Über das Buch

»Als ich an die Wegbiegung kam, saß Betty dort auf einem Baumstumpf. Das bedeutete wohl das Ende der kurzen Atempause, die mir vergönnt gewesen war, und ich war von Neuem Bettys Zielscheibe. Ich tat mir leid. Doch dann spürte ich, wie sich anstelle dieses Selbstmitleids etwas anderes in mir regte. Ich will es gar nicht Mut nennen. Mut ist das, was man braucht, um etwas Schweres zu tun, obwohl man Angst hat. Ich will es auch nicht Wut nennen, obwohl ich große Wut auf Betty verspürte wegen ihrer Drohungen und wegen der Schläge. Vermutlich hätte ich ängstlich und wütend zugleich sein müssen, doch es war eher Gleichgültigkeit, die ich beim Blick in Bettys ausdrucksloses Gesicht empfand. Klein und unbedeutend, so erschien sie mir an jenem Morgen, selbst dann noch, als sie aufstand und sich mir in den Weg stellte «

Lauren Wolk

Das Jahr, in dem ich lügen lernte

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Carl Hanser Verlag

Für meine Mutter

Vorwort

In dem Jahr, als ich zwölf wurde, lernte ich zu lügen.

Damit meine ich nicht die üblichen kleinen Schwindeleien von Kindern. Ich meine wirkliche Lügen, die von wirklichen Ängsten gespeist werden. Dinge, die ich sagte oder tat und die mich aus dem Leben, das ich bis dahin gekannt hatte, hinauszerrten und hart in einem anderen landen ließen.

Es geschah im Herbst 1943, als mein bis dahin so gleichmäßiges Leben ins Trudeln geriet. Nicht nur wegen des Krieges, der die ganze Welt in eine lärmende Schlacht gerissen hatte, sondern auch wegen des bösen Mädchens, das in unsere Gegend zog und alles veränderte.

Manchmal war ich so verwirrt, dass ich mich wie der Stab eines Windrädchens fühlte, ständig umgeben von diesem Rasseln und Klappern, doch gleichzeitig wusste ich, dass ich mich nicht mit einem Buch und einem Apfel in unserer Scheune verkriechen konnte, während die Ereignisse draußen sich ohne mich überstürzten. Dass ich nicht zwölf werden konnte, ohne einen eigenen Beitrag zu meinem Leben zu leisten, und damit meinte ich meinen Platz in unserer Familie, meinen Einfluss, so gering er auch sein mochte, und die Möglichkeit, irgendwann eine eigene Rolle zu spielen.

Aber das war noch nicht alles.

In dem Jahr, als ich zwölf wurde, begriff ich, dass alles, was ich tat und sagte, Folgen hatte.

So große manchmal, dass ich mir nicht sicher war, ob ich so eine Bürde wirklich wollte.

Gleichwohl lud ich sie mir auf und trug sie, so gut ich konnte.

1

Alles begann mit meinem Sparschwein aus Porzellan, das Tante Lily mir zu meinem fünften Geburtstag geschenkt hatte.

Als es plötzlich nicht mehr da war, bemerkte meine Mutter das sofort.

»Versteckst du etwa dein Sparschwein, Annabelle?« Sie war dabei, die Dielen in meinem Zimmer zu schrubben, während ich meine Sommersachen verstaute. Es musste ihr gleich aufgefallen sein, dass das Schwein fehlte, denn außer den Möbeln und den Fenstern gab es in meinem kleinen Zimmer nicht viel – einen Kamm und eine Bürste und ein Buch neben meinem Bett. »Du musst deine Sachen nicht verstecken«, sagte Mutter. »Niemand nimmt dir etwas weg.« Sie rutschte auf allen vieren herum, ihr ganzer Körper folgte ihren Bewegungen beim Schrubben, und die Sohlen ihrer schwarzen Arbeitsschuhe zeigten ausnahmsweise nach oben.

Ich war froh, dass sie mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich faltete gerade ein Sonntagskleid in viel zu leuchtendem Rosa, aus dem ich hoffentlich im nächsten Frühjahr herausgewachsen sein würde, und stellte mir vor, wie mein Gesicht in derselben grässlichen Farbe glühte.

Als ich an jenem Tag von der Schule nach Hause gekommen war, hatte ich das Schwein geschüttelt, um einen Penny herauszuholen, und dabei war es mir aus der Hand gefallen. Es war in tausend Stücke zerbrochen und hatte dabei all die Münzen freigegeben, die ich in Jahren zusammengespart hatte und die inzwischen sicher an die zehn Dollar ergaben. Die Scherben hatte ich hinter dem Küchengarten vergraben, das Geld in ein altes Taschentuch getan und dessen Enden zusammengeknotet. Dieses kleine Bündel hatte ich unter meinem Bett in einem Winterstiefel versteckt, zusammen mit dem Silberdollar, den Großvater mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, einen aus seiner Sammlung.

Den Silberdollar hatte ich nie in mein Sparschwein gesteckt, weil ich ihn nicht als Geld ansah. Er war so etwas wie eine Medaille, die ich irgendwann tragen würde, so schön war die Frau darauf, so ernst und prächtig in ihrem Strahlenkranz.

Ich beschloss, dass ich mich vielleicht von einem Penny trennen würde, vielleicht auch von mehreren, doch niemals würde ich dem schrecklichen Mädchen meinen Silberdollar geben.

Den Schulweg legte ich immer zusammen mit meinen Brüdern zurück. Henry war damals neun und James sieben. Auf dem Hinweg ging es hinunter zur Wolfsschlucht, auf dem Rückweg wieder hinauf. Genau am Eingang zur Schlucht stand an jenem Tag ein großes, kräftiges, älteres Mädchen namens Betty. Sie werde nach der Schule dort auf mich warten, hatte sie angekündigt.

