Über das Buch

Der November 1989 ist ein neuer Anfang. Doch ist er das wirklich? Ist er das für alle? Und trägt nicht jeder sein ganzes Leben, die ganze Geschichte mit in die neue Zeit?

Die Familie Werchow tut nach dem Mauerfall das, was alle tun: sie macht weiter und beginnt zugleich neu. Matti, der frühere Grübler und Weltverbesserer, lernt zu genießen und sich zu sonnen, er kommt buchstäblich durch Himmelsguckerei zu einem Haufen Geld und wird sein eigener Unternehmer. Es dauert eine Weile, bis seine Zufriedenheit erschüttert wird. Britta driftet in Hilflosigkeit und Verzweiflung und Apathie, denn sie kann nicht mehr im Zirkus auftreten. Nur Erik wechselt bruchlos von der sozialistischen in die kapitalistische Werbung. Bewundernd und entsetzt schaut er auf seine junge Vorgesetzte Sybille Gapp, die wie er aus dem Osten stammt, aber mit harter Hand agiert und keine Skrupel zu kennen scheint.

Die Brüder und Schwestern ringen auf lebendigste Weise mit sich und den Zeitläuften – und spiegeln mit ihren individuellen Schicksalen die Geschichte eines ganzen Landes.

Birk Meinhardt

Brüder und Schwestern

Die Jahre 1989–2001

Roman

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Goldwäsche

Normannenstraßenmethoden

Geschichten zur Weihnacht

Götterwechsel

Buch, Winnt, Geld

Beischlaf mit einer Toten

Billy, das Ikea-Mädchen

Oliven und Tautropfen

Picazzo

Gerechtigkeit vs. Niederträchtigkeit

Auf Knopfdruck

Was Schwarzes, Geöltes

Trotzdem

Edel sei Sybille

Goldwäsche

Und nun stand Erik also jenseits der Mauer. Er sollte die riesigen Werbeplakate, die da und dort an den Osthausgiebeln angebracht worden waren, um nach Westen zu strahlen, in Augenschein nehmen: Hingen sie noch gerade? Hatten Wetterunbilden ihnen zugesetzt? Waren die Farben vielleicht schon am Verbleichen? Man hatte ihm auch aufgetragen, die Plakate zu fotografieren, dazu war ihm in der Tucholskystraße eine Dienst-Pentacon ausgehändigt worden.

Und wie er so stand, mit dem Rücken zur Bernauer Straße, das erste Plakat im Blick, eines, auf dem Motorräder aus Zschopau gepriesen wurden, schienen ihm die hübsch aufgereihten Kräder gar nicht richtig zur Geltung zu kommen. Vor dem betreffenden Giebel nämlich, und weit nach links und rechts sich schlängelnd, gab es Interessanteres zu entdecken, erstaunt starrte Erik der Kontrolleur darauf, denn er hatte nun wahrlich nicht erwartet, daß die Mauer auf dieser Seite hier derart – derart blühte. Die Westberliner hatten sie ja auf der ganzen Fläche bekritzelt und bemalt! Er nahm erst einmal nur ein verrücktes Gemenge aus Farben wahr und keine einzelnen Töne und Zeichen. Und er wollte auch gar nicht gleich zum Genaueren hin, er mußte seinen Blick noch schweifen lassen, er versuchte, das Bunte an sich zu begreifen. So vergingen zwei oder drei Minuten. Dann begann er, sich auf die Mauerstelle direkt vor ihm zu konzentrieren, und erkannte eine rostrote Röhre, in die ein pechschwarzes Männlein hineinmarschierte. Oder war die Röhre eher eine Welle? Aber natürlich, eine sich überschlagende Welle, und dieses Männlein, das surfte munter darin herum. Erik ging ein paar Meter nach rechts, an einem französischen Spruch vorbei, der mit dem Wort Boum endete. Nach noch ein paar Metern las er, Wusel komm rüber, und zur Fluchthilfe war passenderweise gleich daneben ein Loch gemalt, so plastisch sah es aus, als könnte man wahrhaft problemlos hindurchschlüpfen. Plötzlich begriff Erik, daß er all die Jahre davon ausgegangen war, die Mauer wäre auf ihrer Westseite ebenso grau und kahl wie auf der Seite bei ihm. Im Grunde hatte er bis jetzt gar nicht über ihr Aussehen nachgedacht, der Beton hatte schlicht keine Rückseite gehabt, umso mehr Verblüffung rief diese nun hervor, und eine untergründige Vergnügtheit auch: Herrje, diese ganzen verqueren Formen und Gestalten und Visagen und daß die Sachen und Wesen auch noch irgendwie ineinander übergingen, ein bißchen verwirrend zwar, aber nicht schlecht, nicht schlecht.

Am meisten hatten es ihm allerdings die Sprüche angetan, und darüber schämte er sich beinahe – daß sie ihm gefielen und ihn sogar erheiterten, obwohl sie ausgesprochen garstig in seinen Osten zielten. So nicht, Erich, stand an einer Stelle, Fotos statt Vopos an anderer, Was sollen wir mit den Steinen bloß machen, wurde hier gefragt, Jenseits von diesseits dort gedichtet, und das letztere wirkte so weitgespannt und war so kryptisch, daß es ihn für kurze Zeit in eine neblig-philosophische Stimmung versetzte, in eine Art Schwelgen über den seltsamen, unbegreiflichen Zustand der Welt.

Immer weiter stapfte er an der Mauer entlang, wobei ihm Carla und der kleine Wiktor in den Sinn kamen. Er wollte sich alles einprägen, was er sah, möglichst viele Einzelheiten, um sie den beiden am nächsten Morgen brühwarm erzählen zu können; aber hatte er nicht eine Kamera dabei? Er begann zu fotografieren. Bald war er völlig versunken in seine einsame Beschäftigung, er sah nur die Mauer und all die Motive darauf, und so hätte es noch eine Weile gehen können – wenn ihm nicht unvermittelt ein Mann vor die Linse gelaufen wäre. Erik zuckte zusammen, behielt aber den Apparat vorm Auge, denn er nahm an, der Mann sei gleich wieder aus dem Bild heraus. Indes, der blieb stehen. Und wie keck er sich gab! Er lächelte ausgiebig zu Erik hin. Schob mit ausgestrecktem Zeigefinger wie ein Westernheld seinen Filzhut in den Nacken. Machte sich, als wäre es nichts, am Hosenstall zu schaffen. Holte seine Rute hervor und blickte währenddessen stolz in Richtung Kamera. Da begann Erik zu ahnen, daß hier jemand angetreten war, ihm eine ganz besondere Freude zu bereiten.

In der Tat, der Mann schlug seinen Urin ab, er ließ ihn auf genau den Spruch prasseln, den Erik hatte ablichten wollen, ein stattlicher Bogen spannte sich vorm Objektiv. Als nach Sekunden schließlich seine Fontäne in sich zusammenzufallen drohte, suchte der Mann das noch halbwegs gewandt auszugleichen, zunächst, indem er sein Becken vorschob, dann, indem er zwei Schritte zu den Buchstaben hintrippelte; und warum auch nicht, warum nicht, es war ja das Geschriebene selbst, das nach intensiver und vor allem dauerhafter Beregnung verlangte, es lautete, Steter Tropfen höhlt den Stein – bitte hier pinkeln.

