AKZENTE · ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR

DAS TIER

Heft 4 / Dezember 2016

Herausgegeben von Mirko Bonné und Jo Lendle

INHALT

Heft 4 / Dezember 2016 · 63. Jahrgang

JO LENDLE · MIRKO BONNÉ · Vorwort

SABINE GRUBER · Die Behandlung

NORBERT HUMMELT · Im Angesicht der Mauersegler · Journalblatt, 12. Mai 2016

CHRISTOPH PETERS · Schwarzmilane

JOHANNES BOBROWSKI · Das Käuzchen

TRISTAN MARQUARDT · 300 Jahre Weitersingen · Die Minnesänger und der Singvogel

ARNE RAUTENBERG · gartenschwenk

RUPPRECHT MAYER · Sieben Miniaturen

JAY GRIFFITHS · Die Waljagd

GÜNTER HERBURGER · Sabrina

MIRKO BONNÉ · Gespräch mit dem Gecko · Im New Yorker Metropolitan Museum

HENDRIK ROST · Beute und Schema · Sechs Gedichte

JAN WAGNER · Krähenhymnus

TONY BIRCH · Anstehen

MONIKA RINCK · Barkouf

FARHAD SHOWGHI · Zwei Gedichte

TERESA PRÄAUER · Paarungsverhalten

YOKO TAWADA · Das Tier und die Buchstaben

URS ALLEMANN · Der Godevan · Sätze aus einer Erzählung

KASPAR PETERS · Abends kommen die Tiere · Erzählung

JULIETTE AUBERT · Im Aussterben begriffen

Autoren · Übersetzer

JO LENDLE · MIRKO BONNÉ
Vorwort

Wundervoll muss es sein, herumzuliegen wie das Tier, im Flur, auf dem Balkon, im Gelände. Wer möchte so nicht sein. Selbstvergessen, ein pochender Teil letzter Saumseligkeit. Herrlich, wie ein dösendes Tier auf dem Bürgersteig nichts zu tun, unter Bäumen, am Rand der Ausfallstraße.

Wenn es stimmt, dass wir angekommen sind im Anthropozän, im Zeitalter des Menschen, stellt sich die Frage, wie wir dasjenige und diejenigen betrachten wollen, die man als Natur bezeichnet: Sträucher, Gras und Pilze etwa, doch ebenso Steine, unterirdische Ölmeere, Monde und ferne Planeten, alles das, was keine verständliche Sprache zu sprechen scheint und dennoch Teil ist der Welt, der Schöpfung, des Kosmos, so wie wir alle es sind. »Die einfachsten Anordnungen – Bäume, eine Reihe von Strandkabinen, ein Kirchturm, eine Bank in einem Park – scheinen eine moralische Bedeutung zu besitzen, die Mut macht und mit allem in Verbindung steht, was in meinem Dasein sinnvoll ist«, notiert John Cheever in seinem Tagebuch.

Was ist da erst von den Tieren zu sagen. Sie sind die nichtmenschliche Bevölkerung der Erde. Schon vor 200 Jahren meinte John Keats, sie garantierten zu jeder Zeit den Fortbestand der Poesie – denn die ist weit davon entfernt, allein menschlich zu sein, vielmehr sprachliches, musikalisches, bildliches Bindegewebe.

Wohin im Anthropozän mit der sogenannten Fauna? Weg mit allem, was nicht von Nutzen ist, in die Zoos damit, zumindest mit dem Teil, der noch nicht gänzlich ausgerottet ist?

Mit dieser Ausgabe der Akzente wollen wir uns den in jedem Sinn engsten Begleitern der Menschen widmen. Denn was ließe sich über die Welt sagen, wie wäre überhaupt ein Zusammenhang herstellbar, würde man anthropozentrisch die Tiere aus der Mitte der Aufmerksamkeit verlieren? Die hier versammelten Beiträge von Autorinnen und Autoren aus Australien, Japan, Iran, Frankreich, England, der Schweiz, Österreich und Deutschland verdeutlichen die Vielfalt der Begriffe, die wir uns von Tieren machen. Es geht um Schönheit, Angst, um Schuldgefühl und Unschuld. Es geht um einen gefiederten Mann, um Mauersegler, Schwarzmilane in Karatschi, ein Käuzchen in Friedrichshagen, um Singvögel in der Minne vor 800 und 600 Jahren, um Espen und Wespen, um die Güte des Marabu, um Belugas, ein Dromedar, einen Blattschwanzgecko, um Mücken, Milben, einen Spitz, um die Krähen von München, Neunaugen, Hunde als Hundefutter, einen Hund als Vizekönig, es geht um eine Kuh im Schnee, ein Wiesel, ein Gürteltier, den Kater Mr. Hyde, das Fabeltier Godevan, um das Tier in unserer Mitte und den letzten Europäischen Aal.