Sie war aus der Stadt hergeschickt worden, um bei ihren Großeltern zu leben, den Glengarrys, die oberhalb des Racoon Creek wohnten, nicht weit von der Straße, die zu unserer Farm führte. Seit sie vor drei Wochen zum ersten Mal bei uns in der Schule aufgetaucht war, hatte ich Angst vor ihr.

Hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Leute, Betty sei »schwer erziehbar«, deshalb sei sie aufs Land geschickt worden. Den Ausdruck hatte ich bis dahin noch nie gehört. Mir war nicht klar, ob sie zur Strafe zu den Großeltern aufs Land geschickt worden war oder ob man sie dadurch zu einem besseren Menschen machen wollte. Wie dem auch sein mochte, ich fand es nicht fair, sie ausgerechnet uns aufs Auge zu drücken, die wir nichts Schlimmes getan hatten.

Sie erschien einfach eines schönen Morgens in unserer Schule, ohne große Ankündigung oder nähere Erklärungen. Wir waren auch ohne sie schon fast vierzig, mehr, als in der kleinen Schule eigentlich Platz hatten, sodass manche von uns sich ein Pult teilen mussten, das eigentlich nur für einen gedacht war. Dann schrieben und rechneten zwei auf der zerkratzten abgeschrägten Schreibplatte, zwei verwahrten ihre Bücher in dem Fach darunter.

Mir machte das nichts aus, weil ich mir einen Platz mit meiner Freundin Ruth teilte, einem dunkelhaarigen Mädchen mit blasser Haut und roten Lippen, mit leiser Stimme und stets perfekt gebügelten Kleidern. Ruth und ich lasen beide gern, das verband uns und war uns wichtig. Außerdem waren wir beide dünn und badeten regelmäßig (was man nicht von allen Kindern in unserer Schule sagen konnte), und deshalb war es nicht so schlimm.

An dem Tag, als Betty zu uns kam und ganz hinten im Klassenzimmer stehen blieb, sagte Mrs. Taylor, unsere Lehrerin: »Guten Morgen!« Betty sagte nichts, stand nur da mit vor der Brust verschränkten Armen. »Kinder, das ist Betty Glengarry«, stellte Mrs.Taylor sie uns vor. Für mich klang das wie ein Name aus einem Lied.

Es wurde erwartet, dass wir Guten Morgen sagten, und das taten wir auch, doch Betty sah uns nur wortlos an.

»Es ist ein bisschen eng bei uns, Betty, aber wir werden schon noch ein Plätzchen für dich finden. Häng erst einmal deinen Mantel und den Henkelmann mit deinem Mittagessen auf.«

Schweigend warteten wir alle ab, wo Mrs. Taylor Betty wohl hinsetzen würde, doch bevor sie noch dazu kam, der Neuen einen Platz zuzuweisen, stand ein mageres Mädchen namens Laura auf, raffte ihre Bücher zusammen und zwängte sich neben ihre Freundin Emily, sodass ein Pult frei wurde. Sie hatte anscheinend geahnt, was sonst auf sie zukommen würde.

Der freie Platz war also von da an Bettys. Sie saß direkt vor Ruth und mir, so dicht, dass ich schon bald kleine rote Stellen an den Beinen hatte, wo Betty mich gern unter dem Pult mit dem Bleistift pikste. Ich war nicht glücklich mit der Situation, andererseits war ich froh, dass Betty mich als ihr Opfer ausgesucht hatte und nicht Ruth, die kleiner und zierlicher war als ich. Ein anderer Unterschied zu Ruth war, dass ich Brüder hatte, die mir schon weit Schlimmeres zugefügt hatten. Während Bettys erster Woche bei uns beschloss ich also, diese kleinen Attacken einfach durchzustehen; sicher würden sie mit der Zeit nachlassen.

In einer anderen Art von Schule hätte die Lehrerin vielleicht etwas bemerkt, aber Mrs. Taylor musste sich einfach darauf verlassen, dass alles, was hinter ihrem Rücken geschah, sie nicht zu kümmern brauchte.

Da alle Jahrgänge im selben Raum unterrichtet wurden, saßen die Kinder, die gerade an der Reihe waren, auf Stühlen dicht gedrängt vor der Tafel, während wir anderen still an unseren Plätzen arbeiteten, bis wir selbst nach vorn gerufen wurden.

Einige der älteren Jungen verschliefen einen Großteil des Schultages. Wenn sie an die Tafel kommen sollten, zeigten sie ihre Verachtung für Mrs. Taylor so offen, dass ihre Lektionen sicher kürzer ausfielen als eigentlich vorgesehen. Diese großen Jungen arbeiteten alle schon auf den Farmen ihrer Familien mit und sahen überhaupt nicht ein, wozu sie noch zur Schule gehen sollten, die ihnen doch nichts beibrachte über Aussaat, Ernte oder Tierzucht. Außerdem wussten sie sehr wohl, dass das, was sie in der Schule lernten, ihnen nicht dabei helfen würde, gegen die Deutschen zu kämpfen, wenn sie alt genug wären, um eingezogen zu werden – sollte der Krieg bis dahin noch nicht zu Ende sein. Was sie zu kräftigen Kämpfern machte oder ihnen vielleicht sogar die Teilnahme am Krieg ersparen konnte, war nicht die Schule, sondern die tägliche Arbeit auf den Höfen und die Tatsache, dass die Farmer und Kleinbauern für die Versorgung der Soldaten wichtig waren.

In den kältesten Monaten jedoch war die Arbeit zu Hause oft langweilig und mühsam. Dann mussten Zäune geflickt, Scheunendächer repariert und Wege erneuert werden. Vor die Wahl gestellt, einen Tag friedlich schlummernd im Klassenzimmer abzusitzen und sich in den Pausen mit den anderen Jungen zu raufen, statt draußen im eisigen Wind zu arbeiten, wählten die Jungen gewöhnlich die Schule. Vorausgesetzt, ihre Väter ließen sie gehen.

