image

Beat Reidy

Er suchte den Tod und
fand das Leben

Roman

Image

© 2016 Beat Reidy

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7345-7536-5
Hardcover:978-3-7345-7537-2
e-Book:978-3-7345-7538-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Image

www.tredition.de

Ein grosses Staunen setzte ein, als ich von Felix eine Ansichtskarte aus Montreux erhielt.

Von ihm hätte ich wohl zuletzt eine Karte erwartet. Und das aus Montreux, dem mondänen Treffpunkt der arabischen Schickeria oder der Jazz-Freaks. Felix liebte die Abgeschiedenheit und Kargheit der Berge. Der Berg nicht nur als Trutz-, sondern auch als Trotzburg. Er zog sich in seine abgelegenen Krächen zurück, um dem lärmigen Alltag, dem Karneval der Moderne, zu entfliehen und zu trotzen.

Aber warum schickte er eine Schwarzweiss-Karte? Wo war das Postkartenwetter, wo das goldene Schimmern, das die funkelnde Sonne über den See zauberte? Wo vereinigten sich die Blautöne des Himmels und des Sees im Unendlichen, so dass dieser zum Meer wurde? Auch die mil- chigen Gletscher und die weissen Flecken der holsteinscheckigen Dents du Midi fehlten.

Meine Überraschung wich Beklemmung, als ich den Text las.

Habe hier ein Hotel gefunden.

Es herrscht richtiges Postkartenwetter, zum draussen Sitzen und Karten Schreiben.

Grüsse meine Kollegen.

Leb wohl.

Kannst mich ja dann beWeinen.

Felix

Zuerst glucksen, dann oszillierende Gedankensprünge.

Was war da in Felix gefahren? Was für ein Spiel trieb er mit mir? Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

Und sein Wortspiel, das unserer monatlichen Meetings bei einem Glas Wein gedachte, Treffen von berufstätigen und pensionierten Lehrern einer Mittelschule.

Was war mit Felix los? Für Lateiner war er ja der Glückliche. Schwarzer Humor war nicht sein Ding, damit hatte er sich nie ausgezeichnet. Ich hatte ihn in letzter Zeit etwas aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn verloren. Als ich ihn jüngst in Eile auf der Strasse traf, sagte er nur, er gehe seiner Bestimmung entgegen, die Aussichten seien gut. Bei der letzten Weinrunde wollte ich ihn um eine Erklärung bitten, aber leider erschien er nicht.

Vielleicht wusste Josef etwas, der ihm ebenfalls nahestand und der jetzt wohl zu Hause war. Sollte ich einen Anruf wagen? Eigentlich hatte ich ja nichts zu verlieren. Gewissheit war in jedem Fall besser.

Nach fünfmaligem Klingelton hoffte ich, dass er nicht zu Hause war. Was wollte ich ihn eigentlich fragen? Machte ich mich nicht lächerlich? War ich etwa einer Täuschung auf den Leim gegangen? Doch schon erklang seine Stimme. Ich räusperte mich, was mir aber nicht richtig gelingen wollte, weil die Kehle zugeschnürt und der Mund trocken war. Ob er von Felix auch eine Ansichtskarte erhalten habe. Er bejahte. Er war so überrascht gewesen wie ich zuvor, weil er bisher auch nicht das Glück gehabt hatte, ihn als Kartenschreiber kennenzulernen. Er bestätigte mir, was ich schon wusste: Felix war vor einem halben Jahr, in Gedanken versunken, auf dem Eis ausgerutscht, hatte mit der harten Wirklichkeit des Pflasters schmerzhafte Bekanntschaft gemacht und eine Gehirnerschütterung davongetragen. Er hatte ausserdem Bypässe erhalten. In letzter Zeit klagte er über Beschwerden und schlief schlecht, so dass er seit ungefähr einem Monat seinem Beruf als Mittelschullehrer nicht mehr nachgehen konnte, ein Arztzeugnis bekam und bis zu den Osterferien freigestellt war. Ein erneuter Eingriff stand bevor. Viel gab Felix nicht preis. Seinen wenigen Andeutungen konnte man entnehmen, dass ihn ein Nachlassen seines intellektuellen Spürsinns und gedanklichen Witzes beunruhigte. Für mich aber zeigte er keine Auffälligkeiten und war der Felix, den ich kannte: ein ruhiger, besonnener Intellektueller, der mit seiner sokratischen Befindlichkeit allem auf den Grund ging, alles hinterfragte und dabei mit Humor nicht zurückhielt, aber eben auch verschlossen war, jedenfalls um seine Person ein Geheimnis machte. Andere würden ihn wohl aufgrund seiner markigen und markanten Worte oder Gesichtszüge, der langen und drahtigen Gestalt, der kehligen, etwas rauen Sprechweise, des gemächlichen, etwas gebeugten Ganges und der Vorliebe für Wanderungen eher als Naturburschen bezeichnen. Am vorletzten Männerabend hatte er, Historiker und Literaturwissenschaftler, aber eigentlich ein bibliophiler Allrounder angedeutet, dass er sich gerade mit Schöpfungsmythen beschäftige.

