Über Zaza Burchuladze

Zaza Burchuladze, 1973 in Tiblissi geboren, übersetzte Fjodor Dostojewski und Daniil Charms ins Georgische. Seine Romane und Essays wurden von religiösen Extremisten verbrannt und vom Präsidenten Saakaschwili in der georgischen Tagesschau angeprangert. Im Sommer 2012 wurde er von Unbekannten angegriffen und musste mit seiner Familie nach Deutschland fliehen. Heute lebt und arbeitet er in Berlin. Für seine Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet. »adibas« ist sein erstes Buch auf Deutsch.

Informationen zum Buch

Heimat ist immer die weiteste Reise

Touristenfrühstück erzählt von einem Mann, einer Frau und einem Neugeborenen auf der Suche nach einem Zuhause. Es ist zugleich die älteste Geschichte und ein Journal unserer Tage.

»Mit Zazas Worten begann ich meinen eigenen Boden zu ertasten, mich zu fragen, ob er denn fester ist als seiner, ob unsere beiden Brücken nicht bloß Hängebrücken wären und nicht aus Beton und Stahl, wie wir dies zuweilen anzunehmen hofften.

Ob die pointierten Passagen über den Berliner Alltag oder die Erinnerungen an eine Welt, die es so nicht mehr gibt, die Tage, Wochen und Jahre durchquerend, sie alle führten zu der unweigerlichen Frage, die er sich selbst zu fragen schien und die ich mich als Leserin ebenfalls zu stellen gezwungen sah: Was bedeutet Identität, der wir uns meist so sicher sind, woraus setzt sie sich zusammen, und aus welchen Erfahrungen, Bildern, Gerüchen, Erinnerungen, Auseinandersetzungen, Verletzungen, aus welchen Worten ist sie gestrickt?« Nino Haratischwili

»In der heutigen Welt sind alle unterwegs, die einen, weil sie es können, die anderen, weil sie es müssen«, sagt Zaza Burchuladze, der bekannteste Autor Georgiens. Er ist beides: Flüchtling und Tourist. Zusammen mit seiner schwangeren Frau musste er, nach einem tätlichen Angriff, Georgien verlassen. In Deutschland kennt ihn niemand, also mischt er sich unter die Leute. Denn das Erzählen ist seine einzige Chance, sich auszuweisen.

Touristenfrühstück ist ein Flaneurroman, und hinter den Fassaden Berlins scheinen immer auch die Erinnerungen an Tbilissi durch. Das Spazieren durch die Stadt ist auch ein Spazieren durch die Zeit: zurück zu dem Tag, als er zum ersten Mal mit silbernen Nike-Schuhen zur Schule kam, zurück zu der Nacht, als vor den Augen des Patriarchen seine Landsleute, die für Unabhängigkeit demonstrierten, von sowjetischen Soldaten getötet wurden.

Zaza Burchuladze streift gleichermaßen Hoch- und Popkultur, verbindet das Augenscheinlichen mit dem Verborgenen, schafft Tunnel zwischen den entlegenen Enden unserer Welt.

»Ich hatte lange Angst, Berlin wird zu gemütlich. Zaza Burchuladze wird das verhindern.« Bov Bjerg

»Eine literarische Entdeckung.« Thomas André, Spiegel Online

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Zaza Burchuladze

Touristenfrühstück

Roman

Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani

Mit einem Nachwort von Nino Haratischwili

Inhaltsübersicht

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Nino Haratischwili Landschaften des Exils

Anmerkungen

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Impressum

Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.

FRIEDRICH NIETZSCHE »ALSO SPRACH ZARATHUSTRA«

In der Sonne kann man sich nicht langweilen;
man badet im Quell der Zeit.

ERNST JÜNGER, »STRAHLUNGEN«

Ich saß derweil in der Dunkelheit an meinem Schreibtisch und dachte an Geheimnisse. Sind Geheimnisse ein Tunnel zu einer Traumwelt, in der man die Ereignisse beherrscht?

DON DELILLO, »WEIßES RAUSCHEN«

Fassbinder begegnet mir auf Schritt und Tritt. In Berlin hängen seit einigen Tagen vermehrt schwarz-weiße Plakate. Darauf verkündet der Regisseur in seiner Lederjacke: »Ich bin meine Filme«.