Doch als Betty im Oktober in die Klasse kam, waren die Tage noch warm, und diese wüsten Rabauken erschienen nicht regelmäßig zum Unterricht. Ohne Betty wäre die Schule also ein friedlicher Ort gewesen, wenigstens bis zu jenem furchtbaren November, als alles in Stücke fiel und ich eine ganze Litanei von Lügen erzählen musste.

Damals kannte ich noch kein Wort, das Betty treffend beschrieben hätte oder mit dem ich den Unterschied zwischen ihr und uns anderen in der Schule hätte benennen können. Sie war noch keine Woche bei uns, da hatte sie unseren Sprachschatz schon um ein Dutzend Wörter erweitert, die wir wirklich nicht zu kennen brauchten, hatte Emily ein Tintenfass über den Pullover gekippt und den jüngsten Kindern erklärt, woher die Babys kamen. Ich selbst hatte das erst im vergangenen Frühling von meiner Großmutter erfahren, als unsere neuen Kälbchen zur Welt kamen. Meine Großmutter, die mehrere Kinder zur Welt gebracht hatte, jedes in dem Bett, in dem sie noch immer Nacht für Nacht neben meinem Großvater schlief, hatte mir die Zusammenhänge mit Würde und Humor erklärt, und so war es für mich keine schockierende Neuigkeit. Für die Jüngsten in meiner Schule war es das hingegen schon. Betty war brutal und jagte ihnen Angst und Schrecken ein. Das Schlimmste war, dass sie ihnen verbot, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, sonst würde sie ihnen nach der Schule durch den Wald folgen und sie verprügeln. So wie sie es später mit mir machte. Vielleicht würde sie sie sogar umbringen. Und die Kleinen glaubten ihr, so wie ich auch.

Ich selbst konnte meinen Brüdern ein Dutzend Mal am Tag mit Tod und Verstümmelung drohen – sie lachten bloß und streckten mir die Zunge heraus. Doch Betty musste sie nur ansehen, und sofort wurden sie still. Sie wären mir also vermutlich keine große Hilfe gewesen, wenn ich sie an jenem Tage bei mir gehabt hätte, als Betty in der Wolfsschlucht plötzlich hinter einem Baum hervortrat und sich mir in den Weg stellte.

Als ich noch klein war, hatte ich meinen Großvater einmal gefragt, wie die Wolfsschlucht zu ihrem Namen gekommen war.

»Früher hat man dort tiefe Gräben ausgehoben, um Wölfe darin zu fangen«, hatte er geantwortet.

Großvater war einer der acht Menschen, die in dem Farmhaus wohnten, das seit hundert Jahren im Besitz meiner Familie war. Wir waren drei Generationen, die auf engem Raum zusammenlebten, seit das ganze Land wegen der Weltwirtschaftskrise den Gürtel enger schnallen musste. In solchen Zeiten war eine Farm wie unsere der bestmögliche Ort zum Leben. Seit der Zweite Weltkrieg tobte, legten viele Menschen sogenannte »Siegesgärten« an, um sich auf diese Weise zu ernähren. Unsere Farm war ein riesiger »Siegesgarten«, den mein Großvater über Jahrzehnte hin eigenhändig angelegt und gepflegt hatte.

Er war ein ernster Mensch, der mir stets die Wahrheit sagte, die ich gar nicht immer hören wollte, nach der ich trotzdem manchmal fragte. Als ich ihn zum Beispiel nach der Wolfsschlucht fragte, antwortete er mir ehrlich, obwohl ich erst acht war. Damals saß er auf einem Stuhl neben dem Küchenofen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände locker an den großen Handgelenken, die bleichen Füße bereit, in die Stiefel zu steigen. Zu manchen Zeiten sah er wie ein junger Mann aus, der mit offenen Augen in die Welt blickte. Doch an jenem Morgen, obwohl wir erst Juni hatten, wirkte er erschöpft. Seine Stirn war so bleich wie seine Füße, doch seine Nase und seine Wangen waren braun gebrannt, ebenso wie die Hände und Arme bis zu den hochgerollten Ärmeln. Ich wusste, wie müde er war, obwohl er den Großteil des Tages im Schatten saß und nur kleinere Arbeiten verrichtete.

»Wozu wollte man Wölfe fangen?« Einen Wolf konnte man nicht melken oder vor einen Pflug spannen. Und essen konnte man ihn, soweit ich wusste, auch nicht.

»Damit hier nicht mehr so viele herumliefen.«

Er sah mich nicht an. Er schaute auf seine Hände. Trotz ihrer Lederhaut hatte sich unten an den Daumen eine große Blase gebildet, nachdem er meinem Vater beim Pflanzen geholfen hatte.

»Haben sie Hühner gestohlen?«, fragte ich. Manchmal wurde ich morgens davon wach, dass meine Mutter laut schreiend einen Fuchs verscheuchte, der sich einen Weg in den Hühnerstall gegraben hatte. Ich war mir nicht sicher, ob meine Mutter auf einen Wolf genauso losgehen würde.

