Im Nach-Franco-Barcelona der achtziger Jahre will eine Gruppe von Unternehmern die wirtschaftliche Öffnung des Landes verhindern, um ihre zwielichtigen Geschäfte zu schützen. Das Model Olga Baxter bekommt durch Zufall Einblick in die Verschwörung; sie wird zum Schweigen gebracht. Der daraufhin des Mordes verdächtige Damenfriseur will nun seinerseits das Komplott aufdecken. Mit Hilfe des Transvestiten und ehemaligen Guardia-Civil-Beamten Fräulein Westinghouse und seiner Schwester Cándida ermittelt der Friseur so gründlich, dass sowohl Polizei als auch Geheimloge Jagd auf ihn machen. Notorisch klamm, wird der selbsternannte Detektiv zum fanatischen Jogger, um – immer im Wettlauf gegen die Zeit – seinen Verfolgern zu entkommen und rechtzeitig an den Einsatzorten zu sein.

Eduardo Mendoza ist ein Jongleur und Zauberer, das Vergnügen an seiner Sprachkunst und seinem Einfallsreichtum wetteifern mit der Gewitztheit seiner Geschichte.

 

Nagel & Kimche E-Book

Eduardo Mendoza

 

DAS DUNKLE ENDE DES LAUFSTEGS

 

Roman

 

Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt

 

 

Nagel & Kimche

INHALT

TEIL 1

 

  1  Ein tückischer Hund

  2  Auf der Suche nach Toby

  3  Ärger im Hause Linier

  4  Señorita Westinghouse

  5  Am Tatort

  6  Eine unerwartete Spur

  7  Unsichtbare Tinte

  8  Der wilde Fritteur und sein sanfter Gehilfe

  9  Geheimversammlung im Fagundo Hernández

10  Feldforschung

11  Die Unregelmäßigkeiten des Señor Muñoz

12  Allgemeine Theorie der Geister

13  AFMIDF

14  Der geheimnisvolle schwarze Wagen

15  Die entscheidende Frage

16  Eine konstruktive Reise

17  Abenteuertourismus

18  Ein furchteinflößender nächtlicher Besuch

19  Das Geständnis des Señor Larramendi

20  Señor Larramendi berichtet weiter

 

 

TEIL 2

 

  1  Cándida am Fenster

  2  Auf ein Neues

  3  Der verfrorene Alte bringt mich auf den neuesten Stand

  4  Die Sportlerin, die es nie gab

  5  Der Angelhaken

  6  Die Heldentaten der Señorita Westinghouse

  7  Abschied von Señorita Westinghouse

  8  Die Auslieferung

  9  Die Ermordung der Señorita Baxter

10  In der Pedrera

11  Der verhängnisvolle Lauf der Dinge

 

 