Fassbinder ist über und unter der Erde, an den Fassaden der Häuser, Werbetafeln, den Wänden der U-Bahnhöfe. In den Kinos läuft in Kürze eine Retrospektive seiner Filme, im Martin-Gropius-Bau ist ihm eine Ausstellung gewidmet. Immer wieder rückt einer ins Zentrum der Aufmerksamkeit und sofort wird das gesamte Hab und Gut des Künstlers in Museumsexponate verwandelt: von den Bühnenkostümen bis zur Zahnbürste. Es hört nie auf. An einem Tag ist es Freddie Mercury, am nächsten Pasolini, der von den Plakatwänden auf einen herabschaut. Jetzt Fassbinder. »Ich bin meine Filme«, ruft es von überall.

Ich würde auch gern behaupten, ich sei meine Bücher, aber außer einem halben Roman und genauso vielen Erzählungen habe ich noch nichts Vernünftiges zustande gebracht. Hätte ich die Möglichkeit, würde ich alle anderen Texte öffentlich verleugnen. Ihr Dasein stört mich nicht besonders, aber ohne sie würde ich mich irgendwie wohler fühlen. Ich weiß nicht, ob es Sinn machen würde zu behaupten: »Ich bin mein halber Roman«.

Vielmehr könnte ich sagen: Ich bin meine Notizbücher. Jedes von ihnen ist ein lückenloser Chronist, meine ganz persönliche Black Box. Eine Art Konservendose, in der nicht Heringe in Öl oder Tomatensauce eingelegt sind, sondern Worte in Zeilen. Nichts gegen Heringe! In meiner Kindheit gab es Konserven, genannt »Touristenfrühstück«; sie gehörten zu den billigsten in der sowjetischen Nahrungsmittelindustrie. Nun produziere ich als ewiger Tourist ein solch billiges Frühstück in Gestalt meiner Notizbücher.

***

In Deutschland wird alles genau dokumentiert und nummeriert. Überall werden irgendwelche Papiere verlangt. Nicht mal in der Sowjetunion hatten die Menschen so einen Hang zur Bürokratie. Auch ich muss sehr oft Anträge und Formulare ausfüllen. So wandern die immergleichen Angaben von mir von Akte zu Akte:

Vorname: Zaal

Name: Burchuladze

Geburtsdatum: 09. 09. 1973

Nationalität: Georgier

Familienstand: verheiratet

Kinder: 3

Beruf: Schriftsteller

So betrachtet man mich von der offiziellen Seite. Wie bei jedem anständigen Menschen muss es auch von mir eine inoffizielle Seite geben. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich klinge schon offiziell sehr verdächtig. Zum Beispiel taucht mein Vorname Zaal nirgendwo auf, außer in meinem Ausweis. Durch meinen Familiennamen kann ich nicht belegen, der Sohn meines Vaters zu sein. Soweit mir bekannt ist, hat mein Großvater auch mein Geburtsdatum gefälscht, um mich vor der Einberufung in die Armee zu bewahren. Da mir das Umherziehen genauso im Blut liegt wie den Zigeunern, kann ich mich auch kaum einen Georgier nennen. Es ist nicht auszuschließen, dass ich eines Tages von zu Hause loslaufe und nicht mehr zurückkomme. Oder dass ich mir wie Pierrot le Fou Dynamitstangen um den Kopf binde und der Zündschnur Feuer gebe – ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen.

Familie war für mich nie eine Konstante oder ein unveränderlicher Status. Der Zyklus von Heirat und Scheidung gehört schon lange zu meiner persönlichen Selbstdisziplin und Norm. Ich war nie länger als drei Jahre mit einer Frau zusammen. Diese haben mir, wohl auch deshalb, nie lange nachgetrauert. Drei Jahre, das ist die Zeit meiner familiären Thermodynamik, die Lebensdauer meines inneren Familienalbums. Deshalb befinde ich mich in der dritten Ehe. Ich kann nicht mal sicher sein, ob ich tatsächlich Vater von drei Kindern bin oder ob es irgendwo noch weitere Nachkommen von mir gibt. Auch meine Berufswahl stimmt mich oft nachdenklich. Was bewegt jemanden, sich für das Schreiben zu entscheiden? Noch dazu, wenn man weiß, dass dies, abgesehen von wenigen Ausnahmen, eine brotlose Kunst ist. Warum sollte man Schriftsteller werden wollen, im Wissen, dass, selbst wenn man Erfolg hat, Texte auf Waschmittel-, Schuhcreme- oder Hühnchenverpackungen häufiger gelesen werden.

