Über das Buch

Als Jackie vierzehn ist, leben ihre Eltern schon getrennt. Eines Tages landet der Vater mit zu viel Alkohol und Tabletten in der Heilanstalt. Damit er nicht so allein ist, besucht Jackie ihn fast täglich. In Beckomberga, Schloss und Gefängnis zugleich, ist sie vorübergehend wie zu Hause. Auch den ersten Mann ihres Lebens, Paul, lernt sie hier kennen. Warum zerbricht eine Familie? Warum gibt es für manche Leiden keine Heilung? Als Jackie viele Jahre später ihren eigenen Sohn Marion ohne Vater aufzieht, weiß sie, was wichtig für ihn ist. Ein großes Herz kann einen Menschen retten, das hat sie in Beckomberga erlebt. Mit ihrer feinen, melodischen Sprache erzählt Sara Stridsberg in diesem Roman von den Abgründen der Seele und dem hellen Licht der Liebe.

Sara Stridsberg

Das Große Herz

Roman

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Carl Hanser Verlag

Ein weißer Seevogel schwebt einsam durch die Klinikgänge im Männerflügel von Beckomberga. Er ist groß und leuchtet von innen heraus, und in meinem Traum laufe ich ihm nach, um ihn zu fangen, doch bevor ich ihn einholen kann, fliegt er durch eine zerbrochene Scheibe und verschwindet in der Nacht.

Der letzte Patient (Olof)

An einem Sendemast nahe dem Bahnhof von Spånga, Spätwinter 1995. Eine öde, erstarrte Winterlandschaft breitet sich vor ihm aus, als er im eisigen Wind den Mast hinaufklettert. Sein Körper ist alt und zerbrechlich, doch innerlich fühlt er sich jung und voller Kraft. Er hat seinen Blick fest auf die Hände gerichtet, damit ihm nicht schwindelig wird, und die Nacht, die ihn umgibt, ist klar, durch die nadelstichgroßen Löcher der Sterne dringt das Licht einer anderen Welt, ein helles Leuchten hinter dem Schwarz, ein Versprechen von etwas anderem, das für ihn glänzen und über ihn wachen könnte anstelle dieses nassen, kalten Dunkels, das ihn stets eingehüllt hat: eine graue Sonne, ein grauer, körniger Schein. Am Horizont ein schwaches Schimmern, ein schmaler, atmosphärischer Rand in Rosa und Gold, und einige Kilometer entfernt steht sein Bett in einem Schlafsaal in Beckomberga und wartet auf ihn, leer und frisch bezogen, neben anderen Betten, unter deren Laken einmal die Umrisse von sanften, schlafenden, schutzbedürftigen Körpern lagen. Jetzt sind alle fort.

Lange steht er auf der höchsten Plattform und blickt über die erloschene Stadt und die vereinzelten weißen Lichter der Nacht. Dann zieht er die Jacke und den dicken Pullover aus, nimmt die schwarze Klinikmütze und seine Brille ab und legt alles in einem ordentlichen kleinen Stapel neben sich. Unter ihm breitet sich die Welt aus, eine Decke aus Häusern, Straßen und Menschen, ein pulsierendes Atmen, aber für ihn gibt es hier keine Zukunft, hat es nie eine gegeben, er ist immer allein durchs Leben gegangen, die Krankheit wie ein Mal auf der Haut, sichtbar für alle außer ihn selbst. Wenn er sich einem Mädchen genähert hat, ist es zurückgewichen, und wenn er jemandem die Hand entgegengestreckt hat, ist es als Feindseligkeit aufgefasst worden, und man hat ihn in die Klinik zurückgeschickt. Ein unsichtbares Gitter trennt ihn von der Welt, mit stummen Gesichtern hat man sich von ihm abgewandt, und das hat seine Furcht vor den Menschen verstärkt, er ist ihnen zunehmend fern geblieben, zunehmend für sich. Niemand auf der Welt wird ihn und seine unbeholfene Grauheit vermissen, er hat nichts Besonderes an sich, das ihn an jemand Besonderes binden könnte, er ist nie mit jemandem nackt gewesen, hat nie jemanden berührt, es ist, als hätte er sich unter einer Haube aus Dunkelheit bewegt, keine Schulden, keine Bande zu Menschen, nur diese unsichtbaren Ketten, dieses Gitter, das ihn zurückhalt und einsam macht.

