als treibende Kräfte des Weltgeschehens betrachtet. 
Und so wird auch die Reformation seit langem als Folge einer innerkirchlichen Reformdebatte interpretiert, die schon seit mehr als 100 Jahren auf diesen einen kritischen Punkt zusteuerte, die Kirchenspaltung zwischen den katholischen Vertretern des Status Quo und den ungeduldigen Reformern, den Protestanten. 
Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte des 16. Jahrhunderts, hält das allerdings für eine „protestantische Geschichtslegende“. Von einer „krisenhaften Beschleunigung“des innerkirchlichen Zerfalls könne nicht die Rede sein, keineswegs habe es damals eine „mit Notwendigkeit auf eine Reformation hindrängende Situation“gegeben.
Wer oder was also hat dann die Reformation ausgelöst? War es doch der „große Mann“ Martin Luther, der mit seinen Reden, seinen Predigten und Schriften die Welt bewegte? War es doch dieser fromme Rebell des „Hier stehe ich und kann nicht anders“, der der katholischen Kirche aus eigenen Kräften den entscheidenden Stoß versetzte?
Die Antwort muss wohl umgekehrt lauten: Ohne Martin Luther wäre das alles nicht passiert, ohne dieses Genie des Wortes und des Geistes hätte die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen. Natürlich hätte die Kirche sich auch ohne ihn verändert, womöglich wäre es zu anderen Abspaltungen und Ausgründungen gekommen, aber die intellektuelle Kraft, mit der dieser unglaublich beharrliche und theologisch konsequent denkende Doktor Martinus Luther den Papst und dessen Bischöfe attackierte, war schon einzigartig. Also: Ohne Luther keine Reformation.
Der SPIEGEL hat den bevorstehenden 500. Jahrestag der Reformation zum Anlass genommen, um mit einer fünfteiligen Serie die Geschichte Luthers und der von ihm ausgelösten Kirchenspaltung zu beschreiben – eine Serie, die hier vollständig dokumentiert und durch weitere SPIEGEL-Beiträge ergänzt wird.
Luther steht selbstverständlich im Mittelpunkt dieser Co-Produktion von sechs SPIEGEL-Redakteuren, aber sein historisches Umfeld und die Bedingungen, unter denen er sein Werk schuf, spielen ebenfalls eine zentrale Rolle.
Die Serie beginnt mit der Biographie eines zornigen jungen Mannes, der eigentlich Jurist werden sollte, dann aber seine theologische Mission entdeckte und gegen den römischen Papst zu Felde zog. Luther wollte die Kirche retten, er wollte sie erneuern und auf den Pfad der Tugend zurückführen. Der Mensch, so predigte der Augustinermönch, werde als Sünder geboren und als Sünder sterben, niemand könne ihm diese Sünden vergeben, auch und gerade die Kirche nicht, die den Ablasshandel zu einem schamlosen Geschäftsmodell gemacht hatte. Aus dem engagierten Reformer wurde im fortgeschrittenen Alter so etwas wie der erste Wutbürger der Neuzeit: Luther verachtete die aufständischen Bauern, er entpuppte sich als übler Antisemit und Feind aller Muslime – auch die Schattenseiten dieses wortgewaltigen Predigers werden nicht unterschlagen.  
Dann wird Luthers Welt rekonstruiert, also jener Kosmos des frühen 16. Jahrhunderts, der das Wirken des Reformators überhaupt erst verständlich macht. Dazu zählen vor allem die innerkirchlichen Verwerfungen im Vorfeld der Reformation: Nicht nur das Geschäft mit dem Ablass, sondern auch Korruption und Ämterkauf sowie Doppelmoral und Heuchelei im Klerus. Zugleich aber auch die heute unvorstellbar tiefe Religiosität der Menschen dieser Epoche, Wunderglaube und Hexenwahn. Und schließlich werden die extremen Gewalterfahrungen dieser Zeit geschildert, gepaart mit einer Gewaltbereitschaft, die in einer zivilisierten Gesellschaft undenkbar wäre. Allein der Katalog der üblichen Todesstrafen übersteigt unsere Vorstellungskraft bei weitem. 