»Unter anderem«, sagte mein Großvater. Er setzte sich gerade hin und rieb sich die Augen. »Wir waren nicht mehr genug Männer, um auf Wolfsjagd zu gehen. Es wurden zu viele, und sie wurden zu dreist.«

Ich stellte mir eine Grube voller Wölfe vor. »Hat man sie dann getötet, wenn sie in der Grube waren?«

Mein Großvater seufzte. »Erschossen hat man sie und ihnen die Ohren abgeschnitten für die Belohnung. Drei Dollar gab es für ein Paar.«

»Für die Ohren? Aber wenn es Welpen waren, hat man sie dann behalten? Als Haustiere?«

Wenn mein Großvater lachte, hörte man kaum etwas, nur seine Schultern zuckten ein paarmal. »Glaubst du, ein Wolf würde sich mit Hunden vertragen?«

Auf unserer Farm gab es immer viele Hunde. Ich hätte mir mein Leben nicht vorstellen können ohne die sechs oder sieben Hunde, die ständig bei uns herumliefen. Von Zeit zu Zeit verschwand mal einer, doch nach einer Weile nahm irgendein anderer seinen Platz ein. »Aber sie hätten die Welpen abrichten können, um richtige Hunde aus ihnen zu machen.«

Mein Großvater zog sich die Hosenträger über die Schultern und begann sich die Socken anzuziehen. »Ein Wolf ist kein Hund und wird nie einer sein«, sagte er. »Da hilft auch kein Abrichten.«

Als er seine Stiefel geschnürt hatte, stand er auf und legte mir seine große Hand auf den Kopf. »Die Welpen haben sie auch getötet, Annabelle. Vermutlich ohne groß darüber nachzudenken. Vergiss nicht – als ich letztes Frühjahr die junge Mokassinschlange erschlagen habe, hat dir das auch kein bisschen leidgetan.«

Anschließend war sein Stiefelabdruck deutlich an der Schlange zu sehen gewesen, so als wäre sie aus Lehm.

»Mokassinschlangen sind giftig«, sagte ich. »Das ist ein Unterschied.«

»Nicht für die Schlange«, erwiderte Großvater. »Und auch nicht für den Gott, der sie erschaffen hat.«

2

An diese Schlange musste ich denken, als ich dort stand, wo der Weg aus der Wolfsschlucht herausführte und Betty auf mich wartete. Ich spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken aufstellten, und ich fühlte mich entfernt verwandt mit den Wölfen, die hier gestorben waren.

Betty trug ein Baumwollkleid, eine blaue Strickjacke, die zu ihrer Augenfarbe passte, und schwarze Lederschuhe. Ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eigentlich sah sie harmlos aus – wenn da nicht dieser Blick gewesen wäre.

Schon gut drei Meter vor ihr blieb ich stehen.

»Hallo, Betty«, sagte ich. Das Buch, das ich dabeihatte, hielt ich fest umklammert. Es war unser Geschichtsbuch, das schon so alt war, dass der Bundesstaat Arizona noch nicht einmal darin vorkam, aber es war ordentlich schwer, und so überlegte ich mir, dass ich es ihr an den Kopf werfen könnte, wenn sie mir zu nahe käme. Mein Henkelmann würde mir eher wenig nutzen, der war nicht schwer genug, aber damit Betty sah, dass ich nicht völlig unbewaffnet war, schlenkerte ich das Gefäß schon mal mit der linken Hand hin und her.

»Was ist das überhaupt für ein Name – Annabelle?« Betty hatte eine tiefe Stimme, fast wie ein Junge. Sie sah mich mit festem Blick an, dabei senkte sie den Kopf wie ein Hund, der überlegt, ob er gleich beißen soll oder nicht. Jetzt legte sie den Kopf schief, die Arme hingen schlaff herunter, und ein halbes Lächeln ging über ihr Gesicht.

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich auf so eine Frage schon antworten?

»Du bist reich«, sagte sie. »So wie du heißen nur reiche Mädchen.«

Ich sah mich um, ob vielleicht irgendjemand hinter mir stand. Jemand Reiches.

»Du meinst, wir sind reich?« Es war mir bis dahin noch nie in den Sinn gekommen, dass man uns für reich halten könnte, auch wenn meine Familie schon sehr lange am Ort lebte, wir der Kirche und der Schule Land abgetreten und trotzdem noch eine große Farm hatten. Meine Vorfahren lagen auf dem Friedhof begraben und hatten die prächtigsten Grabsteine, und unser Haus war groß genug für die drei Generationen, die inzwischen darin lebten, wenn auch etwas beengt. Wir hatten sogar fließendes Wasser. Und als wenige Jahre zuvor Präsident Roosevelt dafür gesorgt hatte, dass unsere Gegend an das Stromnetz angeschlossen wurde, hatte meine Familie es sich leisten können, Leitungen im Haus verlegen zu lassen. An einer Wand im Wohnzimmer hing sogar ein Fernsprecher, was auch für uns selbst noch eine Art Wunder war. Vielleicht zweimal im Jahr aßen wir bei Lancaster’s in Sewickley. Das Erstaunlichste aber war, dass wir eine Toilette im Haus hatten. Meine Eltern hatten sie erst kürzlich einbauen lassen, weil sie fanden, meine alten Großeltern hätten sich diesen Komfort wirklich verdient. Reich waren wir trotzdem nicht.

»Ihr habt ein lila Fenster«, sagte Betty jetzt.

Erst wusste ich gar nicht, was sie meinte, bis mir das violette Fensterglas in unserem vorderen Hauseingang einfiel. Es gehörte zu den Dingen, die mir an unserem Haus am besten gefielen, zusammen mit den Giebeln und dem Schieferdach, das mich immer an silberne Vogelfedern erinnerte. Was mir noch gut gefiel? Die großen Kaminöfen in jedem Zimmer und die türhohen Fenster.

»Meine Oma hat mir von eurem lila Fenster erzählt«, sagte Betty. »Das hab ich ja noch nie gehört, lila Fenster, außer in einer Kirche oder bei Königen. Ein lila Fenster, so was haben doch nur reiche Leute.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich.

Betty hob einen Stock auf, der am Wegrand lag. Abgestorbenes Holz, aber trotzdem schwer, das sah ich daran, wie sie ihn hielt.

»Morgen bringst du mir was mit, oder ich hau dich hiermit.«

Sie sagte es so gelassen, dass ich erst dachte, es sollte ein Witz sein, doch dann tat sie einen Schritt auf mich zu. Mir wurde ganz heiß, und mein Herz klopfte heftig.

»Was soll ich denn mitbringen?« Ich stellte mir vor, wie ich unser violettes Fenster durch den Wald hinter mir herschleifte.