Erik ließ seine Kamera sinken, ohne auf den Auslöser gedrückt zu haben, dafür war er einfach zu perplex gewesen.

»Hast’s im Kasten?« fragte der Fremde, wobei er erhobenen Hauptes seinen Hosenstall wieder schloß.

»Mmh.« Erik wollte nicht lügen, aber zugeben, den Moment verpaßt zu haben, das wollte er auch nicht.

»Magst selber mal?« Schon streckte der Fremde einen Arm nach dem Fotoapparat aus und wies mit einer Kopfbewegung hinter sich zur Mauer.

Erik stülpte seine vollen Lippen vor, das konnte auch wieder ziemlich viel bedeuten, das gab ihm ein paar Augenblicke Zeit zum Überlegen. Einerseits war er nun schon länger im Freien unterwegs, ohne sich erleichtert zu haben, und es war doch ein kalter, nebliger Novembertag, der ihn frösteln machte und seinen Harndrang noch verstärkte, kurzum, er wollte nicht nur, er mußte. Andererseits wollte er auch wieder nicht, er konnte einfach nicht, vom Kopf rührte das her, etwas in dem sagte ihm, wenn du auch die Mauer nicht magst, wirst du doch nicht auf sie pissen, es wäre ja wohl allzu billige Symbolik. Vor allem aber hatte Erik das Gefühl, er würde das gesamte dahinter befindliche Land in den Schmutz ziehen, wenn er seine Grenze, die das hier immerhin noch war, bepinkelte. Dieses Gefühl wiederum erstaunte und ärgerte ihn – das Grundsätzliche, das darin lag. Er fand es übertrieben und geradezu aberwitzig. Aber er konnte es nicht abstreifen. Wenn er ehrlich war, hatte er es sogar schon gehabt, als der Fremde urinierte, darum hatte er den in Wahrheit nicht geknipst, darum; das war verrückt, die Mauer weghaben, sie aber bei Gelegenheit nichtmal ein bißchen beschmutzen wollen, das konnte er dem Mann nie und nimmer erklären, wie es in seinen Hirnwindungen gerade so hin- und herging. Kaum merklich schüttelte er den Kopf.

»Was, magst nicht?«

Erik verneinte nochmal, und weil ihm der Mann irritiert schien, fühlte er sich bemüßigt, eine Begründung dazuzuliefern: »Ich hab doch schon dich drin, das reicht, alles gut.« Verlegen lächelnd, tippte er mit dem Zeigefinger auf den vor seiner Brust hängenden Apparat.

Der Fremde zog die Augenbrauen hoch und griff wie ein Kleinkind, das jeden ihm unbekannten Gegenstand zu betatschen versucht, nach der Kamera und drehte und wendete sie sogar. »Was’n das für ein Gerät?«

Starr und steif stand Erik, weil er es nicht mochte, wie der Wildfremde an ihm herumfummelte? Vor allem, weil er spürte, daß ihr Gespräch sich in eine ihm unangenehme Richtung zu drehen begann. »Ist eine Pentacon«, sagte er möglichst gleichmütig, »steht ja drauf.«

»Pen-ta-con«, wiederholte der Fremde stockend, »is das eine amerikanische?«

»Eine deutsche.«

»Eine deutsche? Hast auch Ahnung welcher Ort?«

Erik neigte den Kopf, als verstünde er nicht.

»Ich meine, wo wird das produziert? Ist bestimmt aus einer Manufaktur, so schaut das aus.«

Erik verzog den Mund, immer mehr fühlte er sich in die Enge getrieben.

»Brauchst nicht gleich so zu gucken, bloß weil ich das nicht weiß, weißt.«

Er schüttelte erschrocken den Kopf und wedelte ein wenig mit den Händen, denn als arrogant dastehen, das war das letzte, was er wollte. Schnell sagte er, die Kamera sei aus Dresden, woher solle er, also der Fremde, das auch wissen. Und er zuckte selber mit den Schultern.

Da wurde sehr ernst überlegt von seinem Gegenüber, das dauerte ein paar Sekunden, aber dann begann der zu strahlen, Erik konnte zusehen, wie sich bei ihm das Lachen buchstäblich herausbildete. Schließlich rief der Mann: »Bist gerade abgehaun von drüben? Mensch sag’s doch gleich, bist abgehaun!« Und dabei schlug er ihm immer wieder mit der flachen Hand auf den Arm.

Erik ließ es geschehen. Währenddessen rang er mit sich. Eigentlich müßte er den Mann auf der Stelle korrigieren und ihm gestehen, er sei dienstlich im Westen, aus dem und dem Grund, und auch für einen Tag nur, spätestens Mitternacht sollte er den Grenzübergang unbedingt wieder passiert haben. Aber es wäre ihm peinlich, davon zu berichten und sich automatisch als Getreuer des wankenden Systems zu offenbaren, deswegen hatte er sich doch die ganze Zeit so schwergetan mit dem Antworten. Aber mir nichts, dir nichts als Flüchtling zu gelten, war ihm gleichfalls außerm Spaße, besonders, weil er sich ja mit fremden Federn schmückte, unverdientermaßen sonnte er sich doch in dem Ruhm, mit dem man diese Leute im Westen überhäufte, dabei mochte er sie nicht einmal. Er bewunderte ihre Entschlußkraft, das ja. Doch zugleich stieß sie ihn ab. Jedesmal, wenn im Fernsehen die vielen Menschen in seinem Alter ekstatisch über ihre Ausreise jubelten, schlußfolgerte er, daß sie alle ihre Eltern nicht wiedersehen würden und daß sie es natürlich vorher bedacht haben mußten und es also in Kauf nahmen. Wie bringt man denn sowas übers Herz, fragte er sich, kein Herz haben diese Menschen, sonst würden sie nicht weggehen, so endgültig und rabiat.

»Gerade abgehauen«, wiederholte er schließlich in ironischem Ton. Und um noch zu verdeutlichen, es sei wohl schlecht möglich gewesen, wies er mit einer Kopfbewegung zur Mauer und schaute dann den Fremden milde lächelnd an.

»In einem weiteren Sinne hab ich das gemeint, zum Beispiel, daß du über Ungarn gekommen bist, oder über Prag. Warst vielleicht in der Botschaft in Prag? Du warst, gell, wenn du abgehauen bist, bist du bestimmt in der Botschaft drin gewesen.« Der Fremde schaute ihn beinahe zärtlich an. »Ich hab geheult, als ich das gesehen hab, der Balkon, wo der verkündet, ihr dürft raus, und eure Schreie, das werd ich nie vergessen, wie ihr da geschrien habt, glaubst?«

Gegen die Vorstellung des Fremden, er sei in Prag gewesen, war für Erik nun doch schwer anzukommen. Der hatte das schon richtiggehend beschlossen, nicht wahr. Was für ein Aufwand, den jetzt noch zu korrigieren. Und etwas kam hinzu: Auch Erik selber hatte vor dem Fernseher geheult, gegen seinen Willen zwar, denn er hatte seine Meinung über diese Leute, und doch völlig ergriffen von der Szene, vielleicht wegen des mystischen Halbdunkels, in dem sie sich abspielte, und weil der Mann im Licht auf dem Balkon einem Messias glich, und eben wegen jener orgiastischen Schreie aus hunderten Kehlen, ein einziger Schrei war das in Wahrheit gewesen, ein Urschrei aus der Schwärze so mächtig und vor allem dringlich, daß er auch in Erik gefahren war. Während er sich jetzt daran erinnerte, begann auch sein Körper noch einmal zu reagieren. Der Puls schlug ihm merklich, die Augen wurden ihm glasig. Er senkte den Blick.