Nachwort

TEIL 1

1
EIN TÜCKISCHER HUND

Im Großen und Ganzen ging es mir gut. Ich war gesund, mein Gedächtnis funktionierte bestens, und auch sonst war alles in Ordnung. Unter den gegebenen Umständen und nach meinen zahllosen Abenteuern hätte ich also ein beschauliches Leben führen können, und das tat ich auch – bis ein Hund mich biss und die ganze Geschichte ins Rollen brachte. Ich ging gerade sorglos und ohne auf meine Mitmenschen zu achten die Ronda de San Pablo entlang, auf dem Weg zum Bus, um eine Bestellung auszuliefern. Schon seit einiger Zeit arbeitete ich bei einem Chinarestaurant, ein Job, den ich zum einen ergattert hatte, weil ich aus Barcelona kam und die Stadt kannte wie meine Westentasche, zum anderen, weil ich – für den Fall, dass die Polizei mich anhielt – nachweisen konnte, dass mit meinen Papieren alles in Ordnung war. Zwar waren unter diesen Papieren auch welche, auf die ich gut hätte verzichten können, aber immerhin war es besser, vorbestraft zu sein, als zur Heerschar der Illegalen zu gehören wie die übrigen Angestellten, die Anteilseigner des Restaurants, die Lieferanten und ein Gutteil der Kundschaft. Ursprünglich hatte eine ehrbare Familie das Restaurant in den Räumlichkeiten eröffnet, die vor langer Zeit einmal mein bescheidenes Geschäft beherbergt hatten, einen im übertragenen wie wörtlichen Sinn lausigen Friseursalon. Die Übertragungsmodalitäten des Lokals enthielten unter anderem, dass ich Teil der Restaurant-Belegschaft würde, und als die besagte Familie einige Monate später das Geschäft an eine große Chinarestaurant-Kette übergab, übergab sie mich gleich mit, als Geschäftsführer, Koch, Lagerist, Buchhalter, Maître und Animateur für die Bunten Abende; all das natürlich nur dem Namen nach und wegen der bereits erwähnten Papiere, denn in Wirklichkeit war ich Laufbursche, Putzfrau, Säuberer verstopfter Abflussrohre, Müllmann, Kammerjäger und Rattenmatador. Ich bezweifle, dass irgendetwas davon den Hund bewog, mich zu beißen, abgesehen von dem Geruch, der aus den Pappschachteln aufstieg, die ein Kunde telefonisch bestellt hatte. Zwar empfinde ich Hunden gegenüber Abscheu und Angst, und der Köter, der mich hinterrücks anfiel und in die Wade biss, war ziemlich groß, aber eigentlich war das Ganze nicht weiter schlimm, da meine Arbeitgeber mich aus Werbegründen zwangen, die Auslieferungen im Kostüm eines Xi’an-Kriegers vorzunehmen und mich die Rüstung – wenn sie auch aus billigem Plastik statt aus Terrakotta war – vor den Fängen des Hundes schützte, sodass er verwirrt von mir abließ und offenbar keine Lust hatte, einen zweiten Anlauf zu starten. Nur fielen mir vom Schreck und dem Stolpern die Pappkartons herunter, und der Inhalt einer Schachtel ergoss sich auf den Bürgersteig. Da es sich um eine Vorspeise namens «marinierte Miesmuscheln Pow Pow» handelte, konnte ich sie alle (bis auf eine, der es gelang, sich auf einen Baum zu retten) mühelos wieder einsammeln und in der Schachtel verstauen, ohne dass sie in Aussehen oder Geschmack Schaden genommen hätten.

Bei dieser Tätigkeit überraschte mich eine gutgekleidete Dame mittleren Alters, die eine Hundeleine hinter sich her zog. Gereizt rief sie aus: «Darf man wissen, was Sie meinem Hund angetan haben?»

«Ich? Gar nichts», antwortete ich. «Ich kann Hunde nicht ausstehen.»

Diese Antwort schien sie hinsichtlich meiner Absichten zu beruhigen, denn sie wandte sich an den Hund: «Böses Tier.» Und dann wieder an mich: «Ich weiß nicht, was ihn an Ihnen gereizt hat. Bisher hat Paolo immer nur Kinder gebissen, nie Erwachsene, und schon gar nicht irgendwelche komischen Gestalten. Paolo, entschuldige dich bei diesem Herrn.»

Paolo spreizte die Hinterbeine und pinkelte auf das Pflaster.

«Nun gut», sagte sein Frauchen, «damit wäre die Angelegenheit ja dann wohl erledigt. Und kommen Sie nicht auf die Idee, uns anzuzeigen. Paolo ist nicht geimpft, und das Ordnungsamt könnte ihn mir wegnehmen. Wenn Sie mir versprechen, dieses unbedeutende Ereignis zu vergessen, wäre ich bereit, Sie für den erlittenen Ärger zu entschädigen. Geben Sie mir Ihre Kontonummer, und ich werde Ihnen etwas überweisen, sobald ich zuhause bin.»

Vor langer Zeit hatte ich einmal ein Konto bei der Sparkasse eröffnet, aber es war gleich nach der Eröffnung von der Sparkasse selbst gepfändet worden. Also sagte ich: «Mir wäre eine Barzahlung lieber.»

«Ich habe nur lächerliche neun Euro dabei.»

«Geht in Ordnung.»

Sie holte ihr Portemonnaie aus der Tasche, klaubte einen Schein und ein paar Münzen heraus und gab sie mir. Dann ging sie, gefolgt von Paolo. Kaum war sie fort, ging ich zu einer leeren Bank und ließ mich darauf nieder. Alle Gedanken, die mich bis zu diesem Augenblick beschäftigt hatten (Fußball), waren wie weggefegt, stattdessen wirbelten Erinnerungen und Ideen durch meinen Kopf, dass ich völlig verwirrt und wie betäubt war. Wie von Zauberhand sah ich mich an einen anderen Ort und in eine lange vergangene Zeit zurückversetzt, als eine Reihe widriger Umstände mich in eine Einrichtung verschlagen hatte, in der – eher zwangsweise als freiwillig – Menschen hausten, die mangelndes seelisches Gleichgewicht und strafbares Verhalten mit der wiederholten Unfähigkeit verbanden, die Justiz von ihrer Unschuld zu überzeugen …

Eines Morgens in aller Frühe, noch vor Dusche und Frühstück, war ich in den Innenhof dieser Anstalt gegangen, um die Müllsäcke meines Pavillons in den entsprechenden Container zu werfen, als ich Toñito auf mich zukommen sah. Dass Toñito zu dieser frühen Stunde frei herumlief, war ungewöhnlich, aber an Toñito war alles ungewöhnlich, deshalb maß ich dem Ganzen weiter keine Bedeutung bei, nicht einmal, als er an mich herantrat und sagte: «Jemand fragt nach dir. Im Foyer.»