Und als die Krankenschwester durch die leeren Schlafsäle geht und das Licht in der letzten Abteilung des Männerflügels einschaltet, stürzt er sich in die Nacht, und sein einziger Wunsch ist, dass ihn endlich etwas tragen möge, eine Hand oder ein Wind, dass ihn etwas in dieser Welt halten möge, doch er ist nur ein taumelndes Bündel, das sich mehrmals in der Luft dreht, über den Rand der Welt hinwegwirbelnd, ehe es auf dem Boden aufschlägt und zerschmettert wird.

In den letzten Monaten in Beckomberga hat er die Erlaubnis bekommen, allein hinauszugehen, aber er nutzt diesen Ausgang nie, stattdessen sitzt er tagelang am Fenster und betrachtet den Baum davor, kein einziges Mal geht er zusammen mit den anderen in den Hof. Er hört auf, den Globus einzuschalten, der seit vielen Jahren neben seinem Bett steht, und am Tag vor seiner Entlassung, nach dem Abschlussgespräch mit Doktor Janowski, steht er mit seiner Mütze und einer Jacke über dem Pyjama vor dem Zimmer der Abteilungsschwester und teilt ihr mit, er werde einige Stunden fort sein, er behauptet, er wolle Blumen pflücken gehen. Im Februar. Er verschwindet, und am Abend kehrt er nicht zurück, auch nicht am nächsten Tag. Einige Tage später wird seine Leiche unter dem Sendemast gefunden, eine Frau, die ihren Hund ausführt, entdeckt ihn, wie er ausgestreckt in seinem gestreiften Pyjama im gelben Vorjahresgras liegt, mit zertrümmertem Schädel, von Rauhreif überzogen.

Eins

Das erste Gespräch

Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Edvard Winterson gestorben ist«, sagt Jim, als er in dem kleinen Lichtkegel meiner Leselampe in der Jungfrugatan sitzt und einen Zeitungsausschnitt befingert, es ist eine Todesanzeige. »Der Oberarzt in meiner Abteilung in Beckomberga. Erinnerst du dich an ihn, Jackie?«

Während wir reden, werden draußen am Himmel nach und nach die Sterne entzündet, ein Band aus hellen Perlen über dem tiefen Blau, das gedämpfte, schwindelerregende Licht der Abendsterne, und natürlich erinnere ich mich an Edvard, er stand immer neben dem Eingang des Männerflügels und rauchte in der Dämmerung; ein einsamer Rauchring im grauen Licht, sein breites Lächeln, wenn er Jim erblickte, und mir fällt ein, wie ich einmal auf seinem Rücksitz mit dem sonnengebleichten Bezug eindöste, als er mich von der Klinik nach Hause fuhr.

Im Schein der Lampe erzählt mir Jim, wie er mit Edvard Winterson in dessen silberfarbenen Mercedes zu nächtlichen Partys in Östermalm gefahren ist, als er Patient in Beckomberga war. Bei Sonnenuntergang wurde er in der Abteilung abgeholt, und dann fuhren sie die Lindenallee entlang und weiter in die verglimmende Stadt, die einmal sein Leben gewesen war. Edvard Winterson hatte Zivilkleidung für ihn dabei, ein sauberes Hemd, Jeans und ein Jackett, die in einem ordentlichen kleinen Stapel auf dem Dach des Wagens bereitlagen, und schon während sie durch die Kliniktore hinausfuhren, hielt Jim eine Zigarette und einen Drink in der Hand.