Am folgenden Tag durfte ich, da ich bereits im Ruhestand war, nach dem Frühstück mit der Lektüre der Lokalzeitung beginnen. Und da war sie, die Todesanzeige: „In stiller Trauer teilen wir mit, dass Gott, der Herr über Leben und Tod, unseren geliebten Felix in den ewigen Frieden abberufen hat. Er starb am 2. März 2012 im Alter von 64 Jahren unerwartet an Herzversagen. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.“

Also doch, Felix hatte kein Spiel mit mir getrieben. Eine Angabe über eine Beerdigung fehlte. Felix, Atheist oder Agnostiker, war offenbar aus der katholischen Kirche ausgetreten.

Als Todesursache wurde Herzversagen genannt. Eine Recherche bei Wikipedia, diesem allzeitbereiten, weltumspannenden und allwissenden Kompendium, bestätigte mir, dass Herzstillstand durch Tablettenvergiftung herbeigeführt werden konnte. Der Schein war damit gewahrt. Schon im Mittelalter hätte Felix so kirchlich beerdigt werden können, hätte er darauf und auf ein ehrendes Anden- ken Wert gelegt.

Als Traueradresse wurde, da Felix nicht in einer Partnerschaft lebte, diejenige eines Bruders angegeben, zu dem Felix wenig Kontakt hatte und den ich deshalb nicht kannte. Sollte ich ihn anrufen, um Genaueres zu erfahren? Nach kurzer Denkpause beschloss ich, meinem Drang nicht nachzugeben. In dieser schwierigen Zeit wollte ich keine Kritik äussern. Von Josef erfuhr ich telefonisch, dass keine Obduktion angeordnet worden sei.

Tage später rief mich der Bruder an. Offenbar hatte Felix ihm meine Koordinaten gegeben. Felix sei in einem Hotel in Montreux tot aufgefunden worden. Der Arzt habe ein Herzversagen diagnostiziert. In Felix’ Wohnung, im Zimmer auf der rechten Seite, habe es noch Unterlagen und Bücher, mit denen er nichts anfangen könne und die bei mir in besseren Händen seien. Die Wohnung sei offen, ich könne sie jederzeit holen. Auf unangenehme Fragen verzichtete ich.

Am folgenden Tag machte ich mich auf, um erstmals Felix‘ Wohnung zu betreten. Auf lädierten Stufen gelangte ich in den ersten Stock. Im pastellfarbenen Zimmer dominierte ein Bild von beträchtlicher Grösse. Ein Chaos von Strichen und Flächen, die zerlegt wurden, sich vergitterten oder facettenreich durchdrangen. Der Gegenstand, sofern es bei dieser Darstellung überhaupt einen gab, war verzerrt und verformt. Eine einheitliche Perspektive war nicht zu erkennen. Raum und Zeit, die Logik des Natürlichen schienen aufgehoben. Es würde mich nicht wundern, wenn Felix eine Deutung dieser vielschichtigen Komposition gehabt hätte. Auf mich wirkte das ganze Zimmer wie Patchwork, obwohl Felix nicht Teil einer Patchwork-Familie war. Das Bild hatte weder mit einem Tiger-Poster, das Kraft und Eleganz verband, noch mit einer fein ziselierten, altertümlichen Kommode und dem einfachen, aber zweckmässigen Schreibtisch eine innere Verwandtschaft.