»Was du hast. Egal.«

Was ich hatte, war nicht viel, nur mein Sparschwein mit den Münzen darin, dazu mein Silberdollar und meine Bücher. Ein Muff aus Biberfell, den mein Großvater einmal für meine Großmutter gemacht hatte und den sie mir geschenkt hatte, als er unansehnlich geworden war. Ein Spitzenkragen, den ich sonntags für den Kirchgang an meine Kleider knöpfte. Ein paar weiße Baumwollhandschuhe, die mir inzwischen zu klein waren. Außerdem eine Froschschließe, die ich von Tante Lily ausgeliehen hatte, die sie aber bisher nicht zurückgefordert hatte.

Schnell hatte ich meine Schätze im Kopf aufgelistet. Dass ich Betty irgendetwas davon geben würde, glaubte ich selbst nicht, bis zu dem Moment, als sie sagte: »Wenn du mir nichts bringst, sind deine Brüder dran.«

Meine Brüder waren kräftige Bürschchen, aber sie waren jünger als ich, und ich hatte auf sie aufzupassen.

Ich schwieg. Betty lehnte den Stock an einen Baum, dann wandte sie sich zum Gehen. »Wehe, du sagst jemandem was, sonst kriegt der Kleine einen Stein an den Kopf.«

Der Kleine. Damit meinte sie James.

Erst als sie außer Sichtweite war, bekam ich wieder Luft. Ich stellte mir vor, wie es wäre, von ihr mit einem Stock geschlagen zu werden.

Ein Jahr zuvor hatte Henry mit einem tellergroßen Blätterpilz nach mir geworfen, und vor Schreck war ich rückwärts über einen unserer Hunde gestolpert und hatte mir einen Arm gebrochen. Ein paarmal hatte ich mich auch schon verbrannt, einmal war ich auf eine Harke getreten, sodass mir der Stiel an die Stirn geknallt war, und ein anderes Mal hatte ich mir den Knöchel verstaucht, als ich in ein Murmeltierloch getreten war. Davon abgesehen hatte ich mir in den elf Jahren meines Lebens kaum wehgetan, doch so viel wusste ich immerhin: Ein Schlag mit einem Ast würde mich nicht umbringen.

Trotzdem nahm ich den Stock, den Betty für mich ausgesucht hatte, und schleifte ihn so weit wie möglich in den Wald. Natürlich lagen genug andere Äste herum, doch als dieser eine außerhalb Bettys Reichweite war, fühlte ich mich schon etwas erleichtert.

Während ich langsam den Weg entlangtrabte, kam ich zu der Überzeugung, dass Betty nicht auf Henry oder James losgehen würde, bevor sie nicht wusste, wie ich auf ihre Drohungen reagieren würde. Also würde ich erst einmal abwarten, ob auch auf sie zutraf, was man sagte – dass bellende Hunde nicht beißen. So lange würde ich meinen Eltern nichts erzählen, denn das würde Betty womöglich noch böser machen, als sie ohnehin schon war. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass ich Angst hatte, eine Angst, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte.

Bis dahin hatte ich mich in meinem Leben vor kaum etwas gefürchtet, außer vor dem Krieg. Vielleicht würde der noch immer wüten, wenn meine Brüder alt genug wären, um gegen die Nazis zu kämpfen. Obwohl Bauernsöhne ja oft vom Militärdienst befreit waren. Ganz sicher hätte doch eine der beiden Seiten gewonnen, bis die beiden an der Reihe wären. Aber auch das machte mir Angst – welche Seite gewinnen und welche verlieren würde.

Einige von uns Mädchen hatten eine Fahne genäht, die seitdem in der Kirche hing. Jedes Mal, wenn ein junger Mann aus unserem Ort in den Krieg zog, befestigten wir einen blauen Stern daran; wenn einer von ihnen starb, kam an die Stelle des blauen Sterns ein goldener. Bisher war das nur zweimal passiert, doch ich war bei beiden Trauerfeiern dabei gewesen und wusste: Von »nur« konnte keine Rede sein.

Abends nach dem Essen, wenn der Abwasch gemacht war, saß ich manchmal noch bei den Erwachsenen und hörte Radio mit ihnen. Sobald die Nachrichten begannen, schwiegen alle still. Meine Mutter lauschte stets mit gesenktem Kopf, ihre Hände, die noch das Flickzeug hielten, hatte sie ineinandergelegt. Im Radio wurden oft Konzentrationslager erwähnt, und anfangs glaubte ich, das seien Orte, an die Menschen sich zurückzogen, um in Ruhe über schwierige Themen nachzudenken.

»Ich wünschte, so wäre es, Annabelle«, sagte mein Vater. »Doch das sind sie nicht. Das sind Gefängnisse für Menschen, die dieser Hitler nicht mag.«

Warum gab es bloß so viele Menschen, die Hitler nicht mochte? Ich wusste keine Antwort.

»Wen mag er denn?«, fragte ich.

Mein Vater dachte nach. »Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen«, sagte er schließlich.

Da war ich froh, dass ich braune Haare hatte. Und braune Augen.

Wir lauschten den Nachrichten über Bomben und U-Boote, hörten lächelnd die Meldung, dass die alliierten Truppen kurz davor waren, Italien zurückzuerobern, doch alle anderen Berichte machten uns besorgt.

Meine Mutter strich mir über den Rücken. »Hab keine Angst, Annabelle«, sagte sie.

Ich hatte trotzdem Angst.