»Edvard war ein großartiger Mann«, sagt Jim und lacht, »und vollkommen wahnsinnig – auch er. Wir hatten uns in dieselbe Frau verliebt. Sabina. Erinnerst du dich an sie? Sie war ungebärdig, und weil Edvard nur ein reicher Junge aus Östermalm war, wusste er nicht mit ihr umzugehen.«

Ein paar einsame, nachzüglerische Wolken treiben über die zerlaufene Tusche des Himmels an jenem ersten Winternachmittag, als Jim zu mir kommt und von Beckomberga erzählt. Er ist eine Weile in Stockholm zu Besuch, in ein paar Tagen fährt er zurück nach Cariño, in das Haus am Atlantik. Beim letzten roten Pulsieren der Sonne und der Rauchringe, die aus seinem Mund schweben, muss ich an den Nebel zurückdenken, der über dem Klinikgelände lag, als Lone und ich ihn zum ersten Mal dort besuchten, an den Schneerauch, der damals zwischen den Häusern hing.

Um uns herum war alles gefroren, als wir die schmalen, asphaltierten Wege entlanggingen und versuchten, die Schilder zu entziffern. Die Bäume sahen aus, als hätte jemand die Rinde von ihren nassen Stämmen geschält, und ich kann noch immer das Kreischen der Elstern hören, das in dem kasernenartigen Hof zwischen den Gebäuden widerhallte, als wir auf den Männerflügel zueilten. Lone in leuchtendrotem Mantel und Stiefeln, leicht nach vorn gebeugt, den Kragen ihres Mantels umklammernd, als würde sie sich gegen einen Sturm stemmen. Jims blasses Gesicht war ohne Lächeln, sein Blick erloschen, und als er sich eine Zigarette anstecken wollte, zitterten seine Hände so sehr, dass er sie wieder beiseitelegen musste. Lone, die eigentlich mit dem Rauchen aufgehört hatte, griff nach dem Päckchen, zündete eine für ihn an und eine für sich und nahm ein paar hastige Züge, ehe sie die Zigarette unter ihrem Stiefelabsatz zertrat.

Jim: Ich habe es schon so viele Male versucht, aber es war mir nie besonders ernst. Wie oft habe ich mit dem Kopf in Lones Gasofen gelegen, wenn sie von der Arbeit kam. Einen Strauß Rosen auf den Küchentisch, das Gas aufgedreht. Es war ein Experiment gewesen. Aber diesmal war es wie ein freier Fall. Ich fiel, und ich fiel immer weiter.

Jims Freunde in der Klinik nannten ihn Jimmie Darling, und nach einer Weile begann auch ich, ihn Jimmie Darling zu nennen, wenn wir gemeinsam mit den anderen Patienten auf dem kleinen, von jungen Birken bewachsenen Hang saßen. Die Schwaden, die von den Zigaretten zum Himmel aufstiegen, waren Rauchzeichen an jene, die sich auf der anderen Seite des Zauns befanden, ein Gruß von uns an die Welt da draußen. Ich sammelte Zigarettenstummel, die ich Jim und Sabina schenkte und später auch Paul.

»Jimmie Darling?«

»Ja.«

»Wirst du wieder gesund werden?«

»Ich weiß es nicht, Jackie.«

»Willst du nicht gesund werden?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich will, ich weiß nicht mehr, was das bedeutet. Gesund zu sein. Und ich fühle mich hier zu Hause, mehr als an irgendeinem anderen Ort. Die Menschen hier haben nichts, und das habe ich hier gelernt – dass es keine Rolle spielt, was man besitzt und wo man lebt. Es sind ja doch alle gleich, und es gibt keine Möglichkeit, sich zu schützen.«

»Wovor denn schützen?«

»Ich weiß nicht. Vor der Einsamkeit … vor dem inneren Abgrund.«

»Also kommst du nicht zurück?«

»Ich weiß es noch nicht, Jackie. Warte nicht auf mich.«

Sabina liegt auf dem Bauch im schwarzen Gras vor der Kapelle und hat ein Buch vor sich aufgeschlagen.

