Das Küssen ist ein Alltagsgeschäft und wäre jeder Kuss ein Stück vom unendlichen Glück, lebten wir im Paradies. Von dem sind wir weit entfernt - und trotzdem fest davon überzeugt, das Leben nach dem Kuss sei ein besseres als zuvor. Daran hat auch die Literatur ihren Anteil, denn in zahllosen Erzählungen und Romanen nimmt das Schicksal nach dem entscheidenden Kuss einen neuen Lauf. Sieben bedeutungsvolle Küsse von Heinrich von Kleist bis Marguerite Duras hat Peter von Matt für dieses Buch ausgewählt. Der intime Moment wird für viele große Erzähler zu einer eminenten künstlerischen Herausforderung: Schon deshalb sollte man diese Szenen genau und gründlich lesen Dabei erweist sich Peter von Matt ein weiteres Mal als Meister der kenntnisreichen und eleganten Interpretation, aus der Neugierige genauso viel lernen wie erfahrene Leser: ob es nun um Literatur geht - oder um Osculologie, die Wissenschaft vom Küssen.

 

Hanser E-Book

PETER VON MATT

 

Sieben Küsse

 

Glück und Unglück in der Literatur

 

 

Carl Hanser Verlag

 

ISBN 978-3-446-25623-1

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2017

Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München

 

Motive:

1. Bild v.o.: Max Klinger, Die Sirene. © akg-images

2. Bild v.o.: © akg-images / Imagno / Franz Hubmann

3. Bild v.o.: Max Lingner, Arbeiterliebe (Detail). © akg-images und © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

4. Bild v.o.: Félix Valloton, Der Kuss. © akg-images

5. Bild v.o.: © akg-images / Imagno

6. Bild v.o.: René Xavier Prinet, Tolstoj, Kreutzersonate. © Sotheby's / akg-images und © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

7. Bild v.o.: René Magritte, Les amants, Detail. Foto © akg-images und © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

 

Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu

 

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Statt eines Vorworts:

 

Es ist seltsam, daß in einer guten Erzählung allemal etwas Heimliches ist – etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in uns zu berühren – und wir stehn in einer ganz andern Welt, wenn wir aus ihrem Gebiete zurückkommen.

 

Novalis

INHALT

I

Das Wissen vom Glück und die Frage nach der Zahl der Küsse

 

II

Das verborgene Juwel – Virginia Woolf

 

III

Der Totentanz der Roaring Twenties – F. Scott Fitzgerald

 

IV

Ein Traumspiel des bürgerlichen Erzählens – Gottfried Keller

 

V

Ein Gottesnarr der Musik – Franz Grillparzer

 

VI

Die Szene als Monster – Heinrich von Kleist

 

VII

Wenn Glück und Unglück zusammenschießen – Marguerite Duras

 

VIII

Glück als Infektion – Anton Tschechow

 

IX

Schluss

 

Anmerkungen

 

Bildnachweis

 

 

I

 

DAS WISSEN VOM GLÜCK UND DIE FRAGE NACH DER ZAHL DER KÜSSE

 

Das Wissen vom Glück bringt das Gegenteil hervor. Das einzige Lebewesen auf dem Planeten, das vom Glück weiß, trägt diese Erkenntnis mit sich herum wie ein Messer in der Brust. Es schmerzt nicht immer, aber es macht unruhig. Die Folge ist, dass der Mensch, um Pascals berühmte Diagnose zu zitieren, nicht fähig ist, gelassen in einem Zimmer zu bleiben – … de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre.1 Selbst der König, der doch alles habe, was der Mensch nur besitzen kann, meint Pascal, brauche vom Morgen bis zum Abend eine Menge Leute um sich herum, die für Betrieb und Unterhaltung sorgten, damit er keinen Moment für sich allein sei. Dann wäre er nämlich gezwungen, an sich selbst zu denken, und würde auf der Stelle in Trübsinn verfallen.