Ich persönlich bevorzuge ohnehin Vor-Ort-Reportagen von großen Ereignissen und aus der Mitte des Geschehens. Und ich habe eine große Schwäche für Antonioni. Deshalb würde es vielleicht eher zutreffen, am Ende des Formulars »Beruf: Reporter« einzutragen.

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Heute Morgen habe ich mir die erste Dosis Interferon gespritzt. Als Dessert gibt es nachher eine Ribavirintablette. Das ganze Jahr hindurch wird dies meine unerlässliche Routine: Interferon am Montag; Ribavirin jeden Tag, in der Früh und abends.

Zur Interferonbehandlung von Hepatitis-C steht im Internet ganz Unterschiedliches. Die Foren und Blogs sind voller Klagen und Gejammer von Patienten. Manchmal wirkt das wie eine moderne Version von Dantes »Inferno«, nur kollektiv und online verfasst und mit dem Unterschied, dass sich hier nicht der Autor in der Hölle befindet, sondern die Hölle im Autor. Vielleicht ist das am Ende auch das Gleiche. Ich wünsche mir weder das eine noch das andere.

Um hier gleich eingangs etwas Spannung aufzubauen, muss ich mit Shakespeare darauf hinweisen, dass die ganze Welt ein Theater ist und mit Tschechow daran erinnern, dass eine Pistole, die im ersten Akt an der Wand hängt, im letzten abgefeuert werden muss. Dieser Logik zufolge müsste meine am Anfang der Erzählung geschwollene Leber vor dem Ende schlechterdings platzen. Ich habe also eine Zeitbombe in meinem Körper. Und das ist fast eine Schahidische Poesie. Man könnte auch sagen: der Blues des Mudschaheddin.

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Wenn ich nur an Tbilissi denke, wird mir schon heiß. Man könnte meinen, das liegt am Namen der Stadt, der »Heiße Quelle« bedeutet. König Wachtang I. Gorgassali war ein ziemlich weiser Mann, als er damals die Stadt so nannte. Auf der Jagd hatte er in einem bewaldeten Tal einen Fasan erlegt. Das Tier fiel in eine heiße Quelle und wurde vom sprudelnden Wasser sofort gar. Und solange ich dort lebte, hatte auch ich immer das Gefühl zu kochen oder schlimmer: gekocht zu werden. Vermutlich war es purer Überlebensinstinkt, nach Berlin zu ziehen, in die Bundesrepublik, das Land der untergegangenen Sonne. Nun aber scheint mein Nervensystem offenbar einen neuen Ort zu erschaffen, eine Mischung, ein kälteres Tbilissi, ein wärmeres Berlin, ein Berlissi.

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Ding dang dong, ding dang dong … Ich kann und kann mich nicht an das Geläute gewöhnen, das zu jeder vollen Stunde am Ende unserer Straße ertönt. Unserer heißt in diesem Fall – Salomés, Alissa Chihiros und meiner.

Wenn man von der Brunnenstraße in die Gustav-Meyer-Allee einbiegt, steht man nach ungefähr zwanzig Metern vor der Himmelfahrtskirche und dem hohen Glockenturm, der aussieht wie eine Bleistiftspitze. Ganz oben hängt eine kleine Glocke, die jede Stunde läutet, als verkünde sie das Ende der Welt. Nach allem, was passiert ist, werde ich mich wohl nicht mehr damit anfreunden. Sobald sie läutet, läuft es mir kalt den Rücken hinunter, und ich denke, etwas Schreckliches wird sich ereignen oder ist soeben geschehen. Ding dang dong, ding dang dong …

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Aus unseren Fenstern blickt man direkt auf die hohen Baumkronen des Humboldthains und den Flakturm, der wie ein Atompilz aus dem Park herausragt. Hier waren zu Hitlers Zeiten schweres Geschütz und Funkabhörsysteme der Artillerie stationiert. Solchen Flaktürmen begegnet man in Deutschland immer noch vereinzelt, sie zählen zu den unliebsamen Sehenswürdigkeiten.