»Das Einzige, worum ich bitte, ist Freiheit«, sagt sie und sieht zu mir auf, und ihre Pupillen weiten sich trotz des grellen Sonnenscheins, bis ihre Augen nur noch schwarze Tusche und Schmerz sind. »Und wenn mir die Freiheit wie immer verweigert wird, nehme ich sie mir trotzdem.«

Ich werde ihre Augen nie vergessen, wie sich ihre Pupillen im grellen Licht unter den Bäumen von Beckomberga weiteten und wieder zusammenzogen. Groß, dunkel und unbeweglich in ihrem Gesicht, starr von Medikamenten und Alkohol. Lange war sie mein Bild von Zukunft, jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Eines Abends, als ich in der Abteilung 6 am Fenster stehe, sehe ich, wie sie den Hang bei den Birken hinter dem Männerflügel hinabrennt, dicht gefolgt von Edvard. Bei der großen Eiche bekommt er sie zu fassen und zieht sie ins Gras, er reißt ihr die Halskette ab, und die Perlen fliegen durch die Luft wie Wasserkaskaden, wie blaue Regentropfen.

Noch Monate später finde ich blaue Perlen im Gras unter der Eiche. Korn, Indigo, Azur, Himmel, und mit der Zeit werden sie immer matter, von manchen Perlen hat der Regen die Farbe ganz abgewaschen, sie sind elfenbeinweiß, farblos. Erst habe ich vor, sie zurückzugeben, aber dann ist niemand mehr da, dem ich sie geben könnte.

Jim gleicht einem alten Jungen, wie er da sitzt, die langen, knochigen Beine nachlässig ausgestreckt, der Oberkörper derart zusammengesunken, dass der Sessel riesig wirkt. Er gehört zu den wenigen Dingen aus dem Nachlass von Vita und Henrik, die noch übrig sind, alles andere ist verschwunden, vor langer Zeit verkauft worden, als Jim Geld brauchte. Auf den Fotos werden die beiden immer jünger, im gleichen Takt, wie wir altern. Vita war knapp unter vierzig, als sie ging, ein bisschen jünger, als ich es jetzt bin, und auf den alten, schwarz-weißen Hochzeitsfotos strahlt das Licht in ihren Augen weiter.

Wahrscheinlich hätte nie jemand geglaubt, dass Jim einmal alt werden würde. Er hat immer außerhalb der Zeit gestanden und nach seinen eigenen Regeln gelebt wie ein großes, gefährliches, wildes Kind, und er hat den Tod immer zu sehr geliebt, als dass man sich einen gealterten Jim hätte vorstellen können. Manchmal denke ich, ihm fehlt es an einer Vorstellung vom Leben nach der Jugend, vom Altern, er hat immer getan, wozu er Lust hatte, ist allen Ideen und Instinkten gefolgt, hat gelogen, betrogen, getrunken, verlassen, und ich glaube nicht, dass er jemals jemanden geliebt hat. Nicht mich, nicht meine Halbbrüder, vielleicht nicht einmal Lone.

»Komm schon, Jackie, ich werde auf keinen Fall alt«, sagt er und hat vergessen, dass er nächstes Jahr siebzig wird, »dafür war mein Leben zu hart. Und das, obwohl ich überhaupt nie leben wollte. Nicht richtig. Nicht so wie du.«

Er hat wieder einmal beschlossen zu sterben, das teilt er mir unumwunden mit, kaum dass er zur Wohnungstür in der Jungfrugatan hereingekommen ist. »Ich will nicht alt werden, Jackie. Es gibt nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt.« Er ist nach Stockholm gekommen, um von mir und Marion Abschied zu nehmen. In ein paar Monaten plant er, aus der kleinen Bucht im Norden Spaniens ins Meer hinauszuschwimmen. Er hat eine Schachtel Schlaftabletten der Marke Imovane aufgehoben und um meinen Segen gebeten, und ich habe ihm meinen Segen gegeben, weil ich ihm meistens gebe, worum er mich bittet. In seiner Gegenwart verstumme ich immer, es ist, als würden alle Gedanken in mir vernichtet.

»Mach, was du willst, Jim«, sage ich schnell, »das hast du immer schon getan.«

Jim pflegte mir Briefe zu schreiben, nachdem er von Lone und mir weg und in das kleine Zimmer in der Observatoriegatan gezogen war, noch bevor er nach Beckomberga kam.