Jedoch nicht vor meiner Mutter, auch wenn sie manchmal sehr streng sein konnte. Sie hatte vergessen, wie es war, auf einer Schaukel in den Himmel hineinzufliegen, und verstand nicht, dass jemand beim ersten Anzeichen einer Blase an der Hand die Harke weglegte oder dass man sich manche Dinge einfacher vorstellte, als sie waren. Sie war erst siebzehn gewesen, als sie mich bekommen hatte, und wurde achtundzwanzig in dem Jahr, als ich zu lügen lernte. Sie war also selbst fast noch ein Mädchen, trug aber die Verantwortung für einen Haushalt mit drei Generationen und einen guten Teil der Arbeit auf der Farm. Doch Angst hatte ich nie vor ihr, selbst dann nicht, wenn sie richtig ungeduldig mit mir war.

Selbst vor Tante Lily hatte ich nicht ernsthaft Angst, auch wenn sie einen ganz schön einschüchtern konnte. Sie war groß, dünn und hässlich. Als Mann hätte sie vielleicht gut ausgesehen. Tagsüber arbeitete sie in unserer Poststelle, abends betete sie, las in der Bibel und übte Tanzschritte auf der kleinen freien Fläche hinter dem Fußende ihres Bettes. Manchmal lud sie mich in ihr Zimmer ein, wo wir Peter und der Wolf von einer Schallplatte hörten. Manchmal schenkte sie mir auch eine Münze für das Sparschwein, das ich von ihr hatte, doch ihre großen Zähne und ihre eifernde Frömmigkeit schreckten mich ab.

Was mir sehr wohl manchmal Angst machte, war das schwache Herz meiner Großmutter, das sie zwang, die Treppe rückwärts hochzugehen und sich immer wieder hinzusetzen. Dass sie so grau geworden war, so schwach, so anders als die starke, kräftige Frau, die sie einmal gewesen war, ängstigte mich. Wann immer es ging, setzten wir beide uns auf das Schaukelsofa auf unserer Veranda und spielten Ich sehe was, was du nicht siehst, unterhielten uns über die vorbeifliegenden Schmetterlinge und hofften, ein Fasan werde aus dem Wald kommen, um die Samenkörner aufzupicken, die Großmutter für die Singvögel ausgestreut hatte. Sie liebte diese Vögel so sehr. Selbst die unscheinbaren. Die ganz besonders. An meiner Großmutter war nichts, was mir Angst machte, nichts außer dem Gedanken, dass sie bald nicht mehr da sein mochte.

Doch diese Angst teilte ich mit allen anderen Hausbewohnern.

Vor Betty jedoch hatte ich ganz allein Angst, und ich entschied, dass es an mir lag, sie zu entwaffnen. An mir ganz allein. Wenn ich konnte.

Doch fürs Erste war ich einfach nur froh, dass sie weg war, und ich folgte ihr so langsam, dass weit und breit nichts mehr von ihr zu sehen war, als ich aus dem Wald heraus aufs freie Feld trat. Nur ihre Fußspuren waren noch zu erkennen, doch die waren so tief und so fest umrissen, dass es so aussah, als hätte Betty selbst Angst gehabt, mehr Angst, als ich es mir vorstellen konnte.

3

Viele Menschen, die von der Wolfsschlucht zu den Häusern hinter unseren Feldern wollten, folgten nicht der Straße, die von der Schule aus um die Anhöhe herumführte, sondern nahmen die Abkürzung über unsere Farm.

Mir war das immer egal gewesen, schließlich kannten wir alle Leute im Umkreis von mehreren Meilen, nur manchmal erschrak ich, wenn Landstreicher durchzogen.

In jenen Jahren, nicht lange nach der Wirtschaftskrise, gab es Menschen, die irgendwann angefangen hatten, über Land zu ziehen, und schließlich nicht mehr damit aufhören konnten, weil sie von ihren Wurzeln, ihren Familien abgeschnitten waren. Diese Menschen blieben nie lange an einem Ort. Und dann gab es noch solche, die völlig verstört aus dem ersten großen Krieg zurückgekehrt waren. Sie waren verstummt und schienen nicht mehr zu wissen, wer sie waren oder wo sie hingehörten.

Einer von ihnen, ein Mann namens Toby, war geblieben.

Toby war anders als die anderen.

Er bat nicht um Essen oder um Geld. Um gar nichts bat er. Doch statt wie die anderen weiter umherzuziehen, auf dem Weg nach Irgendwo, streifte er endlos durch unsere hügelige Gegend, und ich gebe zu, am Anfang hat er mir etwas Angst gemacht.

Aber das war, bevor ich ihn kennenlernte.

Als ich an jenem Tag nach Hause lief, hielt ich Ausschau nach ihm. Mit den Augen suchte ich das Feld ab, das sich wie ein grob gestrickter Schal um den lang gestreckten niedrigen Hügel wand. Auf meinem Weg zur Schule oder zurück sah ich Toby oft in der Ferne. Still wie ein Baum stand er gern am Waldrand. Oder auch ganz oben auf dem Hügel, wo seine Gestalt sich klar gegen den Himmel abhob.

Wir wussten nicht, wo Toby herstammte, und auch sonst nur wenig, außer dass er als Infanterist in Frankreich gegen die Deutschen gekämpft hatte. Das lag über zwanzig Jahre zurück. Wir hatten zufällig davon gehört, in der Kirche oder auf dem Markt, und gingen davon aus, dass es stimmte. Seine linke Hand war voller Narben, was uns eine Bestätigung schien für das, was man sich über ihn erzählte. Doch niemand konnte mit Sicherheit sagen, wo er herkam. Man nahm an, dass er vielleicht deswegen in unserer Gegend geblieben war, weil die Hügellandschaft ihn an sein Zuhause erinnerte. Doch vielleicht hatte er sich auch immer nur gewünscht, an so einem Ort wie unserem zu leben.

Viele Menschen waren besorgt, wenn sie Toby sahen, wie er durch die Wälder und Täler streifte, in seinem langen schwarzen Mantel aus Wachstuch und den schwarzen Stiefeln, mit den langen schwarzen Haaren, dem langen schwarzen Bart und den drei Gewehren, die er stets über der Schulter hängen hatte. Sie wussten nicht recht, was sie von ihm halten sollten, diesem meist schweigenden Mann, der unablässig über Land zu laufen schien, von früh bis spät, mit gesenktem Kopf, immer im selben Schritt, nicht schneller und nicht langsamer als am Tag zuvor.