Parallel aber kam auch das Neue zum Zuge, die Neugier auf die weite Welt, die Entdeckung Amerikas und der eigenen Geschichte. Die Humanisten begeisterten sich für die Denker der Antike und propagierten zugleich so etwas wie eine nationale Identität. Schon vor Luther übersetzten sie lateinische Schriften ins Deutsche und kultivierten die Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens. Auf diesem bildungsbürgerlichen Fundament erst konnte Luther sein Werk errichten. 
Der dritte Teil der SPIEGEL-Serie konzentriert sich auf die Medien-Revolution der Zeit um 1500. Ohne die Erfindung des Buchdrucks wären Luthers Schriften nie so wirkmächtig geworden. Als der spätere Reformator nach Wittenberg kam, existierte dort eine einzige Druckerei; mit der Nachfrage nach seinen Texten, vor allem seiner deutschen Bibel-Übersetzung, wurden es mehr und mehr. In den knapp drei Jahrzehnten zwischen 1517 und 1546, dem Todesjahr Luthers, produzierten allein die Wittenberger Druckereien etwa drei Millionen Bücher –  eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, dass nicht einmal zehn Prozent der Deutschen damals lesen und schreiben konnten. Luthers Popularität wurde zudem durch seinen Freund Lucas Cranach gefördert. Dessen Malerwerkstatt produzierte ein Luther-Porträt nach dem anderen, neben Ölgemälden waren es besonders die Kupferstiche, die das Antlitz des Kirchenkritikers in aller Welt verbreiteten. Es gab im 16. Jahrhundert nur sehr wenige Menschen, die häufiger als Luther abgebildet wurden. 
Für den vierten Teil der Serie, einen Text über den Theologen Luther, zeichnet ein Gastautor verantwortlich, der früher in Hamburg tätige Pfarrer Johann Hinrich Claussen, heute Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Berlin. Claussen ist fasziniert vom „wilden Denken“ und der vorkritischen Frömmigkeit des ersten protestantischen Predigers überhaupt. „In Luthers radikaler Einsamkeit“, so argumentiert der Theologe, „liegt das Geheimnis seiner Person, ein ungeheurer Schmerz, aber auch der Keim für einen unerhörten Mut, eine ungeahnte Freiheit und eine neue Möglichkeit, ein Einzelner zu sein.“ Luther habe mit sich selbst „ins Reine“ kommen wollen, mit seinem persönlichen Gott, ohne Vermittlung oder gar Intervention kirchlicher Institutionen. Dabei sei er zu der Gewissheit gelangt, dass er „vor sich und vor Gott als dem absolut ‚Guten’ nicht bestehen konnte“. 
Dieser so moderne, individualistische Zugang zum Glauben enthält freilich auch das, was Spötter heute die „protestantische Selbstzerknirschung“ nennen, die Bereitschaft, sich selbst für alles und jedes verantwortlich zu machen, den oder die anderen hingegen von jeder Schuld freizusprechen.
Schließlich werden die Folgen der Lutherschen Revolution bis zur Gegenwart geschildert. Und es ist schon faszinierend, wie sehr diese Glaubensrevolte bis in die letzte Faser unserer Gesellschaft einwirken konnte. Obwohl sich die Menschen in Massen von den großen Kirchen abwenden, ist das Erbe der Reformation allgegenwärtig. Das gilt für die von Max Weber beschriebene protestantische Arbeitsmoral, ohne die der Kapitalismus europäischer Prägung nie so erfolgreich geworden wäre. Das gilt für die moralisierende Politik des Verzichts und der Askese, für die Friedensbewegung, die Anti-Atombewegung und die Partei der Grünen. Und nicht zuletzt findet sich Luthers Erbe im protestantischen Pfarrhaus, der Keimzelle karitativer und politischer Arbeit. Die Repräsentanten des deutschen Katholizismus spielen heute in der Parteiendemokratie nur eine Nebenrolle. Führende Ämter sind mehrheitlich von Protestanten besetzt. Und an der Spitze des Gemeinwesens ist die Bindung an die evangelische Kirche besonders intensiv: Bundespräsident Joachim Gauck war früher Pastor in Rostock, Bundeskanzlerin Angela Merkel stammt aus einem märkischen Pfarrhaus. 