«Was?»

Toñito war schwer zu verstehen. Irgendwann hatte mal jemand zu ihm gesagt, als er vor sich hin geträumt hatte: «Toñito, niemand reißt sein Maul so weit auf wie du.» Toñito hatte das irgendwie missverstanden als «niemand reißt die Fraun und Weiber auf wie du» und lief seitdem Tag und Nacht mit offenem Mund herum, was seine Aussprache natürlich nicht deutlicher machte. Deshalb fragte ich nicht weiter nach, sondern lief ins Foyer, um nachzusehen, ob dort tatsächlich jemand auf mich wartete. Das Foyer war ein kahler Raum, in dem die wenigen Besucher, die einige der glücklicheren Insassen empfingen, warten mussten, bis sie vorgelassen wurden. Die Neonröhren, die als Beleuchtung dienten, waren nach und nach kaputtgegangen, sodass der Raum stets im Halbdunkel lag. Dort, wo früher ein Francobild gehangen hatte, hing nun ein leerer, windschiefer Rahmen an der Wand. Einige Jahre zuvor hatte Doktor Sugrañes, der Leiter der Anstalt, seine königliche Majestät samt Gattin und der ganzen Familie eingeladen, ein Wochenende in seiner Einrichtung zu verbringen. Die Antwort des königlichen Sekretärs war nach Doktor Sugrañes’ Empfinden eher diplomatisch als überschwänglich ausgefallen, woraufhin er beschlossen hatte, kein Bild des Königs im Foyer aufzuhängen, bis dieser seiner Einladung Folge geleistet haben würde. Und dabei war es geblieben. In dieser heimeligen Umgebung traf ich nun auf einen Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte. Er war jung, kräftig und gutaussehend, mit einem dichten Schnauzbart, dessen Enden weit über den Mund hinausragten, und einem Blick, der durchdringend gewesen wäre, hätte ihn nicht eine dunkle Brille verdeckt. Er trug ein gelbes Jackett, ein dunkelviolettes Hemd und eine gepunktete Krawatte. Sicher trug er auch noch weitere Kleidungsstücke, doch noch bevor ich mich dessen vergewissern konnte, nahm der Unbekannte meine gesamte Aufmerksamkeit mit den Worten in Anspruch: «Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie bei der Erfüllung Ihrer therapeutischen Pflichten unterbreche, aber das Anliegen, das mich hierher führt, ist wichtig und duldet keinen Aufschub. Gestatten Sie mir aber zunächst, mich vorzustellen: Mein Name ist Rupert von Blumengarten. Eigentlich heiße ich José Rebollo, doch da ich der Geheimpolizei angehöre, benutze ich immer einen Decknamen, und Kommissar Flores hat mich auf die Suche geschickt – nicht nach einem Decknamen, sondern nach Ihnen.»

«Möge sich himmlischer Segen über ihn ergießen!», rief ich, ließ mich auf ein Knie nieder, breitete die Arme aus und hob das Gesicht zu der mit Spinnweben behangenen Zimmerdecke.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Hätte ich damals einen einzigen Wunsch im Leben frei gehabt, ich hätte mir gewünscht, dass Kommissar Flores zusammen mit einer Tarantel und einem Kaiman in einen Termitenbau gesperrt würde, und das aus gutem Grund. Mein Leben und das von Kommissar Flores waren unterschiedlichen Linien gefolgt, die sich aber an einer Stelle gekreuzt hatten: Er war aufgestiegen, während ich abgestiegen war, und diese Korrelation war alles andere als zufällig, denn er hatte seinen Erfolg meinem Scheitern zu verdanken. Aber da zum damaligen Zeitpunkt Macht und Schlagstock unweigerlich in seinen Händen lagen und von seinem Eingreifen eine Revision meines Urteils abhängen konnte, rief ich mit mehr Hingabe als Abneigung aus, immer noch auf einem Knie: «Und über den, der in seinem Namen kommt!»