Die Rührung entging dem Fremden nicht. Er wollte Erik, dem noch immer aufgewühlten Flüchtling, Zeit geben, sich zu sammeln, er schwieg ein bißchen, und bloß, um wieder das Gespräch aufzunehmen, fragte er dann: »Fotografierst die neue Heimat, ja?«

Erik beließ es bei einem Lächeln. Eben hatte er sich noch in Bedrängnis gewähnt, nun kam er sich sogar überlegen vor, nur durch sein Schweigen, und darüber staunte er – was so alles an Vorteilhaftem in einen hineininterpretiert werden kann, einfach, indem man konsequent die Klappe hält.

Er fand auch, dies sei eine günstige Gelegenheit, sich zu verabschieden. Jawohl, erklärte er, fotografieren, er werde jetzt mal weiterziehen mit seiner Kamera, es gäbe viel zu entdecken. In einer Art Übermut ließ er sich sogar dazu hinreißen, nun seinerseits dem anderen an den Arm zu schlagen.

Der Fremde zuckte zusammen. Es schien ihm unhöflich und despektierlich, wie abrupt dieser Ostler ihre interessante Unterhaltung beendete. Aber dann sagte er sich, ist doch logisch, der muß ja Hummeln im Hintern haben, nachdem er so lange eingesperrt gewesen ist. Er wünschte Erik viel Glück und verabschiedete sich mit der denkwürdigen Ansage: »Man sieht sich, auch wenn man sich nicht sieht, verstehst?«

*

Solch ein Kind seiner Republik war Erik, daß er im Weggehen den letzten Worten mit wachsendem Unwohlsein nachhorchte. Hatten sie, wenn man’s genau bedachte, nicht etwas Doppeldeutiges? Gab ihm der Fremde nicht zu verstehen, man könne ihn sehen, auch wenn er es nicht bemerke? Der Mann, rekapitulierte Erik, mußte ihn schon einige Zeit beobachtet haben, ehe er im geeigneten Moment sich zeigte, ehe er urinierte und sich auf diese abgeschmackte Weise mit ihm bekanntmachte. Und warum dieses zielgerichtete Herantasten und Ins-Gespräch-Ziehen? Ihm fiel der mächtige Lütt ein. Jahre waren vergangen, seit er sich dem und der Firma verweigert hatte, Jahre, in denen er gerade darum nicht in den Westen hatte fahren dürfen – und jetzt, da man es ihm endlich erlaubte, wollte der mächtige Lütt bestimmt verfolgen, ob er sich des in ihn gesetzten Vertrauens als würdig erwies. So etwas war gang und gäbe, das fiel ihm nun ebenfalls ein, zum Beispiel war drei oder vier Mitarbeitern der »Weltwerbung« nachgewiesen worden, daß sie sich auf Reisen in die BRD trotz strikten Verbots mit Verwandten getroffen hatten, und natürlich war dieser Nachweis nur möglich gewesen, weil man sie seitens der Firma nicht allein gelassen hatte im Westen. In den sie fortan nicht mehr gelangten.

Er schaute sich um. Der Mann war verschwunden. Erik argwöhnte erst recht, er sei nur auf ihn angesetzt gewesen, er habe jetzt seine Pflicht erfüllt. Was nahm er mit, dieser Mann? Daß ich mich als Flüchtling ausgegeben und mich regelrecht verleugnet habe. Sogar meine Tränen nimmt er mit, die mir vor lauter Ergriffenheit über die Szene in Prag gekommen sind. Aber ist das nicht Unfug? Wer interessiert sich denn jetzt noch für meine Tränen? Wer schert sich überhaupt um mich? Du kleines Licht du, dich sieht hier niemand, und dich verfolgt auch niemand, die Firma hat drüben, da drüben zu Hause hat die in diesen wilden Zeiten was ganz anderes zu tun, als an dich auch nur zu denken, also beruhige dich endlich, und vor allem, tu dem Mann mal kein Unrecht, der hat ja wohl nur ausdrücken wollen, daß er irgendwie mit dir ist, mit dir und nicht hinter dir her.

Der liebe, liebe Pisser! Erik lachte kurz auf. Dann erinnerte er sich der Aufgabe, die ihn eigentlich hergeführt hatte; viel Zeit war schon vergangen, in der er sich hatte blenden und treiben lassen, und nun mußte er sich sputen, um die etwa fünfzig entlang der Mauer verstreuten Werbegiebel zu begutachten und zu fotografieren, ehe es dunkel wurde. Er fuhr nach einem ihm in der Tucholskystraße exakt aufgezeichneten Plan hierhin und dorthin, nur noch Augen für das Porzellan aus Meißen, die Jagdgewehre aus Suhl, die Kinderwagen aus Zeitz, den Bernstein aus Ribnitz-Damgarten, die Feldstecher aus Jena hatte er, und als er fertig war mit seiner weiten Runde, dämmerte es tatsächlich.

Wohin jetzt? Auf den Kudamm natürlich. Er fuhr mit der S-Bahn in Richtung Zoo, aber kaum trat er aus dem Bahnhof, schlugen über ihm Farbwellen zusammen, glutrot, phosphorgrün, rapsgelb, tintenblau rauschten sie in ihn hinein, und er mußte stehenbleiben und um Atem ringen, und wie er so stand, bot er den Wogen eine noch bessere Angriffsfläche: Einzelne Schriftfetzen bohrten sich in seine Schläfen, sirrten ihm durchs Hirn, schossen zurück ins Freie, alles in ihm und um ihn war erfüllt von funkelnden Buchstaben, von gleißenden Botschaften.

Er wurde angerempelt, ließ sich vom Strom der Passanten über die erste Kreuzung spülen, und über die nächste, sieh an, der Kudamm schon, es flimmerte noch immer so in seinem Kopf, er wandte sich, weil er sich ja irgendwohin wenden mußte, nach links und trottete weiter, nun wenigstens im Tempo der anderen, das auch nicht gerade schnell war, sie trugen große Tüten fast alle und bogen hier ab und da, immer vereinzelt, so daß der Strom an sich erhalten blieb. Mit einemmal aber drängten übermäßig viele Passanten nach rechts, und ebenso viele strömten von dort her, er befand sich schon in einem Wirbel und fühlte sich vor- und zurückgestoßen, wo war er nur?