Die Unterlagen befanden sich auf dem Schreibtisch. Das meiste waren Abhandlungen über philosophische Themen und geschichtliche Darstellungen. Daneben Klassiker deutscher Dichtung. Ich wollte später einmal mitnehmen, was ich brauchen konnte. Aussergewöhnlich nur ein von Felix‘ Hand geschriebenes Manuskript.

Zu Hause entdeckte ich, dass es sich bei ihm um einen Text handelte, der, Felix‘ Bescheidenheit entsprechend, ganz simpel als Erzählung betitelt war, obwohl der Umfang eher einem Roman entsprach. Interessant aber, wesentlich kleiner und in Klammer, ein Untertitel: «Fiktive Autobiographie. Ein Spiel». Warum hatte Felix nie erwähnt, dass er schrieb? Konnte er nur so sagen, was er uns vorenthielt? Fand er in der Fiktion eine Rückzugsmöglichkeit?

Bevor ich mit der Lektüre beginnen konnte, ein Anruf von Markus, der die Todesanzeige gesehen hatte. Er war Kassierer einer gemeinnützigen Institution. Felix sei Gönner gewesen. Wie aus dem Kontoauszug der Organisation ersichtlich sei, habe er der Organisation vor dem Tod ein Legat von 20 000 Franken vermacht. Bei Felix‘ Tod hatte offenbar doch nicht der Zufall seine Hand im Spiel, obwohl Felix ein entschiedener Verfechter des Zufalls war und nicht an Gottes gnädig einwirkende Hand glaubte.

Da keine Verpflichtungen anstanden, konnte ich mich nun ganz dem sonderbar anmutenden Text widmen und eintauchen.

Christian hatte sich entschieden. Daran wollte er sich halten, festhalten. Nach dem, was vor einem Monat geschehen war.

Er steuerte damals die Berge an. Alles war so gewöhnlich. Die Strecke kannte er. Hier, in seinem Geburtsort, die Schweinemästerei, deren Geruch einem nicht entgehen konnte. Dort die mächtige Kirche, deren Glocken die frohe Botschaft für einmal nicht verkündeten. Als Messdiener hatte er sie als bedrohlich und die Sakristei als unheimlich empfunden. Wenn er an diese Zeit dachte, drängten sich, hymnisch verklärt, noch andere Bilder auf:

Das Dröhnen vielstimmiger Osterglockenfugen auf hallenden Kopfsteinfriedhöfen.

Glänzende Augen auf vergilbten, braun verblichenen Bildern von Erstkommunionsgefilden.

Süsslicher Weihrauchfässerduft, flackerndes Kerzenlicht, unruhige Schattenspiele erzeugend unter verrussten Gewölben miefiger Kirchen.

Prangende Harnische von weiss-violett gekleideten, munteren Messdienerjungen, züchtig gefaltete Andachtshände vor goldig verbrämten Marienaltären.

Dämonischen Fratzen, die mit höhnischem Grinsen bei den Vertrauensvollen und Gottesfürchtigen uralte Ängste vor dem Jüngsten Gericht und dem Tag des Zornes schüren.

Felix, diesen poetischen Erguss hätte ich dir, dem Spröden, nicht zugetraut. Doch heute schreibt man anders.

Aber kaum hatte er den Friedhof hinter sich gelassen und die Rechtskurve, die von Bäumen bestanden war und sich endlos drehte, geschafft, fuhr er - aber was ist denn das da? Ein schlaksiger Junge - Shorts, flinke Beine, Turnschuhe, einen Apfel in der Hand – kommt immer näher. Schon wird er zu einer dunklen Silhouette vor dem schräg einfallenden Blendlicht der aufgehenden Sonne. Dann ein schwarzes Bündel und, scherenschnittartig, ein Zappelphilipp, wie von der Feder geschnellt, ein verletztes Tier auf der Flucht. Plötzlich ist Christian hellwach. Müdigkeit, Starre, Lethargie wie weggeblasen, ein Adrenalinschub. Stopp, quietschende Bremsen, der dumpfe Aufprall.

Er reagiert mechanisch, legt den Rückwärtsgang ein, parkt auf dem Gehsteig.

Felix, du warst ja nie der Schnellste, sahst schlecht und hattest stets ein Wrack mit abgenutzten Reifen.

Er rafft sich auf, steigt aus, die Glieder bleischwer, droht im Boden zu versinken, taumelt, von Schwindel erfasst, ergreift das Pannendreieck, schreitet die ihm passend erscheinende Strecke ab, bringt es mühsam in die richtige Form, legt es nieder.