Der Fremde bedeutete mir, mich zu erheben, verzog die Lippen zu einem kaum merklichen Lächeln und antwortete: «Ich weiß, dass Kommissar Flores alle Gefühle, die Sie für ihn hegen, voll und ganz erwidert. Über meine Gefühle darf ich keine Auskunft erteilen, schließlich bin ich Geheimpolizist. Ich freue mich aber über Ihre Bereitwilligkeit, denn Kommissar Flores möchte Sie mit einer Mission betrauen. Da es sich um eine Geheimmission handelt, werde ich dich von jetzt an duzen. Und wenn uns jemand erwischt, fangen wir einfach an zu knutschen.»

Es war nicht das erste Mal, dass Kommissar Flores in seiner unsäglichen Niedertracht meine Dienste in Anspruch nahm. Er hatte es getan, bevor ich in die Anstalt eingeliefert wurde, in der ich nun verrottete, indem er mir gedroht hatte, mich andernfalls in den Knast zu bringen, und selbst, als er seine Drohung schon wahr gemacht und mich in die besagte Anstalt gebracht hatte, hatte er meine Hilfe erbeten und mir dafür Belohnungen und Erleichterungen in Aussicht gestellt, aus denen dann nie etwas geworden war, obwohl ich meinen Teil der Abmachung unter Mühen und Risiken erfüllt hatte. Nun war ich ein gebranntes Kind, und meine erste Reaktion auf diese erneute Bitte war, mich umzudrehen und mich beim Überbringer damit zu entschuldigen, ich hätte soeben eine Panikattacke erlitten. Oder plötzlich Durchfall bekommen. Oder gar nichts zu sagen, schließlich galt ich sowieso als irre. Aber ich unterdrückte diesen Impuls und fragte ihn stattdessen, worin der Auftrag bestünde.

«Ich werde es dir erläutern, sobald wir aus dieser Anstalt heraus sind; wir können gleich gehen, denn in Erwartung deines Einverständnisses habe ich bei Doktor Sugrañes, dem ehrenwerten Leiter dieses vorbildlichen Einrichtung, deine Entlassung beantragt und erhalten.»

Er zog ein maschinengeschriebenes, unterzeichnetes Blatt Papier aus der Tasche, zeigte es mir, und ich befand es für gut. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Doktor Sugrañes mit der Polizei unter einer Deckte steckte, und eigentlich war mir der bürokratische Teil der ganzen Sache völlig egal. Zwar rechnete ich nicht damit, dass der Mann mir einen Vorschlag machen würde, den ich nicht ablehnen konnte, aber andererseits hatte ich auch nicht viel zu verlieren, und in einer kurzen Zeit der Freiheit mochten sich mir Möglichkeiten bieten, die ich nicht haben würde, solange ich hier eingesperrt war. Also gingen wir ohne ein weiteres Wort zur Tür, die aus dem düsteren Foyer in den sonnenverbrannten Garten hinausführte, und über der in gotischen Lettern auf einem Transparent das Motto dieser noblen Institution prangte: HIER BEKOMMST DU EINEN TRITT IN DEN ARSCH. Mein Begleiter öffnete ohne Weiteres die Tür, was mich überraschte, weil sie sonst immer verschlossen war; wir traten hinaus, gingen den Pfad entlang, der je nach Witterung eine Staubpiste oder ein Schlammloch war, und durchquerten ebenso mühelos das Eingangstor. Draußen wartete ein schwarzer Wagen auf uns. Wir stiegen ein. Der Fahrer trug keine Livree, hatte einen Bart und dichte Augenbrauen. Mein Begleiter nahm auf dem Beifahrersitz Platz, ich setzte mich auf die Rückbank. Die Türverriegelung klickte unheilverkündend. Auf ein Zeichen meines Begleiters nahm der Fahrer Bart und Augenbrauen ab, und wir fuhren los. Erst da fiel mir auf, dass ich mich nicht von meinen Mitinsassen verabschiedet und keine Gelegenheit gehabt hatte, anständige oder zumindest saubere Kleidung anzulegen.