Luthers Reformation, das zeigt dieser abschließende Teil der SPIEGEL-Serie, wird auch dann noch Bestand haben, wenn die christlichen Kirchen zu Fußnoten der Geschichte geworden sein sollten. Längst hat sich Luthers Erbe so in das allgemeine Bewusstsein eingesenkt, dass die Existenz von Gemeinden, Pfarrern und Gläubigen zur Verbreitung des protestantischen Wertekanons kaum noch notwendig ist. 
Martin Doerry
Abbildung
SPIEGEL-TITEL 44/2016

Der erste Rebell der Neuzeit

Der 31. Oktober 1517 gilt als Beginn der Reformation. Mit seinen 95 Thesen, seiner Frömmigkeit und seinem Hass hat Martin Luther Deutschland geprägt wie kein anderer. Von Georg Diez
Der eine Mann schaut mutig in die Welt, fast wie ein Krieger. Sein Blick offen und selbstbewusst, Gott ist auf seiner Seite. Er weiß, es gibt kein Zurück.
Der andere Mann dagegen schaut müde. Er ist mächtig, das sieht man an seiner Gestalt, an seiner Pose. Er ist sich immer noch sicher, dass Gott auf seiner Seite steht. Aber er weiß auch, wie viele Opfer die Kämpfe gekostet haben, die er ausgelöst hat, und er weiß wohl auch, wie viele Opfer es noch geben wird.
Das eine Bild zeigt Luther als hageren Mönch, mit Tonsur und Kutte. Es ist das Jahr 1520, in dem einige seiner wichtigsten Schriften erscheinen. Es ist das Jahr, in dem Luther zu dem Luther wird, den wir zu kennen glauben.
Das andere Bild zeigt Luther als Würdenträger mit feistem Gesicht. Seine Ängste, die immer stark waren, werden fast übermächtig in dieser Zeit. Er rechnet mit dem Ende, der Apokalypse. Es ist das Jahr 1541, in dem die Türken die Städte Buda und Pest erobern. Für Luther sind die Türken, wie er schreibt, „des Teuffels diener, das hat keinen Zweifel“.
In den Jahren, die zwischen den beiden Bildern liegen, die Lucas Cranach der Ältere von Martin Luther machte, war die Welt eine andere geworden. Sie war brüchiger geworden, komplizierter, größer, moderner. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatte sie große Fortschritte gemacht. Johannes Gutenberg hatte um 1450 die Druckerpresse mit beweglichen Metalllettern erfunden und damit eine mediale Revolution hervorgerufen, die Luthers Wirkung erst möglich machte. Christoph Kolumbus hatte 1492 Amerika entdeckt und eine frühe Globalisierung in Gang gesetzt. In Italien arbeiteten Künstler und Gelehrte der Renaissance wie Leonardo da Vinci daran, den Menschen ins Zentrum des Denkens zu stellen, was Luther auf seine Weise bekämpfte. Und Luthers Zeitgenosse Nikolaus Kopernikus stellte fest, dass sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht. Es waren bewegte, verwirrende Zeiten, für alle.
Der Mensch wurde sich seiner Möglichkeiten bewusst, der Weg der Freiheit zeichnete sich ab – das alles steigerte die Angst derjenigen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten. Es war ein Zeitalter im Umbruch, ganz ähnlich wie heute. Die technischen, naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen erzeugten einen Druck, dem das gesellschaftliche Gefüge nicht länger standhalten konnte. Und Martin Luther war mittendrin, er war der Mann auf der Schwelle, er war es, der das Alte mit dem Neuen verband, auf eine so einmalige Art, dass er noch heute als Modell dienen kann, der erste Rebell der Neuzeit.
Er war der Mann, der die Kirche nicht spalten wollte und schon gar nicht die Welt, denn Welt und Kirche waren eins im Mittelalter – aber der Bruch, der von ihm ausging, setzte die Kräfte frei, die Europa in die Neuzeit vorantrieben.