Auf dem Rückweg sieht er die Menschentraube. Er hält Distanz, will sich nicht bösen Blicken aussetzen, im Kreuzfeuer stehen. Auf der Strasse ein lebloser Körper, geschunden, Blutungen, Schürfungen, die Kleider verrutscht und befleckt. Daneben, gebückt, ein Mann, der offenbar versucht, den Knaben zu reanimieren. Jemand hält Autos an oder winkt sie durch. Christian wartet beklommen, von banger Erwartung umklammert.

Schon hört er die schrille Sirene der wohl per Handy avisierten Ambulanz, eine ferne Mahnung, die immer vorwurfsvoller klingt und schliesslich zur dröhnenden Anklage wird. Nach kurzer Untersuchung wird der Knabe auf die Bahre gelegt und abtransportiert. Unterdessen ist auch die Polizei eingetroffen. Sie sichert die Unfallstelle, fotografiert, wendet sich Leuten zu, die auf ihn, Christian, verweisen.

Während ein Polizist mit der Zeugenbefragung beginnt - die Menschentraube hat sich noch nicht aufgelöst -, macht sich dessen Begleiterin auf, nähert sich, wendet sich ihm zu. Der Knabe war auf der Stelle tot, ist an einem Schädelbasisbruch gestorben. Die Blutprobe fällt negativ aus. Der Knabe hat offenbar auf der anderen Strassenseite einen Freund gesehen, wollte ausserhalb des Fussgängerstreifens sofort zu ihm gelangen und hat das Auto nicht bemerkt. Er, Christian, ist von der tiefstehenden Sonne geblendet worden.

Aha, das bist du gewesen. Ich habe einen Bericht gelesen.

Nun kommt eine verhärmte Frau zu ihm. Am blassen Gesicht, an den holen Wangen und glasigen Augen erkennt er die Mutter. Sie wisse, dass er nicht schuldig sei. Ihr Lucca, ihr einziges Kind, habe ihn übersehen. Sie habe ihn gewöhnlich vom Kindergarten abgeholt, aber heute sei sie verhindert gewesen. Sie habe ihren Mann schon benachrichtigt, er werde gleich kommen. Sie gibt ihm die Hand und geht.

Wehe dem, der in friedlichen Gefilden einem unschuldigen Kinde Gewalt tut. O blutendes Wild, härene Frau. Das knöcherne Antlitz des Grauens, versteinerte Trauer. Weh der Schuld des Verfluchten, Zeichen des entarteten Geschlechts.

Wollust des Todes

Reichlich dunkel und antiquiert. Warum die Emphase?

Einem jungen Leben wird die Zukunft geraubt von einem, der keine mehr hat. Er denkt an die Mutter. Ihr Haus ist nun still und leer. Jedes Spielzeug erinnert sie an Kinderlachen. Die Nächte ziehen sich träge dahin. Um 8 Uhr denkt sie daran, wie sie ihren Lucca angezogen und in den nahegelegenen Kindergarten entlassen hat. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie ihn dieses eine Mal nicht begleitet hat. Am Mittag würgt sie hinunter, was er, Christian, ihr eingebrockt hat. Und da sind Luccas Zeichnungen: das Haus mit dem grossen Kamin vor einer lachenden Sonne, die übergrossen Äpfel am dickstämmigen Baum. Und Fotos: ein neugieriger, aber auch ernster Blick, aufstehende Haare. Und wie gern ist er durch Pfützen gepatscht, so dass es aufspritzte und er die Hosen beschmutzte.

Doch alles Sinnieren half jetzt nicht weiter. Er hatte wieder einmal versagt. Vielleicht hätte er noch schneller reagieren können. Er war schon immer langsam gewesen, deshalb hatten sie ihn in der Schule auch „Lama“ genannt. Und er war sicher wieder einmal zerstreut gewesen, hatte die Lage nicht richtig eingeschätzt. Aber zu schnell gefahren war er nicht, das wusste er. Ob seine Medis für Herz und Schmerz ihn benebelt hatten? Oder waren es die Auswirkungen seines Unfalls mit der Scheibe? Er war nämlich mit dem Kopf an die Scheibe einer Bushaltestelle geprallt. Seither wusste er, der Kopflastige, wo ihm der Kopf stand, und war nicht richtig im Kopf, wie die Leute glauben mochten.