2
AUF DER SUCHE NACH TOBY

Der Wagen hielt vor einer hohen Steinmauer, hinter der – wie sich aus den dichten grünen Baumwipfeln erahnen ließ, die sie überragten – der weitläufige, gepflegte Garten einer Villa lag. Wir befanden uns in einer steil ansteigenden, abgelegenen Straße des vornehmen Stadtteils Pedralbes, in den ich bisher kaum je einen Fuß gesetzt hatte. Die Straße war beiderseits von ähnlichen Mauern gesäumt, die ähnliche Gärten und Villen umschlossen, und endete vor dem Eingang zu einem öffentlichen Park. Der Fahrer schaltete den Motor aus, und im Innern des Wagens war es still bis auf die Stimmen der beiden Polizeibeamten, die eine tief, die andere hoch, was dem Zwiegespräch eine Lebendigkeit verlieh, die sich schriftlich nur schwer wiedergeben lässt.

«Hier, in Haus Nummer 9 dieser Straße, hinter Mauern vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen», begann der erste und wies mit dem Daumen auf die Steinmauer, «liegt die Villa Los Carlitos, Wohnsitz von Don Carlos Linier, dem Eigentümer der Firma Haushaltsgeräte Linier und Fornells, einem Mann mit vornehmer Herkunft, bester gesellschaftlicher Stellung und einem beträchtlichen Vermögen. Bereits in jungen Jahren heiratete Don Carlos eine Dame namens Carlota mit einem langen Stammbaum, doch begrenzten finanziellen Mitteln, und dieser Ehe entstammen drei Söhne, die auf die Namen Carlos, Charles und Karl getauft wurden, wie es bei Leuten geschieht, die zwar Fremdsprachenkenntnisse, aber wenig Phantasie besitzen. Vor etwa zehn Jahren scheiterte diese Ehe nun aus einem ebenso natürlichen wie nachvollziehbaren Grund: Señor Linier ließ sich mit einer Zwanzigjährigen ein, die zufällig ebenfalls auf den Namen Carlota hörte. Auf das Drängen des Mädchens, das Verhältnis in geordnete Bahnen zu lenken, bat Señor Linier um die kirchliche Annullierung seiner Ehe, da damals die Scheidung in Spanien noch nicht erlaubt war. Als Begründung führte er den sündigen und zügellosen Lebenswandel eines der Ehegatten an, in diesem Fall des Antragstellers selbst. Tatsächlich wurde die Ehe rückwirkend für ungültig erklärt, womit Señor Linier von allen Verpflichtungen seiner ehemaligen Gattin gegenüber entbunden war und diese als ehrlos galt. Von der Gesellschaft geächtet, von Freunden und Verwandten verstoßen und völlig mittellos, wurde sie kurz nach der Annullierung tot in einer schäbigen Pension im Barrio Chino aufgefunden. Die Umstände ihres Todes lassen vermuten, dass sie Selbstmord beging, denn auf dem Nachttisch fand sich eine Nachricht für ihren Mann, welche lautete: ‹Idiot.›»

Jetzt setzte der zweite Polizist die Erzählung fort: «Nachdem die Verstorbene unter der Erde und Señor Linier mit der zweiten Señora Linier verheiratet war, die jetzt die erste war, ging das Leben in Los Carlitos weiter wie zuvor. Die Villa war Schauplatz zahlreicher gesellschaftlicher Ereignisse, Treffpunkt für Magnaten, Würdenträger, berühmte Intellektuelle, Künstler und Sportler, die vom überwältigenden Charme der neuen Señora Linier und der Pracht und Fröhlichkeit der Feste angezogen wurden. Das Einzige, was die Freude des Hauses trübte, war die Anwesenheit der drei Söhne aus der ersten Verbindung, die jetzt Bastarde waren und den Hass gegen ihre Stiefmutter offen zur Schau trugen. Diese erwiderte ihren Hass unverhohlen, beschimpfte und erniedrigte sie privat wie öffentlich. Dennoch leben die Jungen bis heute im Hause der Familie, zum Teil, weil alle drei Tagediebe sind, zum anderen, weil die böse Stiefmutter unbestätigten Gerüchten zufolge mit einem der drei hinter dem Rücken ihres Ehemannes ein Affäre unterhält, mit welchem, weiß man nicht.»

«Da siehst du, welche Zustände in diesem Haus herrschen», sagte der erste Polizist.

«Aus diesen Zutaten könnte man mit ein wenig Talent einen Agatha-Christie-Roman machen», bemerkte sein Kollege.

«Oder eine Miniserie», sagte der andere.

Ich nickte, während ich versuchte, mir die Daten zu merken, um zu ergründen, um welches Verbrechen es sich handeln mochte. Im Geiste erstellte ich ein Organigramm dieser Lotterwirtschaft, und als meine Begleiter mit ihrer Beschreibung dieses ebenso klassischen wie phantasieanregenden Panoramas zu Ende waren, fragte ich: «Und wer ist nun der Tote?»