Es geht um das Animalische an sich, das Tier in jedem. Tiere faszinieren ebenso, wie sie unheimlich sind, wir lieben sie im gleichen Maß, mit dem wir sie abscheulich finden. Ist ein Bild, ein Traum von einem Tier nicht immer Projektion? Das Tier – ein lebendiger, wilder Spiegel. Tier heißt Übersetzung, es ist das Fremde und Vertraute. Nach seiner Nähe sehnt man sich, wie man zu große Nähe zu ihm flieht. Tiere sind tagtäglich millionenfach unsere Beute und bleiben doch stets unerreichbar, der ererbte vermeintliche Feind.

Sind wir deshalb dabei, Tiere nach den eigenen Notwendigkeiten zu erschaffen? Das künstliche Tier ist kein Zukunftsprojekt mehr, seine Realisierung und Massenproduktion ist nur eine Frage der Zeit. Wohl dem Tier, das dem Tierversuch entgeht. Einmal mehr werden Tiere abgerichtet zu Vorreitern auf dem Weg zum seit Jahrhunderten erträumten und verfluchten Homunkulus. »Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probiren, / Und was sie sonst organisiren ließ, / Das lassen wir krystallisiren«, lässt Goethe den Wagner im Faust II mit Fremdwörtern um sich werfen.

Einen auf Gattungsunterschiede setzenden zoologischen Garten in Magazinform möchten wir präsentieren, einen KommenTIERpark mit Rissen im Zaun, Zeichen für Ausbrüche. Während wir sichteten und sammelten, stellten wir fest, dass im Grunde alle Beiträge eine Brücke zu schlagen versuchen zwischen denen, die verstehen wollen, und denen, die von jeher unverstanden bleiben und das wohl auch vorziehen. Durs Grünbeins Vers im Biologischen Walzer spricht daher womöglich den wirklichen Tieren aus dem Herzen: »Wenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind / Sind wir schwierige Tiere weil nichts mehr stimmt.«

SABINE GRUBER
Die Behandlung

Nachts wurde sie von einem kleinen Windstoß aufgeweckt, so schien ihr jedenfalls, aber als sie wach war, hellwach, rührte sich kein Lüftchen. Der Vorhang hing schwer von der Karniese, der Lampenschirm, der sich sonst bei der kleinsten Erschütterung des Hauses bewegte – es brauchte nur ein Lastwagen auf der Straße vorbeizufahren – hing starr von der Decke. Und er, ihr Geliebter seit nunmehr drei Wochen, lag ruhig neben ihr und schlief.

Mein Vögelchen, hatte er ihr mittags geschrieben, ich vermisse dich. Am frühen Abend war er, nach der Behandlung, wieder vor ihrer Tür gestanden.

Welche Behandlung, hatte sie ihn schon am ersten Tag nach dem Kennenlernen gefragt.

Mit seinem Blut stimme etwas nicht, es werde regelmäßig ausgetauscht, das solle sie aber nicht weiter bekümmern, denn mit Ausnahme des Verbandes und der notwendigen Termine im Krankenhaus, die dieser kleinen Korrektur evolutionärer Fehlplanung geschuldet seien, habe er keine ihr gemeinsames Zusammensein beeinträchtigende Probleme.

Er war eher klein, unauffällig und sah auf eine erotische Weise mitgenommen aus, als bekäme er zu wenig Schlaf, nicht aus Sorge, sondern aus anderen, ihr unbekannten Gründen.

In den Nächten, die sie gemeinsam in einem, meistens in ihrem Bett verbrachten, achtete sie schon aus Eigennutz darauf, dass sie beide lange genug ruhten. Sie konnte es sich nicht erlauben, müde bei der Arbeit zu erscheinen.

Während sie ihren Freund betrachtete, dachte sie daran, wie wenig er redete. Ihr Vater hatte ihn deswegen schon einen Eigenbrötler genannt. Außerdem habe er einen Tick, hatte der Vater festgestellt. Immer wieder rutschten ihm leise Trrr-Laute in die Satzpausen. Davon hatte sie zwar noch nichts bemerkt, aber einmal war ihr Geliebter mit hoch erhobenem Kopf vor dem Badezimmerspiegel gestanden und hatte ein eigenartiges Ditztz von sich gegeben, dann aber, als er sie in der Tür bemerkt hatte, laut zu lachen begonnen.