Felix, du hast zwar nicht gut gesehen, warst manchmal nicht bei der Sache, aber du bist frei von Schuld, in jeder Hinsicht.

Unheil war über ihn hereingebrochen. Die Dinge hatten ein Eigenleben erhalten, das ihm auflauerte und sich gegen ihn richtete. Eine aberwitzige Verkettung von Zufällen, verhängnisvoll und unentrinnbar. Stand dahinter nicht die strafende Allmacht des Richters, der kam zu richten die Lebendigen und nicht die Toten? Nein, wenn jemand richten konnte, dann war er es, Christian. Und er wollte nicht kneifen. Die Zeit war gekommen, die Augen nicht mehr zu verschliessen und endlich in die Tat umzusetzen, was er seit langem ins Auge gefasst hatte. Die nötigen Medikamente hatte er sich besorgt. Diese eine Woche, die heute begann, wollte er sich noch geben, aber das musste eine besondere sein. Vom Unglück hatte er zwar weder ein Schleudernoch ein Psychotrauma davongetragen, er war nicht ins Schleudern geraten. Aber seine Rückenschmerzen hatten zugenommen, so dass er jeden Tag, wenn die Schmerzen einsetzten, ein Mittel einnehmen und sich für einige Zeit hinlegen musste. Dieser Plackerei wollte er ein Ende bereiten.

Dir, dem unabhängigen Denker, nehme ich diese Haltung ab. Aber hattest du keine Angst vor dem Ungewissen? Sahst du keine andere Lösung? Und hattest du die Medis von deinem befreundeten Apotheker, oder wurdest du von einer Sterbehilfeorganisation begleitet?

Beschwerden verursachte auch das Herz. Vor einiger Zeit war ihm ein Herzschrittmacher eingepflanzt worden, aber nicht so organisch, dass er mit ihm Schritt halten konnte. Er litt weiterhin an Herzrhythmusstörungen und war deshalb gewillt, dem Schrittmacher seine Gefolgschaft zu verweigern. Auch mit seinen kalkigen Ablagerungen wollte er sich nicht abfinden.

Die frühere Beschwerlichkeit des Seins empfand er indes nicht mehr. Damals war für ihn nichts schwerer, als das Leben leicht zu nehmen, nichts einfacher, als sich das Leben schwer zu machen. Sein Leben war nicht linear oder im Kreis, sondern schlaufenartig, in Variationen, verlaufen.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er noch die Pflanzen begiessen musste. Bei dieser Tätigkeit machte er sich jeweils ein Vergnügen daraus zu erfahren, wie weit er den Teller füllen konnte, ohne dass Wasser herausfloss. Seine beschränkte Sehkraft und sein Wagemut hatten oft nasse Böden zur Folge. Er liebte es, an die Grenzen zu gehen. Nicht nur bei physikalischen Erscheinungen. Grenzerfahrungen interessierten ihn.

Diesmal ging nichts daneben. Er war ja jetzt geerdet. Der Unfall hatte ihm jedoch deutlich gemacht, dass seine Kräfte nachliessen und er Defizite zu verzeichnen hatte. Da er sein Glück wollte, musste diese ungünstige Entwicklung gestoppt werden. Er wollte sich, im Herbst seines Lebens, noch eine letzte Woche am Feuerwerk der Farben ergötzen. Er hatte sich schon vor einiger Zeit von überkommenen Standpunkten befreit und begonnen, selber zu denken. Er wollte in der letzten Woche als Finale eine hochzît, ein letztes Fest, feiern und ein Höhenfeuer zünden. Wie alte Bäume, die besonders schön blühen, bevor sie absterben.

So wie ich dich kenne, bedeutet das nicht Jubel, Trubel, Heiterkeit.

Die Tagesstruktur, die sich im Ruhestand bewährt hatte, den geordneten Wechsel von körperlicher und geistiger Tätigkeit, von aktiver Passivität und passiver Aktivität, wollte er aber beibehalten.