»Bitte, Jackie, du musst mir helfen. Komm doch wenigstens nach der Schule kurz hier vorbei, Jackie. Du bist die Einzige, die mich jetzt retten kann. Kannst du nicht zu mir kommen? Es ist so einsam hier.«

Ich habe seine Briefe nie beantwortet, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte, und weil ich immer das Gefühl hatte, Jim nicht retten zu können, selbst wenn ich es wirklich versuchte. Letzten Endes wurde er immer von jemand anderem gerettet, von einer Frau wie Sabina oder vom Alkohol.

Jim ist nicht er selbst. Sein Gesicht ist blass, obwohl die Sonne über dem Haus in Cariño brennt, und er trägt einen Gentleman-Anzug, der ein paar Nummern zu groß ist, und elegante Herrenschuhe; Kleider, wie er sie nie getragen hat. Früher waren es immer Jeans, ausgewaschene T-Shirts und Turnschuhe. Es sieht aus, als hätte er sich für seine eigene Beerdigung herausgeputzt. Und das Licht, das immer in seinen Augen lag, ist nicht mehr da. Dieses schöne, beängstigende Licht, das überfloss und die Nacht um ihn erleuchtete und eine besondere Intensität und Rücksichtslosigkeit offenbarte, etwas Unaufhaltsames, ein wildes Feuer oder einen Abgrund. Die dunkelblaue Iris seines einen Auges ist von einer dünnen, milchigen Haut überzogen, und sein Blick ist unruhig, suchend. Ohne die Frauen und den Alkohol, ohne den Abglanz der zerstörerischen sexuellen Glut in seinem Inneren bleibt nichts als Asche, ein gealterter Körper in einem viel zu großen Anzug, ohne Zukunft, ohne Hoffnungen. Wie ein Teichmolch, im Sommer schnellt er durch die Luft, ein gespannter, wasserglänzender, vibrierender, elastischer Körper, prall gefüllt mit Leben und Energie, und wenn mit dem Winter die Kälte kommt, verschrumpelt er.

Vor langer Zeit glaubte ich, unsere Familie wäre mit einem besonderen Licht gesegnet, ich dachte, nichts Böses könnte uns widerfahren. Wenn Jim von der Welt erzählte, hatte ich das Gefühl, wir wären auserwählt und erhaben, und wenn ich seinen Geschichten von unserem Leben lauschte, war die Welt, die uns umgab, mit einem Mal in Gold getaucht. Als ich nach Beckomberga kam und die alten Männer traf, die von sich sprachen, als wären sie Fürsten oder Könige, erkannte ich etwas von Jim in ihnen wieder. Auch ihre Leben schienen golden, erhaben. Einsam schwebten sie ein Stückchen über dem Leben aller anderen. In ihrer Phantasie fuhren sie in großen Goldkutschen durch die Welt, von allen geliebt und gefürchtet.

Vor meinem Fenster steht die weiße, faserige Wintersonne, die sich nach den Tannen reckt und die Baumwipfel vergoldet, ehe sie hinter der Hedvig Eleonora Kirche verschwindet. Für eine Sekunde glaube ich, die großen Bäume würden brennen. Ihre Wurzeln und nackten Stämme leuchten in der Dämmerung wie Feuer, aber bald darauf ertrinkt das goldene Licht in den Schatten. Es ist ein Judaswinter, verräterisch mild.

Als wir uns früher an diesem Tag im Humlegården trafen, sah Jim gebrechlich aus, unsicher auf den Beinen, obwohl er nüchtern war, desorientiert im neuen Stockholm. Wenn er schon so alt ist, kann auch ich nicht mehr jung sein, dachte ich, als ich dort stand und ihn betrachtete, während er im Menschengewimmel nervös nach mir Ausschau hielt wie ein Kind, das nach seinen Eltern sucht. Lone ist zeitloser, mitunter erscheint sie mir jünger als ich. Ich habe sie noch nie ein schlechtes Wort über einen Menschen verlieren hören, weder über Jim noch über irgendjemand anderen. Ich denke, sie hat eine besondere Empfänglichkeit für die Liebe, sie zieht Marion an wie eine Blume.