Für Pascal ist alles, was der Mensch außerhalb des Zimmers sucht, divertissement, Ablenkung durch Scheinvergnügen. Das kann die Hasenjagd sein oder der Krieg, der Tanz im Ballsaal oder der Gewinn eines großen Vermögens. Dass auch die Liebe dazugehört, erwähnt er nicht; er scheint sie für das belangloseste aller divertissements zu halten. Der überwiegende Teil der Menschheit ist da anderer Meinung. Bei den Philosophen ist es zwar denkbar, dass sich eine Mehrheit auf die Seite Pascals schlägt, aber schon bei den Dichtern sieht das Glück entschieden anders aus. In ihren Werken verkörpert das einsame Zimmer an sich schon tous les malheurs des hommes, wie Pascal sagt, alles Unglück der Menschen, und die Unfähigkeit, es dort drin allein auszuhalten, beruht auf der Tatsache, dass es für den Inbegriff des Glücks, wo immer sich die Literatur dazu äußert, zwei Menschen braucht.

 

Die Literatur hat ihren eigenen Blick auf die Welt

 

Das heißt nicht, dass die Literatur recht hat. Sie ist ein jahrtausendealtes Unternehmen der Welterklärung, wie die Philosophie es ist, wie die Wissenschaften es sind und auch die Religionen, die einst sogar alle andern Systeme in sich einbeschlossen haben. Wie jede von diesen dreien treibt die Literatur das große Geschäft auf ihre Weise. Auch sie fragt zwar nach den ersten und letzten Dingen, nach dem, was immer war und immer sein wird, nach den Gesetzen, die alles steuern, was auf dem Planeten geschieht, aber sie nimmt sich das Recht, die größten Prozesse gegebenenfalls an den winzigsten Wesen zu studieren. Das Universale erkennen die Dichter am schärfsten im Belanglosen. Der Tod einer Fliege kann für sie so wichtig sein wie der Trojanische Krieg.

Das hängt damit zusammen, dass die Literatur ihren eigenen Blick auf die Welt hat. Dieser hat sich, im Unterschied zu den andern Systemen, nie ganz abgelöst vom Blick des Kindes. Für das Kind gibt es noch keine Ordnung der Dinge. Alles kann riesig sein oder wie nicht vorhanden. Ein Stein auf dem Weg ist kostbar wie der Rubin in der Königskrone. Er ist sogar lebendig wie ein Tier. Die Hierarchie all dessen, was ist, entsteht erst durch das unablässige Einreden der Erwachsenen auf das Kind: Das ist eklig, das ist schön, das ist verboten … Weil die Literatur noch Wege kennt hinter alle Hierarchien zurück, kann sie jederzeit verschollene Erfahrungen in uns wachrufen, Erfahrungen aus den Urzeiten des eigenen Lebens oder aus den Urzeiten der Menschheit. Für sie gilt Brechts Vers aus dem Lied von der Moldau: »Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine« – wenn auch auf andere Weise, als Brecht es gemeint hat.

Das Spiel mit der Gewalt des Geringen und mit der Geringfügigkeit des Gewaltigen durchzieht die Literatur. Weil sie über die Kraft der symbolischen Aufladung verfügt, kann sie alle Ordnungen umbauen; sie kann das Winzige mit drei Worten zu einer Hauptsache machen und den babylonischen Turm zu einer Dekoration im Hintergrund. Es gibt zahlreiche Begriffe für die Prozesse der symbolischen Aufladung, man redet von Metaphern und Metonymien, von Synekdochen und Allegorien, entwickelt Zeichentheorien und destruiert sie wieder, indem man irgendwann den Zeichen ihre Verweisungskraft überhaupt bestreitet. Ganze Lehrstühle leben von der Produktion semiotischer Konzepte und der Demontage ihrer Vorgänger. Die Studierenden glauben daran, richten sich danach aus, schreiben Dissertationen darüber und müssen eines Tages zur Kenntnis nehmen, dass kein Hahn mehr nach ihrer wissenschaftlichen Heilslehre kräht. Die Prozesse der symbolischen Aufladung aber wirken immerzu in allen Künsten, mit bald zarten, bald mächtigen Effekten, unabhängig vom Stand der Theoriebildung. Die Kraft, die dem Kind einst die Puppe lebendig machte und den krummen Stecken zum galoppierenden Pferd, wirkt fort in der bildenden Hand der Malerinnen und Maler, in der unerwarteten Geste des Schauspielers, in der fahrenden Filmkamera, die einen Gegenstand erschreckend heranzoomt. Was aber einmal dergestalt aufgeladen ist, kann in der Literatur ein ganzes Werk durchstrahlen und zum Schlüssel werden für dessen Geheimnisse – falls nur der Leser aufmerksam genug ist und seine Freude hat am Spiel des Verbergens und Aufdeckens. Die symbolische Strahlung mag von einem mythischen Ungeheuer wie dem weißen Wal des Kapitäns Ahab ausgehen, dem Wesen, das nicht nur einen großen Roman durchzieht, sondern diesen Roman wie aus eigener Kraft verlängert und ausdehnt, bis das Opus selber leviathanische Ausmaße erlangt hat. Sie kann aber auch in einer einzigen Erzählsekunde stecken. So erscheint in Kafkas Proceß die Schwimmhaut zwischen Mittel- und Ringfinger des Mädchens Leni nur ein einziges Mal und wie im Vorbeigehen.2 Aber das seltsame körperliche Phänomen bleibt uns bis zum Schluss vor Augen. Wir spüren die symbolische Aufladung und kommen ihr doch nicht wirklich bei, so wenigstens nicht, wie wir gewohnt sind, den Symbolen im Erzählen des 19. Jahrhunderts beizukommen.