In dieser Woche wollte er der Genese seines Lebens, seinem Werdegang, noch ein letztes Mal nachgehen, Spuren orten, die er in seinem Leben hinterlassen hatte, auch wenn viele kaum mehr sichtbar oder schon verwischt waren. Auch periphere Erfahrungen hatten ihren Reiz. Die Vergangenheit war für ihn nicht gestorben. Er war reich an Erfahrungen und Erinnerungen. Dieses Kapital war sicher, niemand konnte es ihm nehmen.

Bei seiner Retrospektive wollte er paradiesische Landschaften sehen, aber Schäden und Geschwüre nicht ausblenden. Früher hatte er auf seiner immerwährenden Suche nach der Quelle das Meer nicht gefunden. Oder war es umgekehrt? Jetzt wollte er nicht gegen den Strom schwimmen wie die Lachse, die sich aus grosser Entfernung mühsam an ihren Ursprung zurückbegaben, um Leben zu zeugen und dann zu sterben. Er wollte und konnte bei der Quelle beginnen, so dass das Leben allmählich an Fülle gewann. Je weiter er vordrang, desto voller wurde die Sanduhr. Das erlebende Ich, unentwegt fortschreitend, kam dem erinnernden Ich immer näher, bis es dieses einholte.

Konkave und konvexe Linsen wechselten sich bei der Rückschau ab. Sie war nicht Suche nach Bodensatz und keine Flucht in die Vergangenheit, weil der Gegenwart die Spannkraft fehlte. Die Vergangenheit sollte ihm auch nicht dazu dienen, die Zukunft zu bestehen. Erinnerung bedeutete für ihn Verdichtung. Dabei wurden unterschiedliche Erlebnisse ähnlich oder sogar gleich, sodass eine Stimme ihm zurief: Das hast du schon einmal erlebt. Er versuchte sich den weit zurückliegenden Ereignissen ausserdem meist so zu nähern, dass die Sicht nicht von der Kenntnis der Zukunft getrübt wurde.

Die Zeit, die kurzweilig war, weil er vieles erlebte, empfand er in der Retrospektive als lang. Die Zeit, die langsam verstrich, weil wenig geschah, er nicht abgelenkt war und auf sich selbst zurückgeworfen wurde, schien ihm kurz.

Indem er sich auf sich besann, konnte er gut loslassen. Wenn er sich veranschlagte, war sein Humankapital gering. Die Haare hatten, falls sie nicht schon ausgefallen waren, ihre ursprüngliche Farbe verloren. Auch die Fettansammlungen mussten als Negativposten unter den Passiven verzeichnet werden. Desgleichen sein Alter von 67 Jahren, das vom Zenit der Lebenspyramide meilenweit entfernt war.

Du machst dich einige Jahre älter.

Auch mit seiner unauffälligen Erscheinung konnte er keinen Staat machen: längliches Gesicht, braune Haare, schmale Brauen, graugrüne melancholische Augen, ebenmässige Nase, vollschlanke Statur, mittelgross. Schmeichler hielten ihn für jünger, als er war.

Jetzt schmeichelst du aber dir selber.

Heute, am ersten Tag seiner letzten Woche, wollte er das Dorf seiner Kindheit aufsuchen. Draussen graute ein lauter Tag. Christian wurde sofort vom Lärm der nahen Baustelle eingeholt. Im Quartier sollte ein neuer Supermarkt entstehen. Noch grösser als der bereits bestehende. Die Sonne, in den letzten Tagen omnipräsent, hatte spätwinterlichem Himmelsgeschwader weichen müssen. Christian war kalt, weil er nicht mit diesem Wetterumschwung gerechnet hatte.

Heute suchte er Ruhe und Frieden. Er hoffte, sie am Grab seiner Eltern, das wohl bald ausgehoben werden musste, zu finden. Unterwegs trübten wattige Nebelschwaden die Sicht. Auf dem Friedhof dachte er nicht nostalgisch, sondern eher bedrückt an die Zeit, die er hier als Kind erlebt hatte. Gesammelte und andächtige Gedanken wollten sich, bei so viel Relikten aus der Kindheit, am Grab nicht einstellen. Sie zerflatterten im Nirwana des idyllischen Ambientes. Ein verkrüppeltes Bäumchen trieb immer noch, oder wieder einmal, seine ersten Blüten. Es war Christian in seiner Kindheit mächtig und deshalb zum Klettern geeignet erschienen. Er erinnerte sich auch an ein altes, halb zerfallenes Holzhaus neben dem Friedhof, das sie Hütte nannten. Um den Bewohner zu ärgern, hatten sie mit klammen Händen Schneebälle in den offenen Kamin geworfen. Sie waren für den alten, gebrechlichen Mann, der aus der Türe trat und sie mit einem Stock verfolgte, unerreichbar.