Der Turm wirkt auch bei geringem Phantasievermögen erregend, besonders nachts, wenn man von der Aussichtsplattform das wie von Glühwürmchen funkelnde Berlin erblickt. Tagsüber hingegen verdecken die Baumkronen den Blick auf den im Park angelegten Rosenplatz, auf das Freibad und den Spielplatz. Der Humboldthain ist ein großer und erbarmungswürdiger Park mit internationalen Obdachlosen und austrainierten Joggern, die von früh bis spät vor Gesundheit keuchend an einem vorbeirennen. Dabei umweht einen stets ein Hauch Schweiß, der von ihren Körpern dampft. Und dann sind da noch die Bio-Mütter. Sie schieben beim Laufen ihre überdimensionierten Kinderwagen vor sich her. Mit ihren mondfahrzeugbreiten Reifen, der sehr elastischen Federung, den Netzbelüftungslöchern für die Luftzirkulation und den synthetischen Fenstern im Regenschutz haben sie mehr von einem Raumschiff als von einem Kinderwagen.

Ein Kapitel für sich sind die Eichhörnchen, die in jedem Winkel des Parks anzutreffen sind. Manchmal begegnet man auch dem alten Hirsch, der beim Weiden wie die Kuh eines benachbarten Bauern bis zur Liegewiese herankommt.

Die Beschreibung klingt zunächst vermutlich nach Schneewittchenwald, doch der Humboldthain muss neben dem Flakturm noch schlimmere Dinge verbergen. Es gibt keine schöne Fläche ohne eine schreckliche Tiefe. Ein ausgiebiger Spaziergang genügt, um sich davon zu überzeugen. Neuerdings trifft man auf tote Vögel, die daliegen wie buntes Konfetti unter einem Weihnachtsbaum. Ganz verschiedene Vogelarten, mal mit abgehacktem Hals, mal mit zerquetschtem Kopf. Oder gar tote Vogeljungen, auf denen Fliegen sitzen. Irgendwie fühle ich mich hier wie im Film. Hätten Disney und Hitchcock gemeinsam einen Musical-Thriller produziert, beispielsweise mit dem Titel »Schneewittchen und die Vögel«, er hätte eine ähnliche Atmosphäre.

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Ich lebe jetzt schon so lange in diesem Berlin, das wie eine Notdienstapotheke allen rund um die Uhr offensteht, und noch immer habe ich das Gefühl, in Tbilissi zu sein. Mit der Zeit erhärtet sich mein Gefühl, dass jedes Tröpfchen Blut in mir georgisch ist. Jetzt verstehe ich, was Thomas Mann meinte, als er in Amerika sagte, »Wo ich bin, ist Deutschland«. Je länger ich Georgien fernbleibe, desto mehr steigert sich in mir alles Georgische. Zum Glück oder leider geschieht das ganz unbewusst.

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Schon bald ist Mitternacht. Während ich meine Zähne putze, ist Salomé auf dem Sofa zusammengerollt eingeschlafen. Neben ihrem Kopf liegt der aufgeklappte Laptop. Der Bildschirm ist erloschen. Sie hätte mir kaum eine größere Freude machen können! Besonders, weil sie noch vor zehn Minuten vorgeschlagen hatte, Carl Theodor Dreyer’s »Vampyr« zu schauen. Strahlend hatte sie verkündet, die ungekürzte Fassung aufgetrieben zu haben.

Zwar ist es inzwischen unsere Gewohnheit, vor dem Einschlafen noch einen Film zu schauen, aber ihretwegen komme ich mir dabei stets vor wie bei einem Indie-Filmfestival, wo man praktisch nur zwischen der mexikanischen und der rumänischen Nouvelle Vague oder dem chinesischen und finnischen Arthaus wählen kann. In letzter Zeit steht gar die Retrospektive der frühen Stummfilme auf unserem Programm. Ich habe natürlich nichts dagegen, aber hin und wieder sollte man sich auch mal der Massenkultur zuwenden, so wie eine Nonne der Pornographie. Außerdem gibt es ja – zum Glück – noch diese leichtfüßig-anspruchsvollen Filme zwischen Mainstream und Autorenkino.

