Reisen bringt das Bedürfnis mit sich, davon zu erzählen. Früher am gefürchteten Dia-Abend, heute mit einer endlosen Flut aus Posts, Pics und Messages. Das Erstaunliche daran ist, dass jeder Reisende seine Erlebnisse für einzigartig und erstaunlich, seine Begegnungen mit Land und Leuten für besonders tiefgründig hält. Matthias Debureaux porträtiert ironisch und pointiert eine unserer großen Schwächen und treibt sie auf die Spitze. Wer seine Ratschläge beherzigt, wird künftig immer authentisch und faszinierend von seinen Reisen erzählen.

 

Nagel & Kimche E-Book

 

MATTHIAS DEBUREAUX

 

DIE KUNST, ANDERE MIT SEINEN REISEBERICHTEN ZU LANGWEILEN

 

 

Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky

 

 

Nagel & Kimche

 

Titel der Originalausgabe: De l’art d’ennuyer en racontant ses voyages © 2015 Allary Editions, Paris

 

 

© 2017 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Herstellung: Rainald Schwarz

Satz: Gaby Michel

ISBN 978-3-312-01027-1

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

«Reisen dienen vor allem dazu,

anderen nach erfolgreicher Rückkehr

auf den Geist zu gehen.»

Sacha Guitry

 

 

«Wer eine Weltreise unternimmt,

kann eine Viertelstunde länger zur

Konversation beitragen.»

Jules Renard

 

 

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzapfen. Schließlich kommen auf wenige begnadete Erzähler unzählige Quälgeister und Nervensägen. Karthager, die ihre Elefantenritte hemmungslos ausschmücken. Wikinger, die ihre Vergewaltigungen unter freiem Himmel endlos wiederkäuen und dabei mit Trinkhörnern voll überschäumendem Met anstoßen. Ritter, die einem mit weitschweifigen Schilderungen ihrer Kreuzzüge und jeweils ganz eigenen Methode, Sarazenen aufzuspießen, jedes lukullische Festmahl verderben. Jakobswegpilger, die stolz ihre geschundenen Füße zur Schau stellen. Wir machen uns keine Vorstellung der Höllenqualen von Marco Polos Zellengenossen, als sie sich tagelang anhören mussten, welche Kalamitäten er auf der Seidenstraße erlitten hatte. Und wir ahnen kaum, was die Frauen jener Matrosen durchgemacht haben, die bei Christoph Kolumbus anheuerten: ein Leben lang dem immergleichen Seemannsgarn lauschen.

 

 

Im 19. Jahrhundert ufert der mündliche Bericht in dem Maße aus, in dem Vergnügungsreisen Aufschwung nehmen und der Tourismus entsteht. Man reist nicht mehr, um zu entdecken, sondern um zu besichtigen. Nun begeben sich romantisch gesinnte Bürgersöhne auf Kavalierstour. Die Vertrautheit mit dem Orient, Florenz oder den Ufern des Nils verleiht dem Reisenden in tonangebenden Kreisen plötzlich einen tiefen, matten Glanz. Die Italienreise wird zum Ausweis einer empfindsamen Seele und zum gesellschaftlichen Schmiermittel. Aber was ist ein Reisender eigentlich? «Jemand, der seinen Fetzen Gesprächsstoff weitherholt», lautet die Antwort von Jules Barbey d’Aurevilly. Schon 1890 mahnte ein britisches Benimmbuch die Gentlemen zur Vorsicht: «Falls Sie eine Reise unternommen haben, sollten Sie sich lieber nicht bei der erstbesten Gelegenheit darüber auslassen. Reisen kann doch jeder, der über Geld und Muße verfügt.» Wenige Jahre später geißelte die Spaziergängerin Vita Sackville-West das Reisen als primitivste Freizeitbeschäftigung überhaupt. Die Schriftstellerin Colette glaubte, nur wem es an Phantasie gebricht, sei darauf angewiesen.