 

Die Menschen tragen das Wissen vom Glück immerzu mit sich herum. Sie messen daran ihre eigene Befindlichkeit und beobachten daraufhin alle andern. Sie erfinden wundersame Vorstellungen von einer ewigen Seligkeit und sind rasch bereit, andere um dieser Vorstellung willen totzuschlagen. Weil man das Paradies denken kann, muss es einmal existiert haben oder wird es sich einmal vor uns öffnen. Und wenn die religiöse Basis dieser Träume sich verflüchtigt, verflüchtigen sich doch keineswegs die Träume selbst. Sie verwandeln sich vielmehr in ein Projekt der ganzen Menschheit, die nun die Aufgabe hat, das Paradies auf diesem Planeten selbst einzurichten. Auch dafür muss man notfalls viele Menschen töten. Was wir Aufklärung nennen, ist nichts anderes als dieser Vorgang: die Abschaffung der jenseitigen Seligkeit und ihre Verwandlung in das Vorhaben, sie auf dieser gequälten Erde eigenhändig aufzubauen. Goethe hat darüber einen Roman geschrieben, Die Wahlverwandtschaften. Eine Gruppe guter, kluger, liebesfähiger Menschen will die Epochenvision vom selbstgeschaffenen Paradies in einem überschaubaren Raum mit Schloss und Dorf und ausgedehnter Natur verwirklichen. Kein Bösewicht stört die planvolle Arbeit. Dennoch endet sie schrecklich.

 

In Szenen denken

 

Weil die Literatur immer konkret ist, denkt sie nicht in Begriffen, sondern in Szenen. Das Wissen vom Glück erscheint daher in der Literatur immer und immer wieder als die leibhaftige Begegnung zweier Menschen. Das Nachdenken darüber verkörpert sich in deren Geschichte und weiterem Schicksal. Was in der Philosophie Theorie ist, ist in der Literatur Handlung. Gewiss wird über diese innerhalb der Literatur auch nachgedacht, aber die Reflexionen der Figuren holen ihr Handeln nie ganz ein. Eine Szene wird symbolisch aufgeladen, und wie immer man sich darüber innerhalb und außerhalb des Textes den Kopf zerbricht, zu einem vollständig in Sprache übersetzten Verständnis gelangt man nie. Ein Beispiel ist Hamlets stummer Besuch bei Ophelia, von dem diese ihrem Vater berichtet. Hamlet ist in verwahrlostem Zustand bei ihr erschienen, hat ihr Handgelenk gefasst und sie lange wortlos angeschaut, dann hat er so tief gestöhnt, dass es durch seinen ganzen Körper lief. Schließlich hat er das Zimmer auf eine seltsame Weise wieder verlassen, so nämlich:

 

That done, he lets me go,

And with his head over his shoulder turn’d

He seem’d to find his way without his eyes,

For out o’ doors he went without their helps,

And to the last bended their light on me.3

 

Danach, erzählt Ophelia also, ließ er mich los, und, den Kopf über seine Schulter zurückgedreht, schien er den Weg ohne seine Augen zu finden; denn er ging zur Tür hinaus ohne deren Hilfe und hielt den Blick bis zuletzt auf mich gerichtet.