Manchmal stellte ich ihn mir in einem Schützengraben vor, während oben tausend deutsche Soldaten mit Pickelhaube und aufgepflanztem Bajonett herumrannten, Mordlust in den Augen. Auch wenn ich erst elf war, so verstand ich doch schon genug von diesen Dingen, um zu begreifen, dass sehr große Angst, die einen körperlich und seelisch ergreift, vermutlich ausreichte, um einen Menschen für alle Zeit sonderbar zu machen. Genau das war Toby. Sonderbar.

»Schwer zu sagen«, meinte meine Großmutter, »aber manchmal braucht es mehr als Furcht oder die Schrecken eines Krieges, damit ein Mann so wird.« Das war nicht lange nachdem Toby in unsere Gegend gekommen war. »Er war vermutlich fast noch ein Junge in jenem schrecklichen Krieg. Aber er muss Dinge gesehen und getan haben, die selbst einen ausgewachsenen Mann aus der Bahn geworfen hätten.«

Toby wohnte in einer alten Räucherhütte in Cobb Hollow, unterhalb der Glengarry-Farm, gleich neben unseren Mais- und Kartoffelfeldern. Die Räucherhütte gehörte niemandem mehr. Ihr früherer Besitzer, Silas Cobb, war gestorben, und sein altes Haus war in Flammen aufgegangen, als es vom Blitz getroffen wurde. Die Räucherhütte lag ein Stück abseits der verkohlten Fundamente des Hauses, weitgehend verborgen hinter den Bäumen und Sträuchern, die seit dem Brand dort gewachsen waren. Die kleine Hütte aus Stein und Holz und mit einem Blechdach war ganz gemütlich. Das erste Mal war ich dort vorbeigekommen, als irgendwann eine unserer Kühe verschwunden war und wir alle ausschwärmten, um sie zu finden und heimzubringen.

Normalerweise hütete ich mich davor, die alten Hütten zu betreten, die abseits unserer Farm lagen. Teils hatte man sie um alte Ölpumpen herumgebaut, teils Fleisch darin gepökelt oder Hühner gehalten. Doch alle lockten sie Schlangen an. Die alte Räucherhütte jedoch hatte ich mir irgendwann von innen angeschaut, noch bevor Toby dort eingezogen war. Mal abgesehen vom Geruch nach Fleisch und Rauch, der immer noch in den Wänden hing, war es meiner Meinung nach kein schlechter Ort für einen Mann wie Toby. Neben dem früheren Wohnhaus der Cobbs gab es noch den alten Brunnen, und auch wenn der inzwischen kaum mehr als ein Loch im Boden war – so wie auch das niedergebrannte Haus selbst –, so war doch sichergestellt, dass immer Trinkwasser da war, auch wenn der nahe Bach zufror.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie Toby in der Hütte saß und sich an dem Feuer wärmte, das an derselben Stelle brannte, wo vor langer Zeit ständig Feuer in Gang gehalten wurden. Vielleicht nutzte er die alten Fleischerhaken an den Deckenbalken, um seinen Mantel dort aufzuhängen, wenn er ihn nicht brauchte, und seine Gewehre, wenn er sie nicht über der Schulter trug. An einem weiteren Haken stellte ich mir seinen schwarzen Hut vor, und an wieder einem anderen seine Kamera.

Wir waren alle überrascht gewesen, als Toby gefragt hatte, ob er unsere Kamera borgen dürfe. Inzwischen war sie mehr oder weniger in seinen Besitz übergegangen. Es war erstaunlich, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte, dass er einem von uns nahe genug gekommen war, um seine Bitte vorzubringen, dass es etwas gab, wofür er sich plötzlich begeisterte, dazu noch so etwas wie Fotografie. Doch so war es, und angefangen hatte alles mit einem Zufall.

Als ich sieben war, Henry fünf und James drei, hatte unsere Mutter uns zu Horne’s mitgenommen, dem großen Kaufhaus in Pittsburgh, um uns fotografieren zu lassen. Meine Mutter besaß ein Foto, auf dem sie selbst mit ihrer ganzen Familie zu sehen war. Es war kurz vor dem Tod ihrer eigenen Mutter aufgenommen worden. Das Bild, das inzwischen die bräunliche Farbe von Sommerstaub angenommen hatte, lag in der Familienbibel. Mein Vater besaß viele Porträts seiner Vorfahren, lauter grimmigen Schotten mit buschigen Brauen, verkniffenen Mündern und Glupschaugen. Doch im ganzen Haus gab es kein einziges, ganz normales Foto von uns, Arm in Arm. So etwas wünschte sich meine Mutter, deshalb nahm sie ihre Kinder mit zu Horne’s, wo der Fotograf uns zusammen ablichtete. Anschließend erzählte er uns, dass alle, die in jenem Monat ein Porträt in Auftrag gaben, automatisch an einem Wettbewerb teilnahmen, bei dem es eine Kodak-Kamera zu gewinnen gab sowie das lebenslängliche Anrecht auf kostenlosen Nachschub an Filmen einschließlich Entwicklung.

»Und Sie glauben, ich hätte die Zeit, irgendwelche Aufnahmen zu machen?«, fragte meine Mutter den Fotografen lächelnd beim Bezahlen.

Drei Wochen später bekam sie ein Paket, das nicht nur unser Foto enthielt, auf dem wir alle viel braver aussahen, als wir in Wirklichkeit waren, sondern auch die Nachricht, dass wir die glücklichen Gewinner der Kamera seien. Auch die Kamera selbst lag dabei, zusammen mit einem Dutzend Filmröllchen für den Anfang und besonderen Umschlägen, in denen wir die belichteten Filme zur Entwicklung ans Labor schicken sollten.