Vorm Kaufhaus des Westens. Er befreite sich aus dem Gewühle und stellte sich, um endlich seine Sinne zu ordnen, mit dem Rücken vor eines der Schaufenster. Hier warteten noch ein paar andere, wohl auf Frau, Freund, Vater, Schwester. Ihm war einsam, so mit ihnen in einer Reihe, aber er dachte in diesem Moment nicht an Carla und Wiktor und schon gar nicht an Britta und Matti, sondern an seinen Chef Kutzmutz, hatte der nicht erst vor ein paar Tagen erzählt, er habe in den 60er Jahren auf seinen Dienstreisen die Zeit zwischen zwei Terminen im KaDeWe totzuschlagen versucht und sei sich dabei ganz erbärmlich vorgekommen, ohne das entsprechende Geld? Und darum ging Erik jetzt nicht in das KaDeWe hinein: weil er auch keine Westmark besaß, und außerdem, weil er im Gegensatz zu Kutzmutz nicht wußte, ob er jemals wieder in dieses Berlin würde herübergelassen werden, und weil er deshalb lieber noch herumstreunen wollte im Freien in der Stadt.

Etliche Seitenstraßen hinauf und hinunter, und auf den Kudamm zurück, wo die Geschäfte nun schon geschlossen hatten. Aber es war nicht dunkler geworden in ihnen drin und um sie herum. Das kannte er gar nicht, daß die Läden ihr Licht die Nacht über anließen. Daß sie es über Stunden so verschwendeten. Er war jetzt endlich in der Verfassung, halbwegs in Ruhe in die Schaufenster zu sehen, er betrachtete die Schuhe, Handtaschen, Uhren, aber sie erregten ihn nicht, sie funkelten zu sehr und daher zu fremd, und so erschreckten ihn auch nicht die hohen Preise, verrückte Zahlen waren das, die nichts mit ihm zu tun hatten. Irgendwann verlor er die Lust am Schlendern und Schauen. Er erwog, sich langsam wieder auf den Weg in Richtung Osten zu machen, wie spät war es eigentlich? Kurz nach zehn. Aber das geht ja wohl nicht, sagte er sich gleich darauf, die letzten anderthalb Stunden, die dir hier gestattet sind, aus einer blöden Stimmung heraus einfach zu verschenken, du wirst die Zeit bis zum Ende nutzen, bis zur letzten Minute. Irgendwann bemerkte er, daß die Ampeln alle auf Gelb geschaltet waren, denn flache Autos, wahre Flitzer, rasten, ohne irgendwo haltzumachen, den Kudamm hoch und runter. Sie erinnerten ihn an seine Schulzeit in Gerberstedt. Manche Klassenkameraden hatten ein paar schnittige Matchbox besessen, die sie über die Bänke rollen ließen, und manche dieser Matchbox schnellten sogar von selber nach vorn, wenn man sie zuvor eine Lineallänge nach hinten geschoben hatte, das waren die tollsten gewesen.

Plötzlich, Erik befand sich auf Höhe einer Disco, vor der ein junger Mann auf- und abging, welcher Handzettel verteilte, roch er etwas Beißendes und Qualmiges. Obwohl es ihm nur allzu vertraut war, kam er in dieser Sekunde an diesem Ort nicht gleich darauf, worum es sich handelte. Dann erkannte er es: Ein Trabi, wahrhaft, und der Trabi hatte die Warnblinklichter an, um nicht zerdrückt zu werden von den Geschossen um ihn herum. Erik staunte, weil dem Ausgereisten, der ja wohl hinterm Lenkrad saß, erlaubt worden war, seine Pappe mitzunehmen, und weil der sie doch tatsächlich mitgenommen hatte. Der Junge mit den Zetteln schien genauso verblüfft. Halb fragend und halb belustigt lächelte er zu Erik hin. Erik ging weiter, aber da war seltsamerweise noch ein Trabi, und die vielen flachen schnellen gelben und roten Autos fühlten sich jetzt allem Anschein nach richtig gestört und begannen zu hupen und den seltsamen Fremdling zu bedrängen. Und aus der Disco und den umliegenden Restaurants kamen Leute, wegen dieses nicht enden wollenden elenden Lärms wohl – aber warum, warum zum Teufel hatten sie ihre Weingläser in der Hand und ganze Sektflaschen sogar? Und warum drängten immer neue Leute nach, mit noch verschlossenen Pullen, die sie wie wild schüttelten, bis die Korken flogen und die Leute, die samt und sonders verrückt gewordenen, sich den sprudelnden Schaum in den Rachen, aufs Kinn und weiter bis untern Kragen fließen ließen, igitt, bei der Kälte.

»Die Mauer ist auf! Die haben die Mauer aufgemacht!« schrie ihm, extra ihm jemand zu, wegen seines verständnislosen Gesichts offenbar.

Er fühlte nicht gleich etwas. Er war, tu was dagegen, noch bei dem Sekt und der Kälte. Auf der Straße aber brach der Verkehr zusammen. Direkt vor ihm kam ein grüner Wartburg zum Stehen, mit einem Mann drin, der – der doch nicht etwa einen Pyjama trug? Einen Pyjama, es wurde klar und deutlich, als der Mann das Fenster auf der Beifahrerseite herunterkurbelte und seinen Arm ausstreckte, nach einer Flasche, oder einfach so. »Ej bist du echt?« rief jemand, der zu ihm hinsprang, »ej sag mal bist du wirklich echt?« Und er riß die Tür auf und packte den Pyjamamann mit beiden Händen unter den Achseln und zog ihn ins Freie, wo der Ankömmling beklopft und beklatscht wurde und man ihm so viele Flaschen hinhielt, wie er gern Hände und Münder gehabt hätte, immer zwei Flaschen griff der sich und setzte sie nacheinander an, und immer rief er zwischendurch: »Ich faß es nich, ich faß es nich!«

Erik hatte das ohne allzu starke Regungen verfolgt, darum, ja sicherlich darum drängte sich eine vielleicht Vierzigjährige, die heftig, aber offenbar gar nicht freudvoll weinte, an ihn und schluchzte, »die Frau kommt rüber von meinem … von meinem … alles ist aus, wo die Frau die der noch hat jetzt garantiert … rüberkommt«.

Es fiel ihm schwer, auf der Stelle zu begreifen, was für eine Geschichte hier verborgen sein mochte, die Jammernde aber schob sich nach Sekunden, in denen er weder mit irgendwelchen Worten noch mit seinem Körper reagiert hatte, von ihm weg und schaute sich mit flackerndem Blick um, als suche sie das nächste Opfer.

Und er blieb auch stumm in den folgenden Minuten, als die ersten Ostler zu Fuß auf den Kudamm gelangten und sich mit den Westlern verquirlten. Wie durch eine gläserne Wand vom Geschehen getrennt, beobachtete er alles.