Die beiden musterten erst mich, dann einander, ließen die Scheiben herunter, spuckten beide gleichzeitig aus und riefen wie aus einem Munde: «Bist du verrückt? Hier gibt es doch keinen Toten.»

«Und was habe ich dann hier zu suchen?»

«Pass auf: Die jetzige Señora Linier besitzt ein Hündchen. Gestern Abend hat ein Dienstmädchen den Hund ausgeführt, und er ist weggelaufen. In ihrer Verzweiflung hat Señora Linier beim Verteidigungsminister angerufen, und der hat sich an uns gewandt.»

«Wir würden den Fall nur zu gern übernehmen, aber heute Morgen wurde im Stadtteil San Gervasio eine junge Frau ermordet, und wir müssen uns darum kümmern. Eine üble Sache: ein Verbrechen ohne erkennbares Motiv. Anscheinend war das Opfer Model, jung, hübsch und leichtlebig … Diese Mädchen geraten immer in Schwierigkeiten und nehmen oft ein böses Ende», sagte der erste der beiden Polizisten.

«Aber das ist nicht deine Angelegenheit», warf der zweite hastig ein. «Deine Aufgabe besteht darin, das Hündchen zu finden und es gesund und unversehrt seiner Herrin zurückzubringen. Wenn dir das vor Einbruch der Dunkelheit gelingt, wird man dir einen Imbiss anbieten und dir die flüchtige und zweifellos knauserige, aber nicht zu verachtende Dankbarkeit einflussreicher Leute gewähren. Wenn nicht, polieren wir dir die Fresse und schicken dich zurück ins Irrenhaus. Du hast die Wahl.»

«Wo ist das Ganze passiert?», fragte ich schicksalsergeben.

«Der Hund ist in dem Park am Ende dieser Straße verloren gegangen. Wahrscheinlich versteckt er sich dort noch irgendwo. Bestimmt ist es eins dieser Schoßhündchen, die alleine nicht zurechtkommen. Nach dem Phantombild, das unsere Experten erstellt haben, ist er klein, braun und hört auf den Namen Toby.»

Sie entriegelten die Autotüren, ich öffnete den Schlag, stieg aus und ging grußlos die Straße hinauf in Richtung zu dem von einer Steinmauer und einem hohen Metallzaun mit scharfen Spitzen umgebenen Park. Ein Schild wies darauf hin, dass das Tor bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurde. Jetzt stand es weit offen.

Ich war erst ein paar Meter gelaufen, als ich hörte, wie der Wagen angelassen wurde. Er wendete, dann verlor sich das Brummen des Motors allmählich in der Ferne. Ich drehte mich um: In der leeren Straße hörte man nur das Zwitschern der Vögel und das Rascheln des Laubs in der leichten Brise, die in vornehmen Vierteln immer weht. Dann machte ich mich wieder auf den Weg zum Park, erreichte das Tor und ging hindurch. Eine Treppe führte zu einem Plateau hinauf, das der Kindheit und ihren unschuldigen Spielen gewidmet war: Überall standen Schaukeln, Wippen und Rutschen, und der Boden war von Hundehaufen, Glasscherben und Spritzen übersät. Von hier aus wand sich der Pfad zu einer zweiten Ebene hinauf, auf der der eigentliche Park lag, mit weitläufigen Beeten, verschlungenen Spazierwegen und zahlreichen Bäumen, die in ihrer noblen Aufgabe als Chlorophyllproduzenten eine Augenweide und Balsam für Seele und Lunge waren. Von dieser Anhöhe aus hatte der Besucher einen Ausblick über ganz Barcelona, über den Hafen und die dort ankernden Schiffe, strahlend weiße Strände, geschäftige Fabrikkonglomerate und weiter hinten fruchtbare Felder, dicht gedrängte billige Wohnblocks und die breite, verschmutzte Mündung des Llobregat. Das Meer glitzerte im Licht der hoch am Himmel stehenden Sonne. Für einen kurzen Moment genoss ich das Schauspiel, einen etwas längeren Moment erwog ich, hinunter in die Stadt zu laufen, so schnell mich meine Beine trugen, und mich im Gewirr schmuddeliger Gassen und dunkler Winkel zu verlieren, deren Bewohner nichts hören, nichts sehen und nichts reden. Aber ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Ich hatte keinen Ort, an den ich gehen, niemanden, an den ich mich wenden könnte, und keine einzige Pesete in der Tasche. Unter diesen Umständen würde mich die Polizei mühelos aufspüren, und dann würde sich mir vielleicht nie wieder die Möglichkeit bieten, dass mein Fall neu aufgerollt und das Urteil aufgehoben wurde, sodass ich meine Freiheit und meine Ehre wiedererlangte. Fand ich hingegen den Hund und brachte ihn seiner Besitzerin zurück, würde ich sicher eine saftige Belohnung kassieren, mit der ich die richtigen Leute schmieren und so die langsamen Mühlen der Justiz beschleunigen könnte, oder hätte wenigstens ein bisschen Kohle, um stiften zu gehen. Und wenn ich bis zum Abend den Hund nicht gefunden hatte, war es immer noch Zeit, sich im schwindenden Licht der Dämmerung aus dem Staub zu machen.