Nun wissen wir zwar, dass Hamlet zur Tarnung den Verrückten spielt, wissen allerdings nicht, ob er nicht zuzeiten die Grenze zum Wahn tatsächlich überschreitet, und vor allem wissen wir nicht, ob die Szene bei und mit Ophelia nicht trotzdem die tiefste Wahrheit über seine Beziehung zu ihr zum Ausdruck bringt. Denn diese Art, das Zimmer zu verlassen und den Weg gleichsam in Trance zu finden, den Blick in jenen von Ophelia getaucht, mutet nicht wie ein psychopathologisches Symptom an, weder ein gespieltes noch ein echtes, sondern durchschlägt dieses Zeichenfeld mit der Gewalt eines bedeutungsschweren Verhaltens. Hamlets Gang aus dem Zimmer ist ganz und gar eindeutig in seinem Verlauf und verzweifelt schwierig in seiner Aussage. Will Hamlet damit Ophelia zu verstehen geben: Ich spiele zwar den Verrückten, aber du darfst nicht glauben, dass dies etwas an meiner Liebe zu dir ändert? Oder macht er sie zur Spielfigur in seiner Verstellungs-Intrige, über die er den Mord am Vater aufdecken will? Wenn das erste gilt, warum macht er es der jungen Frau nicht klar? Wenn das zweite gilt, warum treibt er gerade sie, die einzige unbedingt Schuldlose am dänischen Hof, in die Verzweiflung, in den tatsächlichen Wahnsinn und schließlich in den Suizid? An diesem Vorgang kann man studieren, was es heißt, dass die Literatur in Szenen denkt und nicht Gedanken in Szenen übersetzt. Womit sie der Philosophie gleichzeitig unter- und überlegen ist und weshalb die eine durch die andere nie ganz ersetzt werden kann.

 

Auch das Glück erscheint als Szene

 

Auch das unbedingte Glück erscheint in der Literatur zumeist als eine Szene, und in tausend Fällen gehört zu dieser Szene der Kuss. Dabei ist Küssen ein Allerweltsgeschäft. Wäre mit jedem Kuss das unbedingte Glück verbunden, lebte die Menschheit im Paradies. Dass diese zarte Tätigkeit ungezählte Formen kennt und entsprechend unterschiedliche Bedeutungen aufweist, ist von den Dichtern vielfach festgestellt worden. Grillparzer hat es in knappe Form gebracht:

 

Auf die Hände küßt die Achtung,

Freundschaft auf die offne Stirne,

Auf die Wange Wohlgefallen,

Selge Liebe auf den Mund;

Aufs geschloßne Aug die Sehnsucht,

In die hohle Hand Verlangen,

Arm und Nacken die Begierde,

Überall sonst hin Raserei.4

 

Die Liste ist noch ausbaufähig. Dennoch bildet sie eine hübsche Osculologie, wie man die Wissenschaft vom Küssen gelegentlich nennt. Das Wort leitet sich vom lateinischen osculum ab, was sowohl ein Mündchen meint wie den Kuss selbst. Auch der junge Goethe kennt den Ausdruck Mäulchen für den Kuss, wobei er meistens Mäulgen schreibt. Als Frankfurter sprach er nämlich das g im Wortinnern gleich aus wie das ch, woraus sich für ihn ein dauerndes orthographisches Problem ergab. Mädgen für Mädchen ist das bekannteste Exempel, und Gretchens berühmtes Gebet: »Ach neige, / Du Schmerzenreiche […]« war für Goethes Ohren korrekt gereimt.