»Erzähl mir mehr von Edvard«, sage ich jetzt zu Jim, als er im sanften Lichtkegel der Lampe sitzt, weil ich das starke Gefühl habe, dass er uns diesmal wirklich verlassen wird, dass dies unsere letzte Zeit miteinander ist, bevor er für immer geht. Und er redet weiter, während das Licht der blauen Stunde schnell versiegt und dem kalten Schein der Straßenlaterne weicht.

Wenn Edvard und er im Morgengrauen zum Klinikgelände zurückkehrten, bekam er seine Patientenkleidung zurück und etwas zum Schlafen, eine kleine, zartrosa Tablette. Edvard hielt ein Stück entfernt, damit Jim sich im Schutz einiger Tannen umziehen konnte, und dann wurde er in die Abteilung 43 gelassen, schlich sich an der Nachtschwester vorbei und legte sich noch eine Weile hin, ehe sie geweckt wurden. Wenige Stunden darauf hatte Edvard wieder seine formelle Haltung hinter dem Schreibtisch eingenommen. In den Therapiesitzungen führten Jim und er lange Gespräche über die Einsamkeit und über die Sinnlosigkeit aller Dinge. Edvard sagte: »Es gibt keine Möglichkeit herauszufinden, ob sich jemand wirklich das Leben nehmen will.« Und dann fuhr er fort: »Aber ich glaube nicht, dass du sterben willst, Jim. Du bist kein Selbstmörder. Ich glaube, du hast dich danach gesehnt, deine Mutter Vita wiederzusehen. Ich glaube, du hattest eine Frage an sie. Bitte versprich mir eines. Solange wir unsere nächtlichen Ausflüge machen, möchte ich, dass du es bleiben lässt. Ich brauche jemanden wie dich.«

Und direkt gegenüber von mir, im Samtsessel, lächelt Jim sein breites Lächeln und zündet sich an der Glut der einen Zigarette die nächste an: »Edvard hat immer gesagt, ich wäre nicht krank. ›Du bräuchtest eigentlich nicht hier zu sein, Jim‹, hat er gesagt. ›Das Auto wartet um halb zehn vor dem Männerflügel auf dich.‹«

Ich strecke meine Hand zu Jim vor und zünde ihm eine weitere Zigarette an, um uns herum ist es dunkel geworden, und sein Gesicht wird von der kleinen Schwefelflamme des Streichholzes erleuchtet und dann von der Glut, die durch die Nacht irrt.

»Was glaubst du, wo sie jetzt sind?«, frage ich.

»Wer denn?«

»Die alten Patienten aus Beckomberga.«

»Hier«, sagt er und lacht, »in deinem Sessel.«

»Und die anderen?«

»Die sind wohl irgendwo da draußen.«

»Ja, aber wo

»Auf den Straßen, in den Nachtasylen und Gefängnissen vermutlich. Oder unter den Brücken. Wo sollten sie sonst sein?«

»Und du, Jim, wo bist du?«

»Hier bei dir, Jackie.«

»Das weiß ich, aber bist du jetzt glücklicher?«

»Ich werde niemals glücklich sein, aber es geht mir trotzdem ziemlich gut.«

»Aber warum war er in Beckomberga, wenn nicht wegen des Alkohols?«, fragt Lone, während sie in ihrem Mantel unter den Sternen steht und zur nächtlichen Silhouette von Beckomberga hinaufblickt. Sie sieht so jung aus, das wird sich nie ändern, die grauen Strähnen, die in ihrem Haar zum Vorschein kommen, sind Silberfäden; sie wachsen aus ihrem Kopf wie Mondstrahlen. Es ist ein wiederkehrender Traum von mir, dass Lone mich noch einmal hierher begleitet. Hier, bei der verlassenen Klinik, sind Jim und die Nacht, hier existiert etwas Ungreifbares, das ich immer auf Abstand zu halten versucht habe, eine Gewalt und eine große Liebe.