In den reichen Vierteln beginnt das Leben nicht schon bei Sonnenaufgang. Es war gegen zehn Uhr, und trotzdem war im Park keine Menschenseele außer mir, der ich etwas benommen war, weil ich nicht gefrühstückt hatte. Ich gratulierte mir zu dieser Einsamkeit, die meine Suche erleichterte, aber ich durfte keine Zeit verlieren, sonst würde mir der wachsende Strom von Besuchern alles verderben. Ich dachte, dass der Polizist sicher recht hatte und ein verwöhntes Hündchen allein verloren war, und begann, die Spazierwege im Park abzusuchen, drang in Büsche vor und durchsuchte mögliche Verstecke, wobei ich immer wieder mit honigsüßer Stimme rief: «Toby! Toby!»

Nach einer Stunde hatte ich nichts weiter erreicht, als dass ich zerstochen und zerkratzt war und mit einem Fuß in einem mit Seerosen überwucherten Teich getreten war.

Schon begann ich ernsthaft an meiner Methode zu zweifeln, als mir auf dem Weg ein Mann mittleren Alters in Sportkleidung entgegen kam, der allem Anschein nach an einem Wettrennen teilnahm; allerdings war weit und breit kein Konkurrent zu sehen, und der Mann schien es auch nicht besonders eilig zu haben, ins Ziel zu gelangen. Ich stellte mich ihm in den Weg, um ihn zu fragen, ob er nicht einen kleinen Hund gesehen habe, und als er meine Absicht erkannte, wedelte er heftig mit den Händen, um mich zu verscheuchen. Also trat ich beiseite, und er lief in gleichbleibendem Trott an mir vorbei. Vermutlich ein Irrer, dachte ich und setzte meine Suche fort. Kurz darauf erspähte ich einen weiteren Läufer, der dem ersten glich, aber diesmal von der anderen Seite kam. Dieses Mal versuchte ich gar nicht erst, ihn aufzuhalten, sondern fragte ihn einfach nur, was er da tue.

«Ich jogge», antwortete er.

In den letzten Jahren war es in Mode gekommen, ganz allein durch die Gegend zu rennen; in der Anstalt hatte ich zwar davon gehört, aber nie Gelegenheit gehabt, das Phänomen aus der Nähe zu betrachten, geschweige denn, es selbst auszuprobieren, da unter meinen Mithäftlingen jede sportliche Betätigung verpönt war, bei der man den Konkurrenten nicht ordentlich verdreschen durfte.

Mir kam der Gedanke, mir dieses merkwürdige Hobby zu Nutzen zu machen, und so zog ich mir, hinter einem Busch vor neugierigen Blicken verborgen, die Hose aus. Meine Unterhose war ursprünglich einmal weiß gewesen, aber vom vielen Waschen und verschiedenen Unglücksfällen mittlerweile grau meliert, sodass sie als Sporthose durchging, was man von meiner übrigen Bekleidung nicht behaupten konnte. Aber ich hatte keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn kaum hatte ich meine Hose im Gebüsch versteckt, erschien schon ein dritter Jogger. Ich ließ ihn vorbeilaufen, dann schloss ich zu ihm auf.

«Ich jogge für mein Leben gern!», rief ich, während ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

«Ich auch!», antwortete der Jogger keuchend. «Wie viele Meilen hast du schon geschafft?»

«Hundertzwanzig», sagte ich aufs Geratewohl, da ich keine Konkurrenz dulde, «und ich hätte noch mehr geschafft, wäre mir nicht ein kleiner Hund in die Quere gekommen. Ihnen ist nicht zufällig etwas Ähnliches passiert?»

«Nein.»

«So. Hier lege ich mal kurz eine Pause ein.»