Ich versuche immer wieder, Salomé für etwas Mittelmäßiges zu interessieren, für etwas, das selbst einem Filmbanausen ans Herz gehen würde. Ab und zu muss einem etwas ans Herz gehen, damit es nicht zu einem Eisklumpen verkommt. Ich persönlich bin sowieso eher der Typ für Melodramen und würde vor dem Schlafengehen lieber »Der Zauberer von Oz« oder zum zigsten Mal »Billy Elliot« gucken. Mit Salomé aber sind Dreyers »Vampyr« und Brownings »Freaks – Missgestaltete« unsere Gutenachtgeschichten. Vermutlich werde ich deshalb von Alpträumen geplagt und nicht wegen des Interferons.

In »Der Zauberer von Oz« gibt es eine Szene, in der der kleine Cairn Terrier Toto auf einem alten Leiterwagen sitzt und Dorothy seine Pfote reicht, kurz bevor sie aufhört zu singen. Als Kind wollte ich so gern dieser Toto sein, und dann sänge Dorothy Gale nur für mich. Das will ich immer noch und manchmal wird es wahr, obwohl »wahr werden« es nicht ganz trifft, aber wenn man sich schon nicht in einen Hund verwandeln kann, kann man doch immerhin ein Hundeleben führen. Mit etwas Glück findet man auch eine Dorothy, die einem vorsingt und einen gelegentlich streichelt. Das sind die Berührungen, die Welten erschaffen. Man fühlt sich wie neu geboren. Für mich handelt diese Szene vom gleichen Moment wie die Erschaffung Adams, überhaupt glaube ich, dass »Der Zauberer von Oz« eine Hollywood-Variante der Sixtinischen Kapelle ist.

Ich hatte in dieser Hinsicht immer Glück. Die Frauen, mit denen ich zusammen war, hatten mehr oder weniger etwas von Dorothy. Zumindest hab ich mich an ihrer Seite als kleines Hündchen gefühlt, und man könnte sagen, dass mich die Frauen erschaffen haben. Dabei hat mir jede von ihnen etwas sehr Wichtiges und höchst Persönliches mitgegeben. So wie ein Juwelier seinen Schmuck prägt, so hat mich jede Berührung verformt.

Zu »Billy Elliot« könnte man sagen, dass der Film von mir handelt. Die Geschichte von einem sehr lustigen und seltsamen Jungen, der lieber mit den Mädchen zusammen an der Stange die Beine schwingt und Ballett übt, als den Jungs die Zähne einzuschlagen. Ballerinas statt Boxhandschuhe.

Ich mache zwar den Eindruck eines groben und reservierten Typen, bin aber innerlich zartrosa und weich. Salomé hingegen ist eine kleine Frau, so zierlich, dass sie wie ein Maikäfer in eine Streichholzschachtel passen würde. Aber sie hat einen so eisernen Charakter, dass jeder Metalldetektor sofort Alarm schlägt. Deshalb wird sie am Flughafen auch immer sehr gründlich durchsucht.

Leicher hat Stieg Larsson sie nicht kennen gelernt, sonst gäbe es einen weiteren Roman von ihm: »The Girl Who Blows up Alarm Detectors«.

Ich decke sie vorsichtig zu, während sie weiterschläft und schleiche mich aus dem Zimmer. Viel lieber lege ich mich jetzt neben Alissa Chihiro, als mir den »Vampyr« in ganzer Länge anzuschauen.

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Im Real des Einkaufszentrums Gesundbrunnen ist es an Samstagen gewöhnlich so überlaufen, dass man nicht nur eiserne Nerven braucht, sondern am liebsten gleich ganz aus Stahl wäre, um unversehrt zu überstehen. Besonders turbulent geht es vor den Feiertagen zu. Man könnte meinen, ein Krieg sei ausgebrochen und die Bevölkerung decke sich für mehrere Monate mit Vorräten ein, um sich damit im Keller zu verschanzen. Groß und Klein schieben ein oder auch zwei vollgeladene Einkaufswagen vor sich her und bilden eine endlose Schlange vor der Kasse. In den Wägen liegt alles Mögliche: Schaschlikspieße im Fünferpack und abgewogenes geräuchertes Kalbfleisch von der Theke, frisches Lachsfilet und gefrorene Hühnerschenkel, Katzenfutter und Grillkohle. Ganz zu schweigen von den verschiedenen Wurst- und Käsesorten, sowie den vielen Naschartikeln. Der Inhalt dieser Einkaufswagen würde bei weniger begüterten, kleinen Nationen für ein ganzes Jahr ausreichen. Wobei ein Wagen ausschließlich für Alkohol und Erfrischungsgetränke reserviert ist und so viele Kästen und Träger übereinander gestapelt sind, dass der Käufer kaum noch dahinter zu sehen ist. Wenn es nach mir ginge, würde ich an solchen Tagen eine Neonüberschrift an die Supermärkte anbringen: »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!«