Als wissenschaftliche Disziplin im strengen Sinne gibt es die Osculologie nicht. Auch in Dudens Großem Fremdwörterbuch, 1557 Seiten stark, fehlt der Begriff. Aber da die Dichter, wenn sie von der Liebe reden, diese immerzu auch zu erforschen suchen, gewinnt alles Dichten und Erzählen im weiten Feld des Erotischen früher oder später einen osculologischen Einschlag. Ein berühmter Fall ist Johannes Secundus, der Holländer, der 1536 mit vierundzwanzig Jahren starb und doch bereits unsterblich geworden war mit einem Zyklus lateinischer Gedichte. Diesen nannte er kurzerhand Basia, was zu Deutsch Küsse heißt; denn neben osculum kannten die Römer auch das Wort basium für den Kuss (es lebt im französischen le baiser weiter). Und folgerichtig heißt auch jedes einzelne Gedicht im Zyklus des Secundus Basium, mit angefügter Zahl von I bis XIX.5 Goethe beschäftigte sich mit dem Werk in der Zeit seiner heftigsten Liebe zu Charlotte von Stein, wobei die unverblümte Körperlichkeit der Basia auch eine Kompensation gewesen sein dürfte für das von Charlotte verordnete Verbot aller liebenden Handgreiflichkeiten. Jedenfalls schrieb er ein Gedicht mit dem Titel An den Geist des Johannes Secundus, das sich handschriftlich im Nachlass der Frau von Stein erhalten hat.6 Der Anfang ist sprachgewaltig, in einem archaisch sperrigen Rhythmus:

 

Lieber, heiliger, großer Küsser,

Der du mir’s in lechzend atmender

Glückseligkeit fast vorgetan hast!

 

Dann jedoch läuft das Gedicht eher merkwürdig auf die Klage hinaus, dass er, der Dichter, nicht mehr küssen könne, weil ihm in der herbstlichen Kälte die Lippe schmerzhaft aufgesprungen sei. Keineswegs, betont er, sei ihm die Lippe etwa aufgesprungen wegen allzu stürmischer Küsse der Geliebten, nein, die Wunde sei ausschließlich wetterbedingt. Das Motiv nimmt sich ziemlich uninspiriert aus, deshalb ist man wiederum verblüfft über die Gewalt, mit der nun das, was gerade nicht geschieht, zur Sprache findet:

 

Gesprungen ist sie! Nicht vom Biß der Holden,

Die, in voller ringsumfangender Liebe,

Mehr möcht’ haben von mir, und möchte mich Ganzen

Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte!

 

Das schließt für einen aufregenden Moment an die ersten drei Verse an, besitzt, wie jene, den unerhörten Klang der neuen Sprache, die Goethe in diesen Jahren aus der Begegnung mit Shakespeare und Hamann und Herder gewinnt. Der Widerspruch, der sich zwischen dieser poetischen Wucht und dem dünnen Motiv der gesprungenen Lippe ergibt, wird jedoch gelöst, wenn man die Novemberkälte als Metapher für die spröde Abwehr der umworbenen Charlotte liest. Das überraschende doppelte »ganz« – »und möchte mich Ganzen / Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte« – verweist jetzt auf das, was der geliebten Frau fehlt, das, worin sie, im betonten Unterschied zum liebenden Mann, eben nicht ganz ist.

 

Die Zahl der Küsse

 

Bei diesem Johannes Secundus erscheint nun auch ein Motiv, das für unser Thema von besonderer Bedeutung ist: die Zahl der getauschten Küsse. Secundus übernimmt den Gedanken aus der Tradition der antiken Liebeslyrik. Die Verliebten versuchen, die Intensität ihrer Gefühle in die Zahl der gewünschten oder versprochenen Küsse zu übersetzen. So beginnt Secundus das Basium VI mit der Feststellung, seine Freundin und er hätten sich auf zweitausend Küsse verschworen, und tatsächlich, tausend Küsse habe er gegeben, und tausend Küsse habe er empfangen – in lateinischer Knappheit: »basia mille dedi, basia mille tuli«. Doch jetzt zeige es sich, dass man die Liebe niemals mit Zahlen ergründen könne. Eine welterschütternde Erkenntnis ist das nicht, aber sie gehört seit Jahrtausenden zum Reden über ein welterschütterndes Gefühl.