»Das weiß ich nicht«, antworte ich, »warum können sich manche Menschen nicht so gut wehren wie andere?«

Schwefelwolken huschen unruhig am Himmel vorüber wie vor einem Unwetter. Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben hätte Lone nicht richtig berührt, als hätte sie sich nach den Jahren mit Jim daraus zurückgezogen wie ein verletztes Tier.

»Wogegen hätte er sich wehren sollen?«

»Gegen das Leben vielleicht.«

»Ach so.«

Lone lacht hastig auf, ihr sanftes, melodisches Lachen, das die Welt in Schleier und Sagen hüllt.

Die Nacht

»Mann, 1945 geboren, in die Psychiatrie Beckomberga eingeliefert nach einem Suizidversuch … nach einigen Tagen wiederholte epileptische Anfälle in Folge eines langjährigen Alkohol- und Tablettenmissbrauchs … Arbeit, fester Wohnsitz, geschieden, eine dreizehnjährige Tochter … Antabus wird verordnet und später auf Wunsch des Patienten abgesetzt … Suizidgefährdet …«

Es gibt nur ein Foto aus Beckomberga, ich habe es in einem von Lones Alben gefunden, Edvard muss es bei einem der seltenen Male aufgenommen haben, als Lone die Klinik besuchte. Ich trage einen Hut auf dem Kopf und diese abgewetzte alte Fuchsboa um den Hals, und merkwürdigerweise hat sich ein weißer Schmetterling ins Bild verirrt und ist dort hängen geblieben, da sitzt er für immer erstarrt auf meinem Zopf, und auf den ersten Blick könnte man meinen, ich hätte eine Rosette im Haar. Es gab so viele Schmetterlinge damals und Vögel, sie waren überall. Auf dem Foto stehen wir ein Stück voneinander entfernt, als wäre uns die Gegenwart der anderen nicht bewusst, als würden wir uns gleich in alle Richtungen zerstreuen. Hinter uns: zerfetzte Wolken, die sich in einem Fenster spiegeln. Lone ist gerade dabei, die Szene zu verlassen, sie wurde noch nie gern in einem Foto gefangen. Ich habe mich hinabgebeugt, um irgendetwas vom Boden aufzuheben, und halte eine schützende Hand über meinen Hut, damit er mir nicht vom Kopf trudelt. Jim steht als Einziger still, mit seinen intensiven dunkelblauen Augen blickt er direkt in die Kamera.

Manchmal erinnert Marion mich an Jim, ihre Art zu gehen gleicht sich. Fahrige, blitzschnelle und etwas ruckhafte Schritte, eine plötzliche Freude, die durch den Körper fährt wie ein Wind. Ein Wind, der Marion dazu antreibt, durch die Welt zu rennen, und Jim dazu, immer weiterzuziehen, niemals an einem Ort zu bleiben, niemals Ruhe zu finden. Marion kam in einer stürmischen Nacht zu mir, an einem Novembermorgen vor sechs Jahren saß ich mit einem blutigen Bündel in den Armen im Krankenhaus, er war in Decken und blutbefleckte Tücher gehüllt, und ein Geruch nach Tier und fauligem Wasser hing im Raum. Aus dem Blut leuchteten ein paar strahlend blaue Augen hervor, und unter der gräulichen Haut, die aussah, als wäre sie ein paar Nummern zu groß, pochte ein Herz. Ich weiß noch, wie ich überlegte, ob seine Augen auch in meinem Inneren so geleuchtet hatten.

Wenn Jim herkommt, albert er für ein paar Minuten mit Marion herum, dann vergisst er dessen Anwesenheit völlig. Marions helle Stimme geht an ihm vorbei, es ist, als hätten Kinder eine Frequenz, die Jim nicht wahrnehmen kann. Trotzdem freut Marion sich, wenn er hier ist, er sieht ihn mit glücklichen Augen an und fragt, wann er uns wieder besuchen kommt.