Es war ihr recht, dass er oft schwieg, zumal sie beruflich ständig mit redenden Menschen zu tun hatte. Die meisten öffneten ihren Mund ohnehin nur, weil sie die Stille nicht ertrugen oder weil sie es gewohnt waren, dass immer irgendjemand öffentlich redete.

Manchmal, das musste sie zugeben, war er selbst ihr zu einsilbig.

Sein Unterarm, der mit einem weißen Schutzverband eingewickelt war, leuchtete jetzt in der anthrazitfarbenen Bettwäsche.

Lass mal sehen, hatte sie vor ein paar Tagen zu ihm gesagt, als ihn die dicke Bandage daran gehindert hatte, schnell aus dem Ärmel zu schlüpfen.

Ich komm zurecht, hatte er gesagt und sofort seinen Arm, an dem sich ein Stück Verband gelöst hatte, hinter seinem Rücken zu verstecken versucht. Er war ihr in diesem Moment wie ein kleiner Junge vorgekommen, der etwas in der Hand hielt, das er vor seiner Mutter verbergen wollte.

Weil sie nach dem vermeintlichen Windstoß nicht gleich einschlafen konnte, nahm sie das iPhone vom Nachttisch und überflog die Spätnachrichten; es war nichts darunter, was sie nicht schon woanders gehört oder gelesen hätte. Eine Weile las sie alte SMS, dann betrachtete sie Fotos von ihrem letzten gemeinsamen Ausflug. Sie waren mit Freunden im Wendland unterwegs gewesen, hatten das Reetzer Holz durchqueren wollen, waren aber vor großen Mückenschwärmen auf offene Feldwege ausgewichen. Er war bei diesem Wochenendspaziergang oft zurückgeblieben, hatte erst in die Baumkronen geschaut, dann in den mit wenigen kleinen Wolken bedeckten blauen Himmel.

Als sie ihn gefragt hatte, was er dort oben sehe, war er wortlos weitergegangen.

Auf den Bäumen am Wegrand hatten Goldammern gezwitschert und auf dem frisch gepflügten Feld war ein Mäusebussard gelandet, von dem er behauptet hatte, er sei eine Korn- oder Wiesenweihe, niemals ein Bussard.

In der folgenden Nacht, in der er nicht zu ihr gekommen war, weil sich die Behandlung verschoben und er keine Lust mehr gehabt hatte, noch durch die halbe Stadt zu fahren, hielt er sie bis lange nach Mitternacht mit seinen Kurznachrichten wach. Die Zwitschertöne, welche die eintreffenden SMS ankündigten, hatte sie anfangs noch gemocht, sie hörten sich aber nach einer Weile monoton und künstlich an, so dass sie überlegte, wieder ihren alten Klingelton einzuschalten.

Es fiel ihm offenbar leichter, ihr einzelne Wörter oder kurze Zeilen zu schicken als zu reden. Sie ertappte sich immer öfter dabei, dass sie sich nach einem längeren Gespräch, sogar nach der angerauten Stimme ihres Exmannes sehnte.

Auch jetzt hätte sie ihren Freund am liebsten wachgerüttelt, um mit ihm über ihre Pläne für den Sommer sprechen zu können. Sie hatte Lust, sich bei ihm für sein Schweigen, das sie in der Dunkelheit und Einsamkeit der Nacht plötzlich als Desinteresse an ihrer Person interpretierte, zu beschweren, aber am Spätnachmittag des nächsten Tages, als sie sich mit ihrem Geliebten in der Stadt traf, um gemeinsam zu ihr nach Hause zu gehen, hatte sie ihre nächtlichen Gedanken bereits vergessen.

Sie kürzten den Weg ab und gingen durch den Park, der nach 20 Uhr abgesperrt war. Die Kastanienbäume und Fliedersträucher blühten, und auf dem Hauptweg näherten sich zwei Elstern bis auf zwanzig Zentimeter einem Kleinkind, das Kekse in der Hand hielt.

Er rupfte im Vorbeigehen da und dort ein paar Blätter von den Büschen, was sie spätestens beim dritten Mal zu ärgern begann. Wenn das jeder täte, sagte sie.

Er stand vor einem Falschen Jasmin, der noch nicht blühte, und hatte sich wieder ein paar der frischen, hellen Blätter gegriffen.

Es tut nicht jeder, sagte er und ging weiter.

Die waren doch voller Blattläuse, dachte sie.

Als sie nach dem Parkwärterhäuschen wieder auf eine der Hauptstraßen traten, wandte er sich kurz von ihr ab. Er hob seinen unversehrten Arm und leckte die Fingerkuppe des Zeigefingers ab. Vielleicht hatte er auch nur ein Stück Haut vom Nagelbett weggebissen.