Das Basium VI ist ein schlankes humanistisches Echo auf das schlechthin berühmteste Gedicht der Weltliteratur über die Zahl der Küsse, das Zählen der Küsse und den Umgang mit den gezählten Küssen, das fünfte Carmen7 von Catull, dem römischen Erotiker, der fast so jung gestorben ist wie sein Nachfolger Secundus in der Renaissance. Der Auftakt formuliert, im Zuruf an die Geliebte Lesbia, die leidenschaftlichste Parole aller europäischen Lyrik: »Wir wollen leben und wir wollen lieben!« – »Vivamus atque amemus.« Denn der Tod komme rasch genug, und das Licht des Lebens sei kurz: »brevis lux«. Catull konnte nicht wissen, wie sehr das auf ihn selbst zutreffen sollte. Nach diesem Auftakt aber, der ebenso antik wie barock ist, entspringt aus dem Gedanken an den lauernden Tod ein Tumult der Zahlen, ein tobendes Über- und Durcheinander der Tausender und Hunderter und ihres Vielfachen, und alle Zahlen meinen Küsse, die Küsse, um die Catull seine Lesbia bestürmt. Aber, sagt er dann, niemand außer ihnen beiden dürfe die endgültige Zahl wissen. Eigenhändig müssten sie zuletzt die Rechnung wieder verwirren, denn es gebe Leute, die ihnen schaden könnten, aus Neid über das ungeheure Glück solchen Küssens. Man muss nicht Latein verstehen, um im Original das Zahlengeprassel der Wörter – mille, tausend, milia, Tausende, und centum, hundert – zu erleben:

 

Da mi basia mille, deinde centum,

dein mille altera, dein secunda centum,

deinde usque altera mille, deinde centum.

Dein, cum milia multa fecerimus,

conturbabimus illa, ne sciamus […]

 

Wörtlich übersetzt: Gib mir tausend Küsse, dann hundert, dann nochmals tausend, dann ein zweites Mal hundert, dann nochmals tausend, dann hundert. Dann, wenn wir viele tausend gegeben haben, werden wir alles durcheinanderbringen, damit wir das Ergebnis selbst nicht mehr wissen.

Irritierend mutet uns heute an, dass Catull immer von tausend wieder auf hundert kommt. Sind wir es doch gewohnt, dass eine Steigerung umgekehrt verläuft, vom Hundertsten ins Tausendste, wie der Volksmund sagt. Das wäre eine Belanglosigkeit, wenn nicht eine magische Stimme der deutschen Literatur, Eduard Mörike, dieses Gedicht übertragen und dabei genau diese Irritation korrigiert hätte. Er macht aus hundert jedes Mal hunderttausend. Mörike war ein erprobter Lateiner und subtiler Übersetzer; vielleicht glaubte er sogar, philologische Gründe zu haben für seine Variante. Das mag entscheiden, wer dafür zuständig ist. Auf jeden Fall wurde Catulls Gedicht durch Mörikes Übersetzung zu einem Stück deutscher Literatur, und so darf es mit seinem ganzen Zahlentumult hier vollumfänglich anschließen:

 

Laß uns leben, mein Mädchen, und uns lieben,

Und der mürrischen Alten üble Reden

Auch nicht höher als einen Pfennig achten.

Sieh, die Sonne, sie geht und kehret wieder:

Wir nur, geht uns das kurze Licht des Lebens

Unter, schlafen dort eine lange Nacht durch.

Gib mir tausend und hunderttausend Küsse,

Noch ein Tausend und noch ein Hunderttausend,

Wieder tausend und aber hunderttausend!

Sind viel tausend geküßt, dann mischen wir sie

Durcheinander, daß keins die Zahl mehr wisse

Und kein Neider ein böses Stück uns spiele,

Wenn er weiß, wie der Küsse gar so viel sind.8

 

Ein Jahrhundert nach Catull versuchte sein Lyrikerkollege Martial, der beim Vorgänger viel gelernt hatte, diesen in Sachen Kusszahl zu übertreffen. Rein numerisch war das nicht möglich, es ging nur über Vergleiche und zudem, was raffinierter war, über eine grundsätzliche Kritik am Operieren mit Zahlen im Bereich dieser beliebten Tätigkeit. Martials Gedicht richtet sich an einen schönen Jüngling – eine Variante, die auch Catull kennt. Er bittet diesen um heiße Küsse und bekommt als Antwort die Frage: »Wie viele?« Worauf Martial hymnisch wird und erklärt, dazu müsste er ja die Wellen des Ozeans zählen können und die Muscheln am Strand und die schwärmenden Bienen und – eine kulturgeschichtliche Momentaufnahme – »die Stimmen und Hände, die im vollen Theater lärmen, wenn das Volk plötzlich Caesars Gesicht sieht«.9 Dann aber kommt er direkt auf Catulls Kussgedicht zu sprechen, das offenbar jedermann kannte, selbst sein Jüngling: »Ich will nicht so viele Küsse, wie dem wohlklingenden Catull auf seine Bitte Lesbia schenkte.« Der Satz bedeutet aber nicht, dass Martial mit weniger zufrieden wäre, sondern im Gegenteil, Catulls Begehren sei dem seinen unterlegen, weil dieser überhaupt gezählt habe. Denn, so die Pointe: »Weniges nur begehrt, wer es zu zählen vermag.« Lateinisch lapidar: »Pauca cupit qui numerare potest.«10 So kommunizieren die »lieben, heiligen, großen Küsser« über die Jahrhunderte hin miteinander.