»Das weiß ich nicht«, antwortet Jim, »vielleicht komme ich nie wieder zurück.«

»Warum kommst du nicht zurück?«

»Weil es schwer ist zu leben und mit der Zeit immer schwerer wird. Du kannst froh sein, dass du nicht weißt, was auf dich zukommt, Kommissar Belmondo.«

Kurz vorm Einschlafen nehme ich Brandgeruch wahr. Ich suche die Wohnung ab, die Aschenbecher, den Gasofen, heruntergebrannte Kerzen, aber noch nie hat etwas Feuer gefangen, und ich habe gelernt, trotzdem einzuschlafen. In meinem Unterbewusstsein schweben violette Rauchringe, und in der Nacht kommt die Angst, ein Band aus Kälte über der Brust, eine eisige Flüssigkeit, die mir das Rückgrat hinabläuft und durch meine Adern rinnt wie Schnee oder Kohlensäure. Ich wache auf und bilde mir ein, die Erde würde mit einem Stern kollidieren, ich wache auf und glaube, ich würde fallen, ich habe Angst, das Haus könnte kentern, alles könnte weg sein, wenn ich die Augen aufschlage, ich habe Angst vor dem Krieg, der sich langsam auf der Welt ausbreitet. Es ist Jims und meine lange Nacht, die sich wie ein schwarzer Himmel unter mir auftut, und ich gehe in Marions Zimmer und betrachte ihn, wie ein kleines Kreuz liegt er ausgestreckt auf dem Bett, die Haare dunkel vor Schweiß. Ich wünschte, ich könnte ihn vor der Nacht schützen, vor meinem Gesicht und meinem Blick schützen, ich wünschte, ich hätte ihn weiter in mir tragen können.

An den Spitzen der Zweige im Glockenhauspark hängen große, durchsichtige Tropfen, die, wenn sie den Halt an der Rinde verlieren, zerplatzen und zu Boden fallen, unbenutzt, kaputt. Jeder Tropfen enthält einen Spiegel und jeder Spiegel eine einsame Welt: die Patienten, die am tosenden Meer unterhalb der Nervenheilanstalt Sankta Maria in Helsingborg spazieren gehen, und die Toten ohne Angehörige aus der Stockholmer Anstalt Konradsberg – im Volksmund »Schloss der Toren« genannt –, die in mit Formaldehyd gefüllten Zementwannen auf die Pathologiestudenten warten, Jim im Rettungswagen auf dem Weg über die Brücken nach Beckomberga und Sabina, die in einem sonnengebleichten Nachthemd rückwärts durch das schummrige Licht der Abteilung 6 tanzt. Und es tut nicht weh, die Situation hat nur eine besondere Klarheit an sich, das Muster der Baumstämme vor dem Fenster ist so deutlich zu sehen, als hielte ich eine Lupe in der Hand.

»Wolltest du wirklich vor allem davonlaufen, Jim?«, frage ich. »Ich meine sterben. Wolltest du das wirklich?«

»Ja, ich glaube schon. Ich dachte, hier gäbe es nichts mehr für mich.«

»Aber …«

»Jackie, so schlimm ist das nicht. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig.«

»Willst du denn dann nicht nach Hause kommen?«

»Ich bin schon zu Hause.«

Als ich später in jenem Frühjahr, in dem ich vierzehn werde, zu Besuch komme, hält Jim gerade Hof unter den Birken am kleinen Hang vor dem Männerflügel. Die ersten weißen Schmetterlinge flattern im Zickzack durch die hohen Grashalme, und schon von weitem hören wir, wie er, umringt von Personal, Patienten und Angehörigen, Geschichten erzählt und singt. Wir nähern uns langsam unter dem hängenden Laub, Lone trägt trotz der Sommerhitze noch Mantel und Stiefel, und die Vögel in den Bäumen kreischen wie besessen, lange, gequälte, schwarze Schreie. Jim ist immer schon lachend, berauscht und unbesiegbar über dem Abgrund geschwebt, er hat die Menschen immer zum Lachen gebracht. Das ist sein Geschenk an uns.