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Im Wartezimmer von Doktor Floßdorf gibt es schon frühmorgens eine Schlange. Aber die Schwester lässt mich nicht lange warten und ruft mich außer der Reihe auf. Keine Ahnung, warum ich bevorzugt werde. Der Doktor ist wie immer gut gelaunt. Er fragt mich lächelnd, wie ich das Medikament vertrage und holt dabei aus dem randvollen Medizin-Kühlschrank das Interferon heraus. Als wolle er mir ein Stück übriggebliebene Torte anbieten. »Alles in Ordnung«, antworte ich ebenfalls lächelnd.

Floßdorf ist ein älterer Herr mittlerer Größe, der mit seinem bis auf drei Haare am Ansatz kahlen Schädel an den alten Thomas von Aquin erinnert. Er hat rote Wangen wie ein Prinz, weiche Hände und einen kleinen Bauch. Immer in Weiß gekleidet, trägt er auch weiße Pantoletten auf Gummisohlen. Es fehlt nur noch eine weiße Haube und man könnte ihn nicht von einem Bäcker unterscheiden. Ich verstehe nicht, warum er so sehr um mich bemüht ist und warum er mich kostenlos behandelt? Diese Interferon-Therapie ist sehr teuer. In Tbilissi haben sich Menschen in lebenslange Schulden gestürzt, um ihre Leber zu kurieren. Manch einer verpfändet sogar seine Wohnung und hat letztendlich weder Leber noch Bleibe. Dennoch geht das Leben irgendwie weiter. Also, was man auch von Georgien behauptet, immerhin kommt man dort nicht nur ohne Wohnung und Leber, sondern auch ohne Grips im Kopf durch. Schließlich haben wir es bis heute geschafft. Das Wichtigste für uns ist auf jeden Fall das Herz. Wer das Herz am rechten Fleck trägt, dem gelingt auch alles andere, sagt man. Unsere Herzen versorgen nicht nur den Körper mit Blut, nein, sie tun viel mehr als das. Zwar sind sie der Seele ähnlich, aber dennoch nicht ganz Seele. Die ist etwas Ephemeres, deren Existenz man sich nur schwer vergewissern kann. Das Herz spürt man. Und wie man es spürt! Besonders dann, wenn es einem wie ein Kloß im Halse steckt. Solange das Herz schlägt, brauchen wir weder die Leber noch sonst etwas. Wenn aber das Herz stillsteht, gehen auch die Georgier zugrunde. Solange existieren wir irgendwie, mit klopfendem Herzen. Wir zappeln und zucken wie Fische an Land.

In einem gut funktionierenden Staat werden die Kosten für die Interferon-Therapie von der Krankenversicherung getragen. Leider ist Georgien noch nicht so weit. Es gibt bei uns noch keine Krankenversicherung, ob staatlich oder privat, die die Behandlung von Hepatitis-C übernimmt. Dafür haben wir eine »Allgemeine Krankenversicherung«, die jeder Bürger in Anspruch nehmen kann. Zwar bekommt man dafür vom Arzt nicht mal ein Pflaster auf die Wunde geklebt, aber immerhin klingt es ganz respektabel: Die Allgemeine Krankenversicherung.