Da war ein Mann, ein blonder bezopfter, der eine fledrigge grüne Pappe schwenkte, mit dem Zeigefinger fortwährend darauf tippte und auch immerzu ungläubig lachte: »Mit dem Anglerausweis bin ich durch die Kontrolle, mit dem Anglerausweis!«

Und da war eine aufrecht gehende, feingliedrige alte Frau, die sich eine rote Rose in ihren grauen Dutt gesteckt hatte, mit der Blüte nach vorn, die Rose saß ihr auf dem Kopf wie einem Bergmann die Grubenlampe, so ging sie langsam durch die Menge, so teilte sie die.

Und da war ein Kreis von Menschen, die rhythmisch klatschten und »Gorbi, Gorbi« riefen, immer zur Mitte hin, wo ein Mann in russischer Seidenbluse und Kosakenhose mit einem Braunbären tanzte, mit einem ausgewachsenen Braunbären, war das vielleicht der Große Leonelli? aber der befand sich doch in seinem Winterquartier oben im Norden, ging ja gar nicht, daß der plötzlich hier herumtanzte.

Und ein ganz und gar unauffälliger Herr war da, der erzählte den Umstehenden, daß er als allererstes hin zum Checkpoint Charlie sei, nachsehen, ob sein altes Kino noch stünde, er fing an zu weinen mitten im Satz, und eine Frau aus der Menge fragte leise, »steht nicht mehr?« da weinte er erst recht und schniefte, »steht noch, der Schuppen, doch«.

Und hier, ein Typ in Wollsocken und Jesuslatschen deklamierte, »ich nenne Revolution die Reinigung aller Seelen, die Verwandlung aller Herzen und die Erhebung aller Hände im Namen der Ehre des Menschen«, und dort, ein akkurat Gescheitelter erklärte in ähnlichem Ton, »Freunde, erstmals die Luft der Freiheit zu atmen, darin liegt eine unvergleichliche und unbeschreibliche Würde«; und Erik, der in den letzten Minuten einiges darangesetzt hatte, sich wie all die anderen zu freuen, verzog unwillkürlich das Gesicht.

Nein, er würde das passende Gefühl nicht mehr hinbekommen, er kriegte ja in dem Überschwang, der ihn von überallher anbrandete, eine richtige Abwehrhaltung, er mußte jetzt hier schleunigst weg.

*

Als er wieder daheim angelangt war, hatte er Carla in tiefstem Schlaf vorgefunden. Flüsternd, und sie nur leicht an der Schulter berührend, hatte er versucht, sie zu wecken, aber vergeblich. Und das war ihm in Wahrheit nicht unrecht gewesen, so mißmutig und erschöpft, wie er sich gefühlt hatte; er würde selber erst einmal ein paar Stunden schlafen, und am Morgen würde er ihr in Ruhe und hoffentlich in besserer Verfassung alles erzählen.

Aber jetzt war es acht Uhr, und er saß allein am Frühstückstisch. Er hatte Carla weder gesprochen noch gesehen, nicht einmal gehört hatte er sie. Und kein Mucks auch von Wiktor. Die beiden mußten extra leise gemacht haben, um ihn nicht zu wecken. Wahrscheinlich hatte Carla darauf verzichtet, das Radio anzustellen, und das bedeutete, sie war zu ihrem just in dieser Minute beginnenden Dienst bei der »Hauptstadtzeitung« gefahren, ohne auch nur einen Schimmer vom Mauerfall zu haben. Nein, falsch, korrigierte Erik sich selber. Als sie Wiktor im Kindergarten abgegeben hat, vor einer halben Stunde wird das gewesen sein, muß es ihr jemand erzählt haben, mit Sicherheit redeten alle davon und von nichts anderem …

Er zog sich seinen Mantel über, um auf Arbeit zu fahren. Sie begann eigentlich um acht, doch galt im Hause das ungeschriebene Gesetz, daß Dienstreisende, die bis tief in die Nacht unterwegs gewesen waren, erst zwischen neun und zehn beginnen mußten. Außerdem, vermutete Erik, sind heute sowieso sämtliche Regeln außer Kraft, niemand wird sich darum scheren, wann ich erscheine.

Er schneite, ohne eine Entschuldigung für nötig zu halten, in die Beratung der Messeabteilung, aber zu seiner Überraschung sah Kutzmutz, der gerade etwas vortrug, ihn mißbilligend an und sagte giftig: »Haben wir ausgeschlafen, ja?«

Kutzmutz setzte seine Rede fort, es ging um ein paar Neuerungen bei der Standbetreuung, wie sich Erik bald erschloß. Die anderen machten sich mehr oder minder eifrig Notizen, und als der Chef fertig war mit seinen Ausführungen, stellten sie auf konzentrierte Weise die eine oder andere Nachfrage, alles wie immer. Und wie immer erhoben sie sich am Ende, schoben ihre Stühle nah an den langen Versammlungstisch und gingen in ihre Büros, jeder in seines. Erik registrierte es mit Befremden. Hatten sie vielleicht beim Eintreten über die Weltveränderung geredet, die sich vor ihrer Nase gerade ereignet hatte, war das vielleicht sogar ein wildes Durcheinanderplappern gewesen? Aber dann hätten sie ihr Plappern jetzt gleich fortgesetzt, und vor allem hätten sie ihn ja wohl begierig gefragt, wie er, mittenmang, alles erlebt habe – nein, Erik war sich, während auch er in sein Zimmer stapfte, beinahe sicher, daß nichts dergleichen geschehen war.

In dem stillen und noch halbdunklen Raum angelangt, mußte er daran denken, wie er vorhin, vorhin war das doch erst gewesen, im neonlampenhellen Gewühle des Grenzübergangs Friedrichstraße nach einem Offizier gesucht hatte, nach irgendjemandem, der ihm seinen Dienstpaß stempeln würde. Im Einreiseschalter, in dieser kleinen Trutzburg, hatte niemand mehr gesessen. Er hatte einfach daran vorbeigehen können, in Stirnhöhe eine verwaiste Stuhllehne, was war nur los, daß man plötzlich jede Kontrolle aufgegeben hatte, worauf fußte denn dieses Erlöschen sämtlicher Systeme, und was sollte er jetzt tun? Er hatte am Morgen einen Stempel gekriegt, mit dem er rübergedurft hatte, und nun mußte er doch wieder einen kriegen, zur Beglaubigung seiner Rückkehr. Er spürte schon, alles war anders geworden, und trotzdem, er wollte einen ordnungsgemäßen Abschluß seiner Reise, seiner Diensreise, um die es sich ja wohl immer noch handelte, er wollte es schon allein, damit in der »Weltwerbung« bei Abgabe und Kontrolle seines Passes ihm niemand etwas vorwerfen konnte; er wandte sich an einen der Offiziere, die verzweifelt versuchten, den Menschenstrom in die Gegenrichtung, in die Hauptrichtung, in die einzige Richtung zu kanalisieren, Entschuldigung … hallo, Entschuldigung? Der Uniformierte drehte sich um. Erik blickte in ein gehetztes Gesicht, in flackernde Augen. Ob ich noch einen Stempel für zurück kriege? Er hielt seinen Dienstpaß hoch und machte mit der anderen Hand eine Stoßbewegung gegen den Paß. Da wandelte sich der Gesichtsausdruck. Verwunderung blitzte auf, und der Anflug eines Lächelns: Ein Lächeln des Wiedererkennens und zugleich des Abrückens war das, so ist der Mensch, zieht sich blitzschnell von einem andern zurück, obwohl der sich überhaupt nicht verändert hat, nur weil der sich nicht verändert hat, die Zeit gibt es ihm vor, die sich überschlagende Zeit. Fast geringschätzig schaute jetzt der Offizier. Erik solle durchgehen, einfach durchgehen, eine Kopfbewegung verdeutlichte es ihm zusätzlich. Und so kämpfte Erik sich zurück, mit der Körperflanke vorwärts drängend, mit Hintern und Brust gegen feste heiße Leiber drückend, die gar nicht wußten, was das sollte, die überhaupt nicht verstanden, warum einer sich sträubte, von ihnen umschlossen und mitgerissen zu werden.