Es fiel ihm hier schwer, eine Verbindung mit seinen Eltern aufzunehmen. Sie entschwanden ihm. Hoffentlich waren sie nun nicht das, wovon sie mehrmals gesprochen hatten: arme Seelen. Diese hatten sich ihnen, da unerlöst, als Poltergeist bemerkbar gemacht. Wenn man Messen für sie lesen liess, hatte der Spuk ein Ende. Noch immer «nahm» man an Gottesdiensten «das Opfer» für Arme-Seelen-Messen «auf».

Die Eltern – Schemen einer versunkenen Welt.

Der umtriebige Vater zeichnete sich schon bei Christians Geburt, einer Schwergeburt, aus. Er musste früh am Morgen in Aktion treten und dem Arzt Anweisungen geben, wie später berichtet wurde, damit die Operation zu einem sicht- und greifbaren Ergebnis führte. Die Schwere der Geburt konnte aber nicht dem Arzt angelastet werden, sondern den Eltern, die sich keine Rechenschaft darüber gegeben hatten, was es bedeutete, unter einem ungünstigen Morgenstern einen Fötus, die Frucht ihres Leibes, aus der behaglichen Lage des Reifestadiums zu befördern, von seiner Lebensader zu trennen und blutverschmiert auf die harte Reise in einen unwirtlichen Lebensraum zu schicken. Christian wurde zu Lebenslänglich verurteilt.

Er war froh, im Unterland, in den tieferen Regionen seines Kantons, aufzuwachsen und dort beheimatet zu sein. Im Oberland war die Sauerstoffzufuhr wegen der Höhe und die Zuwanderung wegen der Abgeschiedenheit geringer, was mangelnde Blutauffrischung zur Folge hatte. Ausserdem versperrten Berge die freie Sicht, was zu Kurzsichtigkeit führen konnte.

In seinem Dorf, wo einige Leute darben mussten, hatte es in den Fünfzigerjahren inmitten sanft geschwungener Hügel neben vielen Bauernhöfen und der Kirche noch eine Metzgerei, Bäckerei, Käserei, einen Laden, wo er Lebensmittel für seine Eltern und eine Nachbarsfamilie besorgte, eine Bank, ein Zweimannbetrieb, dessen Direktor sein Vater war, und ein Gefängnis.

Die Metzgerei verdankte ihre Existenz dem Pfarrer, weil er seine Erlaubnis gegeben hatte. Das Besitzerehepaar lebte nämlich vor der Eröffnung im Konkubinat. Der Pfarrer verlangte als Bedingung für die Schlächterei den Segen Gottes, das Sakrament der Ehe. Also heiratete man. Sobald man aber, nach 32 Jahren, dem Schlachten ein Ende bereitet hatte, trennte man sich nicht nur, es wurde geschieden, weil die lange Zeit des Ausweidens und Ausschlachtens der Ehe nicht bekömmlich gewesen war.

Die Bäckerei war wegen der leckeren Lebkuchen beliebt. Weniger beliebt machte sich Christian, weil er einst, nachdem die Lebkuchen in Blechen zum Trocknen auf eine Stiege vor der Backstube gelegt worden waren, aus Versehen - er sah schon damals schlecht - im Dunkeln auf eben diese trat, wobei er zum Glück keine Lebkuchenherzen, sondern nur den St. Niklaus auf dem Esel erwischte. Anschliessend musste er die Schuhe gut reinigen, um keine verdächtigen Spuren zu hinterlassen.

Die Käserei hatte es ihm angetan, weil er dort zuweilen die Tochter des Käsers sah, ein Mädchen mit einem Milchgesicht, aber rosa Backen und Händen. Es hatte immer ein Lächeln für ihn übrig. Besonders nah kam es ihm einmal beim Kartoffelauflesen, wo sie sich immer paarweise von einer Furche zur andern verschoben und deshalb zum Gespött wurden.