 

Der singuläre Kuss

 

Das Wissen vom Glück, das die Menschen umtreibt, zwingt sie dazu, an das Maximum zu denken, dieses sich vorzustellen, sich nach diesem auf die Jagd zu machen. Das spiegelt sich in den Gedichten über die maximale Zahl der Küsse. Diese Steigerung aber bedroht nun selbst wieder, was sie doch anstrebt. Sie entwertet nämlich den einzelnen Kuss. Das ist zwar selten ein Problem für die Verliebten selbst, wohl aber ist es eines für die Literatur. Denn so wie diese das eine Mal die größtmögliche Zahl der Küsse zum Thema macht, macht sie ein anderes Mal den singulären Kuss zum Thema. Dieser muss dann als Ereignis alle mögliche Vielzahl überstrahlen.

Als symbolisch aufgeladene Szene ist der singuläre Kuss ein Geschehnis der Kunst, das auf seine Stellung und Funktion im jeweiligen Werk hin befragt werden muss. Der oft zitierte und Jean Paul zugeschriebene Satz »Zehn Küsse werden leichter vergessen als ein Kuss« macht zwar deutlich, dass der einmalig-einzigartige Kuss sehr wohl zur Lebens- und Liebeswirklichkeit der Menschen gehört – und um dies zu wissen, bedarf es auch gar keiner Dichterzitate –, dennoch kommt ihm in der Literatur, im delikaten Gefüge eines Romans, eines Stücks, eines Films, ein besonderer Wert zu: Er ist ein spektakuläres Ereignis der Gestaltung.

Es verhält sich damit ähnlich wie mit der Todesszene. In der Lebenswirklichkeit wird genauso oft geboren wie gestorben. In der Literatur aber findet sich zwar gelegentlich die Schilderung einer Geburt, das Verhältnis der Geburts- zu den Todesszenen dürfte jedoch 1 : 10 000 übersteigen. Auch die Todesszene ist symbolisch immens aufgeladen. In ihr schießen vielfach alle Handlungsstränge und Problemstrukturen eines Werks zusammen. Sie kann den Drehpunkt oder das Finale einer Tragödie, eines Romans bilden, den Moment, wovon weg oder worauf zu alles läuft. In ihr verdichtet sich deshalb auch oft genug der höhere Sinn des erzählten oder gespielten Ganzen. Genauer gesagt: Wenn wir in einem erzählten oder gespielten Ganzen den höheren Sinn suchen, was wir ja reflexartig tun, setzen wir bei den Szenen an, die aus allem andern so hervortreten wie die Todesszenen. Das hängt damit zusammen, dass der Moment des Todes irreversibel ist. Erst mit ihm gewinnen die vorhergehenden Ereignisse den Charakter eines zwingenden Schicksals. Deshalb ist in der Todesszene das winzigste Detail aussagekräftig für das Ganze.

Diese Eigenschaften kommen nun auch dem singulären Kuss in der Literatur zu. Auch er erscheint im Handlungsgefüge so, dass danach alles anders ist als vorher, und zwar sowohl für die zwei Küssenden als auch für die Leserinnen und Leser. Das Ereignis greift tief in die Selbst- und Welterfahrung der Protagonisten ein. Deshalb stellt es für den Autor eine Aufgabe dar, die ihm alle erzählerischen Fähigkeiten abverlangt. Was vorher war und nachher sein wird, ist in dem kurzen Geschehen geisterhaft anwesend.

Dies erfordert eine poetische Arbeit, die ihrerseits, als handwerklicher Vollzug, studiert sein will. Erfindung, Form und Einfühlung scheinen eins zu werden und sollen es für die spontanen Leser auch sein. Deshalb kann die genaue Beobachtung hier zu neuen Aufschlüssen über die Geheimnisse des Erzählens führen.