Er spürte noch einmal jenes Gefühl ekligen Reibens und Stoßens, er wollte, daß es verschwand, er griff mit fahrigen Händen in seine Aktentasche, nahm die vollgeknipsten Orwo-Rollen heraus und machte sich auf zur Frau Stuttner ins Labor.

Als er eintrat, versuchte sie gerade, ein Plakat in eine schmale Papprolle zu stopfen. Sie schaute kurz hoch, stopfte ungeduldig weiter und erklärte, er möge »sein Zeugs« mal da auf den Tisch legen, bis wann er die entwickelten Filme brauche, nicht etwa noch heute?

Heute, antwortete Erik. Zum einen wollte er Kutzmutz nach dessen leiser Kritik nicht warten lassen, zum anderen ging ihm das Gehabe der Laborantin, die immer so tat, als ersticke sie unter Bergen von Arbeit, auf die Nerven. Zugleich beruhigte es ihn auch. Alles in der Tucholskystraße beruhigte ihn. Er fand zwar immer noch absurd, daß hier so getan wurde, als wäre draußen nichts passiert, aber dieses angestrengt Negierende, dieses schon penetrant Sachliche gab ihm auch ein Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit. Er kam sich nicht mehr so getrennt von allen vor, nicht so elendig ausgestoßen wie in der Nacht.

Ehe er sein Zimmer erreicht hatte, klingelte darin schon sein Telefon. Und das war Carla. Er rief, »Carla, was für ein Tag, nicht«, aber sie fragte nur, wo er gesteckt habe. Er überhörte den Vorwurf, erklärte es ihr und fügte vorsichtig lachend hinzu, auch er habe heute eben ein bißchen zu arbeiten. Carla allerdings lachte deswegen noch lange nicht. Sie sagte, er möge Wiktor bis 16 Uhr aus dem Kindergarten holen, es sei dort nämlich einzig und allein die Leiterin anwesend, alle anderen Erzieherinnen seien ausgeflogen, und auch Kinder seien kaum da, und auch die Leiterin wolle schnell weg – die alte Krähe. Sagte Carla mit leiser Verächtlichkeit. Sie fügte auf dieselbe Art hinzu, Wiktor werde um 16 Uhr schon mit Abstand der letzte sein, Erik solle sich also sputen, eine Schande, daß sie darum bitten müsse, wo doch eigentlich bis 18 Uhr geöffnet sei, aber sie habe die Befürchtung, Wiktor werde sonst ausgesetzt.

»Nanana, ausgesetzt«, brummte Erik.

»Ausgesetzt! Du weißt nicht, was heute nacht los war, du ahnst nicht, wozu die Menschen auf einmal imstande sind. Eltern haben ihre Babys allein gelassen, und das waren ihre eigenen – ihre eigenen Babys. Und das erzählen sie auch noch überall stolz herum.«

Erik wollte ihr entgegnen, sie seien bestimmt nur kurz mal rüber und dann wegen der Babys gleich wieder zurück, und überhaupt, die Menschen, Carla möge mal nicht dramatisieren. Aber wie immer, wenn sie derart kategorisch redete, schwieg er, denn von ihrer Meinung rückte sie ohnehin nicht ab, und das war keine Feigheit von ihm, sondern Zuneigung, wirklich, er liebte Carla, nur wenn sie manchmal so starr und steif wurde vor lauter grader Meinung in sich drin, war sie ihm fremd, und das sollte nicht sein, das wünschte er sich anders, deshalb schaute er weg, bis sie sich wieder entspannt hatte und er sie wieder richtig gern haben konnte.

Er versprach ihr, Wiktor möglichst schnell abzuholen. Dann telefonierte er mit dem Labor und erbat sich seine Fotos schon bis 15 Uhr, er erntete das übliche Stöhnen, ging aber auch hierauf nicht ein. Punkt 15 Uhr stand er vor Frau Stuttner. Mit einer Handbewegung deutete sie zu den fertigen Bildern, die auf einem filzbespannten Wägelchen lagen. Erik erblickte zwei Stöße: Links befand sich das Foto von den Motorrädern aus Zschopau zuoberst und rechts das von dem surfenden Männeken, also hatte sie sein Material nach Plakat- und nach Mauermotiven geordnet, da war er sich sicher, das brauchte er nicht extra zu prüfen. Er fühlte sich ertappt, ohne groß überrascht zu sein, er hätte gern vermieden, daß die Fotos mit den garstigen Sprüchen und den bunten Figuren hier überhaupt entwickelt wurden, nur hatte er gestern beim Entlanglaufen an der Grenze vor lauter Aufregung versäumt, seine Filme als dienstlich beziehungsweise privat zu kennzeichnen, deshalb war ihm heute nichts anderes übriggeblieben, als sämtliche Rollen abzugeben. Na und, war das jetzt vielleicht dramatisch? Er langte mit je einer Hand nach je einem Stoß, da sagte Frau Stuttner maliziös, er sei wahrlich nicht der erste, der drüben gewesen war, aber noch niemand habe anschließend solche Fotos hergebracht. Erik räusperte sich. Frau Stuttner sagte noch spitzer, wie er vielleicht wisse, gehöre es nicht zu ihren Aufgaben, »auch noch irgendwelche abseitigen Schnappschüsse« zu entwickeln. So, abseitig, erwiderte Erik, dann … dann wolle er ihr mal erklären, daß ihm das hier, er hob den Arm mit den Mauerbildern, zur Gegenüberstellung diene, zur Vergegenwärtigung bestimmter Kontraste, und während er es ausführte, wurde sein Ton viel entschiedener, was er gerade behauptete, stimmte es etwa nicht? Und siehe, Frau Stuttner drehte sich pikiert um den eigenen Absatz und entschwand wortlos in die Dunkelkammer.