 

 

Jeder, der irgendwann die Darstellung einer Tandemfahrt durch Jakutien über sich ergehen lassen musste, kennt dieses Leid. Bei seiner Rückkehr hat der Reisende, gesättigt von malerischen Ansichten und magischen Begegnungen, nur noch eines im Sinn: Er will uns mit Anekdoten, Lebensweisheiten und Idealvorstellungen traktieren. Mag er die schönsten und entlegensten Paradiese schildern, landen wir doch immer wieder am selben Ort: Boring Boring. Die Reiseapotheke ist üppig bestückt, für Daheimgebliebene ist aber kein Impfstoff gegen Reiseberichte vorgesehen. Man müsste über den Rückkehrer Quarantäne verhängen. Oder ihn wenigstens für einen halben Tag in die Ausnüchterungszelle stecken. Aber was bringt das schon? Selbst Monate, sogar Jahre später wird er sich keine Gelegenheit entgehen lassen, in Erinnerungen zu schwelgen. Seine Odyssee brennt ihm ewig unter den Nägeln.

 

 

Inzwischen ist Reisen alles andere als ein Privileg oder heroischer Akt. Trotzdem findet sich immer irgendwo ein Mikro, wenn ein Globetrottel in Allwettertracht von der großen weiten Welt schwadroniert. Das nimmt überhand, auf dem Podium wie im richtigen Leben, und führt zu erstaunlichen Auswüchsen von Maulheldentum und Schulmeisterei. Vom frischgebackenen Ehepaar, das sein Hochzeitsgeld nicht in Tortenheber und Eierschneider investiert, sondern in eine Weltreise steckt, bis zum selbsternannten Salsakönig im Achselhemd, der seine lateinamerikanischen Tollheiten besingt, bietet die Reiseberichtmarter eine unendliche Vielfalt. Neuerdings sucht man sich gern einen ehrgeizigen Vorwand, um nicht mehr als Tourist zu gelten. Letztendlich ist ein falscher Forscher, der seine Eitelkeit offen auslebt, weitaus bedrohlicher als ein richtiger Tourist, der sich bedeckt hält. Glaubt man dem Scherzbold Edward Dahlberg, sind aber beide Sorten von Tripplern dem Wesen nach gleich: «Wer feststellt, dass sein Leben wertlos ist, begeht entweder Selbstmord oder geht auf Reisen.»

 

 

Blauäugige hängen dem Reisen oft den positiven Dreiklang «Toleranz–Wissensdurst–Offenheit» an. Jules Renard betonte hingegen, dass Reisende nur den Ort gewechselt haben, nicht die Anschauung. Und als jemand bekannte, er reise, um seine Schaffenskraft zu erneuern, erwiderte der Schriftsteller honigsüß: «Welche?» In der Kategorie Magische Begegnungen oder Göttliche Momente klaffen zwischen manchen Anekdoten ganze Welten. Als Philippe Gloaguen, Begründer des Guide du Routard, nach seiner schönsten Begegnung gefragt wurde, erzählte er, dass er in den sechziger Jahren von Beatles-Manager Brian Epstein als Anhalter mitgenommen wurde. Gut und schön. Auf dieselbe Frage hin erzählte eine junge Mitarbeiterin desselben Reiseführers, dass sie einen jordanischen Polizisten als Anhalter mitgenommen hatte, und erklärte bewegt: «Ein unvergessliches Erlebnis!»

 

 

Vor tausend Jahren eilte man bei der Rückkehr eines Ritters beflissen herbei. Heute stöpselt man sein Telefon aus. Denn nichts ist berechenbarer als ein Reisebericht. Ein paar Lektionen genügen, um zu lernen, wie man seine Freunde und Bekannten buchstäblich auf die Folter spannt. Der routinierte Phrasendrescher heißt Sie an Bord seines Shuttles willkommen. Ihnen liegt hiermit das Handbuch des vollendeten Entdeckers vor: So beherrschen Sie bald die Kunst, andere mit Ihren Abenteuergeschichten zu benebeln und sanft mundtot zu machen.