Als er sie später vor der Wohnungstür umarmte und anschließend küssen wollte, drehte sie den Kopf weg.

Lass uns reingehen.

Was hast du.

Sie aß ein wenig Schinken, Salami und Brot, er nur die Roggenbrotscheiben, dann teilten sie sich die Zeitung und sahen anschließend gemeinsam die Abendnachrichten. Manchmal trat er auf den Balkon, schloss die Tür hinter sich und drehte ihr den Rücken zu. Obwohl er schon vor Jahren damit aufgehört hatte, sah es dann so aus, als rauchte er eine Zigarette, denn eine Hand steckte in seiner Hosentasche, die andere konnte sie von der Küche aus nicht sehen; vielleicht strich er sich damit über den Hals oder über die Brust.

Während sie auf dem Sofa sitzend ihren Wein austranken, flogen plötzlich die Vorhänge auf, obwohl die Fenster und die Balkontür zu waren. Sie sprang auf, weil sie annahm, dass jemand die Wohnungstür geöffnet hatte, blieb aber im Wohnzimmertürrahmen stehen und starrte die verschlossene Abschlusstür an.

Woher kommt die Luftbewegung, fragte sie ihn, nachdem sie in allen Räumen gewesen war, um nachzusehen, ob irgendwo ein Fenster aufgegangen war.

Nachdem sie sich wieder zu ihm gesetzt hatte, blies er ihr ins Gesicht. Sein Atem roch nach Rotwein. Sie schenkte ihm ein weiteres Glas ein und noch eins und noch eins. Als sie ihn fragte, wie lange er sich dieser Behandlung noch aussetzen müsse, sah er an ihr vorbei. Gegen Mitternacht ging er ins Schlafzimmer und warf auf dem Weg dorthin den Garderobenständer um.

Nachts wachte sie wieder auf, weil er schnarchte und pfiff. Sie machte kein Licht, wollte ihn nicht aufwecken. Um sich die Zeit zu vertreiben, griff sie wieder nach dem iPhone und las seine SMS der letzten Tage. Dass er schlecht in Rechtschreiben war, wusste sie, aber die vielen Fehler waren ihr in der anfänglichen Verliebtheit kaum aufgefallen. Da und dort waren ein paar lose Buchstaben hineingerutscht, die zwischen anderen, verständlichen Wörtern keinen Sinn ergaben.

Sie lauschte in die Nacht, hörte nur das Sägegeräusch seines flatternden Gaumensegels, einmal fuhr ein Auto vorbei, aus dem laute Musik zu hören war. Es setzten, als es um die Ecke bog, die Bässe ein.

Er lag auf dem Rücken, atmete durch den Mund. Sie griff nach seinem Arm, hob ihn ein wenig in die Höhe. Er schnarchte weiter. Mit der anderen Hand lockerte sie vorsichtig den Verband, den er nicht sehr gleichmäßig um seinen Unterarm gewickelt hatte.

Er schlief tief, schien nicht zu bemerken, dass sie ihn anfasste.

Als er sich abrupt zur Seite drehte, erschrak sie.

Warum schläfst du nicht, fragte er sie. Die Antwort schien ihn nicht zu interessieren, denn er schloss sofort wieder die Augen.

Als er wieder gleichmäßig atmete, versuchte sie neuerlich, seinen Verband herunterzunehmen.

Selbst im Halbdunkel des Zimmers, das nur von der Straßenbeleuchtung, von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos und vom Mond erhellt war, konnte sie deutlich die weiße Haut erkennen, die der Verband vor der Sonne und den Blicken geschützt hatte.

Sie strich mit dem Zeigefinger sachte über die entblößte Stelle. Da war nichts, keine Wunde, keine Narbe, nicht einmal eine Einstichstelle.

Und wenn er die Behandlung nur vorgetäuscht hatte? Sie traute sich nicht, Licht zu machen.

Stück für Stück nahm sie den Rest der Binde ab, wartete, ob er sich bewegte.

Unter dem Ende kam eine einzelne Feder zum Vorschein, keine Daune oder Dune, sondern eine Konturfeder, deren Schaft nicht etwa wie eine Infusionsnadel in einem Blutgefäß steckte, sondern eingewachsen war.

Als sie diese berührte, vernahm sie ein Flattern, das nie und nimmer von der Feder stammen konnte.

NORBERT HUMMELT
Im Angesicht der Mauersegler · Journalblatt, 12. Mai 2016