Zur Vergegenwärtigung von Kontrasten, wiederholte er für sich auf dem Flur, Kinkerlitzchen, Kinkerlitzchen. Im Kopf spukte ihm auch schon die Kindergärtnerin als eine mit den Füßen Scharrende herum, so eilte er in sein Büro, ließ die Mauerbilder in der Tasche verschwinden und stürmte gleich weiter zu Kutzmutz, Klopfen und Eintreten waren beinahe eins. Kutzmutz, der seine Ellenbogen auf den Tisch gestützt, sein Gesicht mit den zehn Fingern umfaßt und seine Augen starr geradeaus gerichtet hatte, schreckte auf. Schnell legte er die Hände auf die Tischplatte. Wo er die Finger ineinanderverschränkte und das Knochengeflecht nach vorne streckte. Hier die Fotos, sagte Erik, soweit alles in Ordnung mit den Plakaten. Kutzmutz nickte. Er begann in dem Stoß zu blättern, warf die einzelnen Bilder aber eher beiseite, als daß er sie betrachtete, und hörte schon wieder auf mit dem Gewühle. Erik wartete auf eine Frage oder eine Bemerkung, doch nichts, stattdessen nickte Kutzmutz noch einmal. Gut, sagte Erik, da werde er mal wieder. Er wandte sich um und sah aus den Augenwinkeln heraus noch etwas Seltsames: Kutzmutz hob kumpelhaft die Hand, wenn auch nur einen Moment, dann nahm er sie wieder runter und schaute wie erstaunt auf sie herab.

Gegen vier war Erik im Kindergarten. Wiktor saß allein im Zimmer seiner Gruppe und malte, ohne sich stören zu lassen, unbeirrt zeigte er Erik, den er durchaus wahrgenommen haben mußte, seinen blonden Haarwirbel. Was das denn werde, fragte Erik. Der Fernsehturm, er sah es selber, und Wiktor hielt es auch für unnötig, es ihm extra zu erklären, und malte immer noch weiter. Feines Bild, lobte Erik, aber nun mal los, Wiktor könne ja zu Hause fertigzeichnen. Nein, hier, murmelte das Kind. Aber die Tante wolle weg – wo war sie eigentlich? Erik schaute sich um, da lehnte sie, am Türrahmen. Er rief ihr zu, sie wären gleich raus, doch sie erwiderte, keine Hektik, Wiktor solle ruhig zu Ende malen, er sei ja ein Maler vor dem Herrn. Richtig, sagte Erik, der male gern der Wiktor, aber sie beide wollten sie wirklich nicht unnötig aufhalten. Aufhalten? fragte die Leiterin. Er stotterte, daß er gedacht, daß seine Frau gesagt habe, sie wolle heute auch unbedingt früher Schluß … Ach, fiel sie ihm lachend ins Wort, sie würde sich wünschen, wenigstens heute hier mal früher abschließen zu können, das habe sie gesagt, und sie habe es, wie sie doch hoffe, in ironischem Ton gesagt, mit gespielter Verzweiflung.

Die Carla versteht nicht so gut Ironie, dachte Erik. Aber er sagte nichts, denn man sagte ja wohl in der Öffentlichkeit niemals was Schlechtes über die eigene Frau, schon gar nicht gegenüber einer anderen, das gehörte sich nicht.

Wiktor war nun aufgestanden. Stolz und stumm präsentierte er die fertige Fernsehturmzeichnung. Sie gingen nach Hause, und Erik packte seine Tasche aus, und Wiktor bestaunte die bunten Fotos, die zum Vorschein kamen, und fragte, was das sei. Auch Zeichnungen. Und von wem? Von Jungs und Mädchen. Aus dem Kindergarten? Von älteren, Wiktor, von älteren.

Da kriegte Wiktor einen ehrfürchtigen, aber auch tatendurstigen Blick, er schnappte sich die Fotos und tappelte in sein Zimmer. Wo er das zufällig oben liegende Bild, auf dem eine Katze war, aus deren Mund ein Baum wuchs, abzumalen versuchte. Am Ende hatte er ein wahres Ungeheuer geschaffen. Das er freilich steif und fest als Katze bezeichnete. Eine Katze? fragte Erik mit samtener Stimme. Er müsse doch sehen, daß es eine Katze sei, antwortete Wiktor vorwurfsvoll, der Baum sei bloß weiter gewachsen und habe sich mit seinen Zweigen um die Katze gelegt, hier, guck doch mal. Und nun meinte Erik es auch zu erkennen, und wie er ausstieß, ja wirklich, jetzt sehe er es, und dazu mit dem Finger auf dem Gebilde entlangfuhr, nickte Wiktor befriedigt.

Schließlich lag das Kind im Bett. Erik hatte den Fernseher eingeschaltet, in dem das Volk sich fortwährend vereinigte, alle schienen den ganzen Tag über in Bewegung gewesen zu sein, in besonderer Bewegung, während er eigentlich nur Banales getan hatte. Das störte ihn jetzt, während er so zur Weltgeschichte hinguckte und darauf wartete, daß Carla endlich aus der Redaktion heimkam, bis gegen zehn saß er herum, ohne daß sie erschienen wäre, dann forderte die vergangene Nacht ihren Tribut. Fast in Sekunden wurde er müd und müder, und als läge er vor einem Operationssaal und habe soeben die Narkose verabreicht bekommen, konnte er staunend verfolgen, wie er einschlief.

*

Plötzlich störte etwas Helles seinen Schlaf. Gerüttelt wurde an ihm auch. Er öffnete schwerfällig die Augen und erblickte nicht Carla, sondern ihren Kollegen, seinen Freund Weißfinger. Carla stand hinter Weißfinger.

»Will nur mal sehen, wie’s dir geht in diesen geschichtsträchtigen Stunden«, sagte Weißfinger, dabei guckte er auf seine typische fesche Art, so daß man nicht auseinanderhalten konnte, ob er es nun ernst oder spaßig meinte.

Erik rappelte sich im Sessel hoch.

»Er war in solcher Hektik seit gestern, daß er sowieso nicht gleich einschlafen könnte, deswegen habe ich ihn mit hergebracht«, erklärte Carla. Sie gab Erik einen Kuß und ging in die Küche, und Weißfinger ließ sich vis-à-vis von ihm in den Sessel fallen und winkte ab: »Alles halb so schlimm.«

»Halb so schlimm, tu mal nicht so, du warst bestimmt die ganze Nacht unterwegs.«

Weißfinger neigte vielsagend seinen Kopf.

»Und was hast du alles erlebt?«

Weißfinger schwieg, denn Carla kam schon wieder, mit Bier für die Männer und Wein für sich. Sie stellte alles auf dem Couchtisch ab, dessen Platte mit blauen Fliesen Delfter Art bestückt war, wobei es zwei sich beständig abwechselnde Motive gab, ein Segelschiff und eine Windmühle.

Die drei prosteten sich zu. Weil aber Weißfinger, nach einem langen Schluck aus der Flasche, weiter schwieg, wiederholte Erik, er solle nun mal erzählen. Und das war nicht, wie sonst manchmal, nur Höflichkeit, sondern reine Neugier – was er selber einigermaßen seltsam fand. Hatte er sich in der Nacht, der außergewöhnlichen, nicht völlig überstürzt davongemacht, war er nicht schon gegen eins wieder am Grenzübergang gewesen? Und warum wollte er sich dann jetzt nochmal in sie hineinbegeben? Er glaubte, nachholen zu müssen, er meinte, etwas verpaßt zu haben; erst hält’s der Mensch nicht mehr aus an einem bestimmten Ort oder bei einem bestimmten anderen Menschen, und dann setzt er alle Hebel in Bewegung, noch was über den, oder über den, zu erfahren.