Ich hielt an, um Atem zu schöpfen, und wiederholte das Ganze noch mit zwei weiteren Joggern. Der vierte war ein dicker Mann, der aussah, als würde ihn gleich der Schlag treffen, doch auch er hatte bei seinem angestrengten Lauf keinen Hund gesehen. Die fünfte Person war eine junge Frau. Da sie ein eng anliegendes T-Shirt trug, sodass man bei jedem ihrer leichten Schritte das Auf und Ab ihrer Melonen sah, bekam ich nichts von dem mit, was sie sagte. Als der nächste Jogger vorbeikam, stand ich zusammengekrümmt am Wegesrand. Meine Filzpantoffeln hatten der Dauerbelastung nicht standgehalten, die Zehen lugten frech durch die Löcher, und das Gummiband meiner Unterhose war so ausgeleiert, dass ich sie beim Laufen mit einer Hand festhalten musste. Ganz zu schweigen von dem Nimbus aus Schweiß, Spucke, Rotz und anderen Körperflüssigkeiten, der mich umgab.

«Ich jogge für mein Leben gern», stieß ich mühsam hervor.

«Und ich erst», antwortete er.

«Sie haben nicht zufällig einen Hund gesehen, der mich daran gehindert hat, noch mehr Meilen zu laufen?»

«Ich habe nur einen kleinen Hund gesehen, der angeleint war.»

«An einem Laternenpfahl?»

«Nein. An der Skulptur.»

In diesem Augenblick rutschte mir die Unterhose herunter und brachte mich zu Fall. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, war mein Gesprächspartner schon hinter einer Wegbiegung verschwunden. Ich spuckte den Kies aus, den ich im Mund hatte, und beschloss nachzusehen, ob der Hund an der Skulptur der war, den ich suchte.

Ich fand beide mühelos. Die Skulptur bestand aus drei unregelmäßigen Betonblöcken mit einer Bronzeplakette, auf der zu lesen stand:

 

AM 8. MÄRZ 1980

HAT DIE GESAMTE STADTVERWALTUNG

DIESE SKULPTUR EINGEWEIHT,

INDEM SIE GEGEN DEN SOCKEL PINKELTE

 

Auf der Rückseite entdeckte ich einen kleinen Hund, der an einem Vorsprung festgebunden war. Da nicht anzunehmen war, dass er versucht hatte, sich zu erhängen, schloss ich, dass irgendjemand ihn aufgegriffen hatte, als er durch den Park streunte, und ihn hier angeleint hatte, um zu verhindern, dass er aus dem Park herauslief und von einem Motorfahrzeug angefahren wurde. Er trug kein Halsband und war mit einer ganz gewöhnlichen Kordel festgebunden. Ich ging langsam auf ihn zu und sagte: «Toby?»

Der Hund öffnete das Maul, ließ die Zunge nach einer Seite heraushängen und wedelte mit dem Schwanz. Ich trat näher, und das Schwanzwedeln verstärkte sich. Doch bevor ich ihn losband, stellte ich klar: «Hör zu, Toby», sagte ich, «du bist mir völlig egal, und ich kann Hunde nicht ausstehen, aber ich sitze in der Tinte, und dir geht es nicht anders, also sollten wir uns zusammentun. Wenn du brav bist, bringe ich dich nach Hause und tue damit einen vielleicht bescheidenen, aber nicht unwesentlichen Schritt in Richtung Revision meines Prozesses, der mich aufgrund von falschen Deutungen und Formfehlern in meine missliche Lage gebracht hat.»

Der Hund schien mir interessiert zu lauschen, und als ich mit meiner Rede zu Ende war, hing ihm die Zunge bis zum Boden. Ich löste die Schnur und zog sie im Gehen hinter mir her. Toby folgte mir fröhlich. Als erstes ging ich zurück zu der Stelle, an der ich meine Hose versteckt hatte, und suchte sie eine ganze Weile lang. Vergeblich. Entweder hatte jemand sie mitgehen lassen, oder ich hatte mich im Gebüsch geirrt. Inzwischen war es fast Mittag, und der Park füllte sich nach und nach mit Frauen und kleinen Kindern, einige auf den Armen ihrer Mütter, andere in Babykörbchen, wieder andere im Kinderwagen oder auf ihren eigenen kurzen Beinchen tappend. Vor diesem Publikum konnte ich nicht als Sportler durchgehen, und so beschloss ich, die Hosen Hosen sein zu lassen und meinen Auftrag schnellstmöglich zu beenden. Keine drei Minuten später standen der Hund und ich vor der Gegensprechanlage der Linier’schen Villa.