Er formulierte den Zweifel an Teilen der herrschenden Lehre, und weil der Zweifel dem Menschen eigen ist, stärkte er den Einzelnen gegenüber der Institution, das war sein Widerstand. Er bot dem Papst die Stirn und dem Kaiser und der Korruption, die die weltliche und die geistliche Macht verband, er war ein moralischer Krieger, und etwas von diesem Fanatismus ist bis heute geblieben.
Er wollte die Kirche retten, die er teilte, das ist der Widerspruch Luthers, der aus einem tiefen Glauben heraus handelte, weil er sah, dass dieser Glaube in Rom verraten wurde. Die Reformation also, die „Wiederherstellung“ oder „Erneuerung“, das ist die eigentliche Bedeutung dieses Wortes, war tatsächlich eine Revolution. Die Folge von Luthers Tat waren neue Institutionen, er veränderte die konfessionelle Landkarte in Deutschland, er setzte einen Prozess in Gang, der das Denken, den Glauben und die abendländische Kirche grundlegend umstürzte.
Ein halbes Jahrtausend danach sind die Folgen noch immer spürbar, kulturell und politisch, sie betreffen Alltag wie Kunst, Essen wie Musik. Luther wurde zum Erfinder der Deutschen. Wie so oft in der Geschichte ist es schwierig, Folge, Wirkungen und Zufall auseinanderzuhalten – aber etwas war in ihm, Luther, diesem groben, genialen, ehrgeizigen, volksnahen Mönch und Professor, das ihn zum wütenden Weltenstürzer werden ließ.
Weil auch das deutsche Reich in einer Krise war, agierte er in einem hochpolitischen Umfeld, er baute seine Macht auf die Unterstützung einiger Fürsten, die ihn beschützten, weil sie ihre Macht gegenüber dem deutschen Kaiser stärken wollten, die ihm 1518 die Flucht ermöglichten und ihn 1521 sich auf der Wartburg verstecken halfen. Er war und ist für viele eine deutsche Sehnsuchts- und Schicksalsgestalt und eine Figur auf dem Schachbrett der europäischen Geschichte – jede Zeit sieht einen anderen Luther, jeder hat seinen eigenen Luther.
Dabei ist dieser Mann immer noch nah, in seinen Widersprüchen, in seinem Wollen, in seinen eigenen Worten. Er ist der Mann zwischen Mittelalter und Neuzeit.
Martin Luder, mit diesem Namen wurde er geboren, am 10. November 1483 in Eisleben, der erste oder zweite Sohn, ganz sicher ist das nicht, von insgesamt wohl neun Kindern – mitten im damals boomenden mitteldeutschen Bergbaugebiet, wo der Vater vom Bergmann zum Hüttenpächter aufstieg. Seine Familie war den Zwängen der Herkunft enthoben und doch dem Druck der Erwartungen verpflichtet. Sie war nicht arm und nicht bäuerlich, wie es manche Lutherlegende wollte, sondern Teil des im 16. Jahrhundert entstehenden Bürgertums und durchaus wohlhabend – Martin sollte den Aufstieg fortsetzen, er sollte Jura studieren, das war der Plan des Vaters.
Hans Luder hieß der Vater, streng guckt er auf dem Bild, das Cranach auch von ihm gemalt hat, breite Stirn, wuchtige Nase, der Blick in die Ferne – seine Frau Margarete dagegen, hager, fast bäuerlich karg in ihrem Aussehen, hat ihren Blick nach innen gewendet.
Der Vater ließ den Sohn in verschiedenen Dom- und Pfarrschulen erziehen – schon äußerlich unterschied sich der junge Martin damals von seinen Altersgenossen durch die Uniform, die er trug, die Uniform des Lateinschülers. Die Erziehung war streng und auf Strafen und Ordnung angelegt. Der junge Luther galt als zurückhaltend und auch etwas eingeschüchtert von dem harten Regiment, aber seine intellektuelle Begabung war früh deutlich.