Erneut winkte Weißfinger ab. »Hast du längst alles im Fernsehen geguckt, muß ich nicht wiederholen.«

»Wenn du solch einen Streß hattest, ist garantiert eine Menge passiert«, insistierte Erik, wobei nun schon etwas Ungeduld, und sogar Unwillen, herauszuhören war.

Da ließ Weißfinger sich endlich herbei zu erzählen. »Stimmt schon, hombre, ich habe unglaubliche Erlebnisse gehabt, oder sagen wir so: Ich habe den unglaublichsten Geschehnissen beigewohnt. Herzergreifende Sachen darunter, herzergreifende Sachen. Zum Beispiel habe ich beobachtet, wie eine alte Frau im Rollstuhl sich durchs Brandenburger Tor hat schieben lassen, nur einmal durch und wieder zurück. Und denk mal, von wem? Von einem Grenzposten. Sie hat den gefragt, und der hat das ohne zu zucken gemacht. Richtiggehend erhaben sah das aus – vor allem er. Eigentlich nur er. Sie saß ja bloß und guckte. Aber er ist äußerst langsam und bedeutungsvoll geschritten. Als wäre es das Wichtigste, was er je in seinem Leben getan hat, die Frau jetzt dort durchzuschieben. Und es war auch das Wichtigste, zumindest in dem Moment, das hat er mir gesagt. Ich habe ja beide interviewt. Wortwörtlich hat er mir erklärt: ›Der Wunsch der Frau ist auf mich übergegangen. Ich habe mich umso mehr mit ihm und mit ihr identifiziert, je weiter ich sie geschoben habe. Am Ende habe ich meine Schritte nicht mehr gespürt, obwohl mir ganz schwer gewesen ist, aber angenehm schwer.‹ Irre, was? Ich gebe euch das wieder, und es kommt mir so übersinnlich vor. Schrecklich pathetisch auch. Aber vor ein paar Stunden, in der Situation selber, erschien es mir völlig normal. Irgendwie mußte es so sein. Und das war noch nicht einmal die verrückteste Szene, wollt ihr das Verrückteste hören? Ein Pärchen, und ich wiederhole vorsichtshalber, ich habe alles mit eigenen Augen gesehen, hat direkt unterm Brandenburger Tor kopuliert. Also gebumst haben die. Anstandslos. An einer der Säulen. Die waren nicht mal so jung, die waren schon bißchen älter. Der Mann hat der Frau unter die Schenkel gefaßt und hat sie gegen die Säule gestoßen, und sie hat mit ihren dunklen Stiefeln ein Kreuz auf seinem nackten weißen Arsch gebildet, ein wippendes Kreuz, ich sage euch, das konnte man in allen Einzelheiten gar nicht in der Zeitung schreiben, was da passiert ist …«

»Also wird es morgen nicht zu lesen sein?« unterbrach Erik ihn.

Weißfinger, der noch einmal durch die wundersame Nacht gedriftet war, stutzte und lachte dann auf: »Du kannst es lesen. Es gibt schon Möglichkeiten der Darstellung. Was diese Sexszene betrifft, da mußte ich doch nicht ins Detail gehen, da mußte ich nur herausarbeiten, daß mit der Paarung eine Eroberung von Territorium verbunden war, die Eroberung des Brandenburger Tores. Sex ist ja immer auch Einverleibung des Ortes, an dem er stattfindet, schonmal überlegt? Bloß daß sie sich sonst immer nebenbei vollzieht und jetzt eben die Hauptsache war, die größte oder sogar einzige Stimulanz. Aber lassen wir das, hombre. Erzähle mir endlich, was du erlebt hast. Wenn man so will, hast du ja gestern die Vorhut des Volkes gebildet, nicht. Im Grunde bist du vor allen anderen drüben gewesen.«

»Ich war vor ihnen drüben, aber die Vorhut war ich deswegen wohl nicht«, sagte Erik finster.

Weißfinger nickte. »Das finde ich, ehrlich gesagt, am Allerspannendsten, diese Diskrepanz – entschuldige, wenn ich so rede wie ein Interviewer, ich bin einfach noch im beruflichen Rhythmus. Kaum sagt jemand was, oder kaum sehe ich was, beginnt das dumme Hirn zu rattern.«

»Dann höre auf, Fragen zu stellen, sondern laß Erik von selber reden«, sagte Carla, in deren Hirn sich offenbar viel weniger journalistischer Kram angesammelt hatte.

»In Ordnung«, nickte Weißfinger. Er schaute brav zu Erik, und Carla tat das auch.

Aber Erik fiel nichts ein, womit er anfangen konnte. Nach Weißfingers sensationellen Episoden erschien ihm die Stimmung, in der er gewesen war, nur umso miesepetriger … außer … außer vielleicht, als das Männeken Piß sich ihm vorgestellt beziehungsweise sich vor ihn gestellt hatte, ja, das war recht lustig gewesen. Kurzerhand erzählte er von dem, sogar seine abgehackte Sprechweise versuchte er nachzuahmen, und weil er aber selber merkte, daß es ihm mißlang, gab er seine Bemühungen bald auf und wedelte der Zunge demonstrativ Luft zu. Worauf alle, er eingeschlossen, herzhaft lachten.

Und wie weiter? Er spürte, daß er nicht halbwegs präzise auszudrücken vermochte, was dort im Westen mit ihm passiert war, daher schaute er wie entschuldigend.

»Vielleicht sind deine Eindrücke noch zu frisch«, sagte Carla, »dann mußt du dich jetzt gar nicht abmühen.« Sie nahm einen Schluck Wein, stellte ihr Glas einigermaßen hart wieder ab und ließ sich zurück in die Sessellehne fallen, so daß deutlich wurde, sie hielt ihr Wort für das letzte in dieser Angelegenheit.

»Natürlich, worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen«, bestätigte Weißfinger lächelnd. Dann aber erklärte er: »Man muß nur sehen, ob man auf grundsätzliche und sozusagen philosophische Weise nicht kann, oder ob man gerade nur eine kleine Sperre in sich hat oder ob es vielleicht noch weniger ist – eine temporäre Scheu, um’s mal so zu nennen.« Verständnisvoll und aufmunternd blickte er Erik an.

»Temporäre Scheu«, wiederholte Carla, in einem Ton, der offenbarte, wie wenig sie von Weißfingers Gerede hielt.

Erik indes nickte, mehr für sich als zu den anderen hin, er räusperte sich, sagte aber nichts.

Da ließ auch Weißfinger ein Räuspern vernehmen. »Weißt du was? Ich werde jetzt einfach ein Interview mit dir führen. Vergiß das Wort, das so offiziell klingt, und vergiß die Interviews, die du kennst, diese gestanzten Frage-Antwort-Sachen. Für mich bedeutet Interview nichts weiter, als dem Partner Anstöße zu geben und sozusagen eine Plauderei in Gang zu bringen. Wie würde ich in deinem Fall anfangen, laß mich überlegen …«