Doktor Floßdorf ist ein sehr bemerkenswerter Mann: Er hat sich entschieden, meine Leber ohne jegliche Krankenversicherung zu behandeln. Dabei ist er nicht mal auf Hepatitis spezialisiert. Meines Wissens hat er für mich in verschiedenen Kliniken bei seinen Kollegen um Interferon und um Ribavirin gebeten. Und sie haben es ihm gegeben, für mich, einen Fremden. Arzneimittel zu einem Preis, zu dem man in Tbilissi eine kleine Wohnung kaufen könnte. Zwar eine im Randbezirk, aber dafür eine renovierte. Dabei haben mich die noblen Spender nicht mal gesehen. Aber ich frage mich schon, wie das praktisch möglich ist. In Deutschland wird ja alles ganz detailliert aufgeschrieben, gezählt und normiert. Das Interferon und Ribavirin liegt ja nicht auf der Straße herum. Besonders in Berlin, wo man selbst auf Hundescheiße nur selten stößt. Ganz im Unterschied zu Tbilissi, wo überall die Fäkalien unserer vierbeinigen Freunde herumliegen. Und nicht nur die der Vierbeiner, und nicht nur die unserer Freunde. Ich kann mir nicht erklären, wie das Medikament zu mir gelangt ist. Ich glaube, es handelt sich hier um einen veritablen Komplott: Eine Handvoll Mediziner umgehen in gemeinsamer Absprache das bürokratische Gewirr. Sie sind wirklich Ärzte ohne Grenzen.

Bei Floßdorf fällt einem sofort der Doktor Aibolit aus der Geschichte von Kornej Tschukowski ein, der die kranken Tiere mit Schokolade und Goglimogli, also Zucker-Ei, kuriert. Floßdorf ist genauso sonderbar wie Aibolit, auch wenn das Interferon keine Schokolade und das Ribavirin kein Goglimogli ist. Die Behandlung scheint ihm so einen Spaß zu machen, dass er nicht mal die Krankenschwester an mich heranlässt. Jeden Montag setzt er mir eigenhändig die Injektion in den Bauch. Erst wischt er die Stelle am Nabel mit Watte und Alkohol ab und führt dann das halbe Milligramm Flüssigkeit so langsam ein, dass man dabei locker eine Zigarette rauchen könnte.

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Man sagt, den Bürger überkomme besonders nach dem Krieg die Lust auf gute Taten. Eine ziemlich halbgare Weisheit, aus der nicht klar wird, worum es geht: Ehre oder Perversion. Erst kürzlich habe ich dieses Verhalten selbst beobachten können. Ein Demonstrant (mit einer roten Fahne am Holzstiel, zerfetzten Jeans und Armeestiefeln), unterwegs vom Prenzlauer Berg Richtung Kreuzberg zur 1. Mai-Demonstration, erwarb in der U-Bahn am Automaten ganz brav ein Ticket und entwertete es auch noch vor der Abfahrt, ich meine, genau der Typ Demonstrant, der sich bei der Demo höchstwahrscheinlich mit der Polizei prügelt, Bankschaufenster einwirft und umgekippte Autos anzündet. In Tbilissi hingegen habe ich Leute gesehen, die eine Mercedes S-Klasse in der Garage stehen haben und den Zähler in der Wohnung mit einem Streifen Fotofilm anhalten, um Stromkosten zu sparen. Vielleicht spiele ich hier auch mit Allgemeinplätzen, aber das Fazit ist doch, dass der homo civis hier in Berlin nur in besonderen Ausnahmefällen gegen die Ordnung verstößt, wir Georgier aber nur in besonderen Ausnahmefällen die Ordnung einhalten. Wenn keines von beiden eine Perversion ist, muss es eine Frage der Ehre sein. Um das besser zu verstehen, muss man die wichtigsten – gern bei Trinksprüchen vorgebrachten – soziokulturellen Kategorien Georgiens kennen: die Standfestigkeit, was soviel heißt wie unwiderruflich von sich selbst eingenommen zu sein. Die allseitige Verbrüderung, also ein schweigsames Nebeneinandersitzen zweier Männer, die rauchen. Und eine Alles-Versteher-Attitüde, die oftmals dazu dient, sich gegenseitig bei allerlei Machenschaften zu decken.

Immer wieder hört man von den Georgiern, die in Berlin leben, dass wir daheim dieses Niveau hier niemals erreichen werden usw. Dabei schwingen in ihren Stimmen masochistisch zufriedene Töne mit. Wie bitte? In Tbilissi ist doch alles genauso wie hier, nur umgekehrt. Wer weiß denn, was eine größere Perversion ist, ein revolutionärer Demonstrant, der ein Ticket entwertet, oder ein Mercedesfahrer der einen Streifen Fotofilm in den Stromzähler steckt?

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