Wir staunten über unseren Gewinn, als hätten wir ein winziges Raumschiff oder eine Zeitmaschine geschenkt bekommen.

Die Nachricht verbreitete sich rasch, und es dauerte nicht lange, bis unsere Nachbarn an Sonntagnachmittagen bei uns erschienen – immer noch in den guten Kleidern vom Kirchgang – und darum baten, fotografiert zu werden. Meine Mutter war viel zu beschäftigt dafür, doch Tante Lily erklärte sich bereit dazu. Allerdings kommandierte sie alle herum und war derart kritisch, dass die Nachbarn später auf den Fotos so leidend aussahen, als hätten sie die Grippe. Wenn die Abzüge kamen, verlangten die Nachbarn eine zweite Runde mit einem anderen Fotografen, was eine Verschwendung von Zeit und Filmmaterial war. Ich selbst versuchte mich auch hinter der Kamera, doch ich neigte dazu, den Porträtierten den Kopf abzuschneiden.

So kam es, dass nach einer Weile niemand mehr mit der Bitte um ein Foto zu uns kam und die Kamera langsam einstaubte, bis ich sie eines Nachmittags hervorholte. Die Pfirsichbäume waren mitten in ihrer kurzen Blüte, und die Sonne tauchte den Obstgarten in rosiges Licht. Diesen Anblick wollte ich gern festhalten.

Ich stellte mich also oben in den Garten, machte ein Foto nach dem anderen und ließ die Kamera nur gelegentlich sinken, um zu seufzen oder die frische, rosige Luft einzuatmen.

Irgendwann bemerkte ich, dass Toby am Rande des Gartens stand, in der Nähe der hintersten Bäume, und mich beobachtete.

Bis dahin hatte ich noch nie mit ihm gesprochen. Immer war er mindestens eine ganze Feldbreite von mir entfernt gewesen, und noch nie hatte ich erlebt, dass er einen Menschen so beobachtete wie jetzt mich. Dass er so lange stillstand.

Langsam richtete ich die Kamera auf ihn, in der Erwartung, er werde erschrocken davonlaufen wie vor einem Gewehr, doch das tat er nicht. Obwohl er im Sucher und auf diese Entfernung nicht mehr zu sein schien als ein dunkler Fleck mit Hut, drückte ich auf den Auslöser.

Als er langsam auf mich zukam, wartete ich erst einmal ab. Es war helllichter Tag, außerdem befand ich mich auf unserem eigenen Grund und Boden. Es gab also keinen Grund, nervös zu werden, redete ich mir selbst ein. Doch ich war damals erst neun, zu jung, um Heldenmut zu beweisen. Toby war ein hochgewachsener Mann, der nie lächelte und selten sprach. Dazu die furchtbaren Narben an seiner Hand und die Gewehre über seiner Schulter.

Aus einiger Entfernung hörte ich ein Hämmern – vermutlich mein Vater, der etwas in der Scheune reparierte. Dieses Geräusch gab mir Sicherheit, und so rührte ich mich auch dann nicht von der Stelle, als Toby immer näher kam. Als er noch rund ein Dutzend Schritte entfernt war, bemerkte ich schon den Geruch von Räucherfleisch, der von ihm ausging, dazu den alles überlagernden Gestank seiner Kerosinlampe. Wann immer unsere Hunde in Tobys Nähe kamen, schüttelten sie den Kopf und niesten. Alles in allem war mir die Mischung aber nicht unangenehm.

Toby sah erst den Fotoapparat an, dann mich. »Gehört der dir?«, fragte er.

»Meiner Mutter«, sagte ich und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Und mir.« Schließlich war ich ja auf dem Bild zu sehen, mit dem wir die Kamera gewonnen hatten. Ich und James und Henry.

Toby schob seinen Gewehrgurt ein Stück höher. Ich hatte schon einmal ein Gewehr in Händen gehalten und konnte mir vorstellen, dass drei davon ganz schön schwer sein mussten. Der hochgeschlagene Kragen des langen und steifen schwarzen Mantels ließ Toby größer scheinen, als er war. Ähnlich wie bei manchen Tieren, die ihr Fell sträuben können, um Feinden gegenüber gefährlicher zu wirken.

»Fotografierst du die Blüten?«

Ich nickte. »Von Ihnen habe ich auch ein Bild gemacht. Ein einziges. Möchten Sie es haben, wenn die Abzüge kommen?«

Toby schüttelte den Kopf »Ich weiß, wie ich aussehe.«

Ich fragte mich, wie viele Jahre es wohl her sein mochte, seit er sich zum letzten Mal im Spiegel gesehen hatte.

Er starrte auf die Kamera, die ich um den Hals hängen hatte.

Ich nahm sie ab und hielt sie ihm hin. »Möchten Sie mal probieren?«

Toby warf mir einen raschen Blick zu, dann sah er wieder weg. Sah mich wieder an, dann weg. Sah die Blüten an, dann die frisch gepflügten Felder. Dahinter stand eine Reihe von Blautannen, die alles überragten. Toby kam näher, nahm die Kamera und trat wieder einen Schritt zurück. »Ich bringe sie morgen zurück, wenn es recht ist.«

Ich erschrak ein bisschen. Sonst sprach er kein Wort mit mir, und plötzlich nahm er sich so eine Freiheit heraus – ein bisschen überraschend kam das schon. Aber Nein sagen hatte ich nicht gelernt, schon gar nicht Erwachsenen gegenüber, und außerdem hatte meine Mutter sicher nichts dagegen. Sie backte oft ein Brot für Toby mit oder schenkte ihm ein Glas Marmelade. Sie hatte keine Angst vor ihm, und bestimmt hatte sie nichts dagegen, wenn er die Kamera einen Tag lang auslieh.