Dass es in seinem Dorf auch ein Gefängnis gab, wurde ihm bewusst, als er in der Bank seines Vaters, die sich neben dem Gefängnis befand, Geld abheben musste. Ein Mann sprang über einen Gartenzaun, um dem Strafvollzug zu entlaufen, musste aber aufpassen, sich im nahe gelegenen Wald nicht zu verlaufen. Wieder einmal war Christian wie gelähmt und handelte nicht. Am folgenden Tag las er in der Zeitung, der Häftling sei entkommen, und war froh über dessen wiedergewonnene Freiheit, im Gefühl, dass er, Christian, zwar auch gefangen war, aber nur in einem Gespinst überkommener Zwänge und nicht hinter Wänden. Noch jetzt freute er sich über die gelungene Flucht, weil Anna, eine 94jährige Frau, ihm vor Jahren erzählt hatte, was früher in eben diesem Gefängnis geschehen war. Mindestens einmal die Woche mussten die Insassen einzeln vor dem Direktor, der auch Gemeinderat war, erscheinen, damit er sie mit einem Stock züchtigen konnte. Als Anna diesen darauf ansprach, erwiderte er, Strafe müsse sein, sonst nehme der Sittenzerfall in einem nicht mehr aufzuhaltenden Masse überhand. Einer, der die Schläge erduldete, war ein 18jähriger Knecht. Er musste seiner Grossmutter, die in einem nahegelegenen Weiler wohnte, Schmerzmittel bringen. Da er zu Fuss unterwegs und wegen der Heuernte in Eile war, benützte er ein Fahrrad, das am Rande des Weges an einen Baum gelehnt war. Als er es auf dem Rückweg wieder an seinen Platz zurückstellen wollte, wurde er schon von zwei Polizisten in Empfang genommen. Der Besitzer des Fahrrades hatte der Polizei den Diebstahl gemeldet, worauf diese sofort ihres Amtes waltete. Der Knecht musste also im Gefängnis Züchtigungen über sich ergehen lassen, um ein besserer Mensch zu werden.

Christian verbrachte seine Kindheit, bei wechselhafter Witterung, in einer Zeit, als sie noch vom Gipfel des Dorfhügels aus im Winter mit vier oder fünf verbundenen Schlitten wie ein Lastwagenkonvoi bis hinunter über den ganzen Dorfplatz, wo sich zwei Strassen kreuzten, sausen konnten, weil das Auftauchen eines Autos so selten wie leere Kirchbänke am Sonntag war.

Kindertagesstätten und Kindergärten waren nicht nur unbekannt, sondern auch unnötig. Seine Mutter hatte ständig ein Auge auf ihn. Hatte er im Garten einen Baum erklettert, ging ein Fenster auf, und die Mutter mit ihrem flächigen Gesicht, eingerahmt von einem dunklen Viereck, verwies auf Gefahren, ermahnte ihn aufzupassen.

Christian hielt sich gern in seinem lauschigen Garten auf, einem Reich, in dem er sich auskannte, in seinem Revier. Er fühlte sich als Teil dieses organischen Kosmos, war in ihn hineingewachsen. Er liebte den narkotisierenden Fliederduft, die prächtigen Blütendolden und die himmelstrebenden Obstbäume, die er mit grosser Lust bestieg. Thronend und unerreichbar betrachtete er die Welt von oben, die Erwachsenen verloren ihre bedrohliche Grösse. War er unten, freute er sich an den Kaninchen, die im Sommer manchmal auf der Wiese in einem Gitter gehalten wurden. Sie gruben Löcher, durch die sie nach draussen gelangen, sich der so gewonnenen Freiheit erfreuen und ihm Gesellschaft leisten konnten, bis sie eingefangen wurden.

Jetzt erinnerten sie ihn an die grossen, glasigen Augen eines Hasen im Windsor Park, die ihn ungefähr 30 Jahre später lange starr anblickten. Vorher waren durchdringende Schreie erfolgt. Als Christian sich dem Schauplatz des Dramas näherte, bemerkte er, wie sich ein Hermelin in die Schlagader des Hasen verbiss und sich, als er dort war, schnellfüssig davonschlich. Der Hase lag auf dem Rücken und atmete schwer. Blutflecken. Christian war wie gelähmt. Als er den Anblick nicht mehr aushielt, entschied er sich zum Gehen. Was hätte er machen sollen? Musste man da eingreifen? Oder die Natur machen lassen? Auch als Kind war er nur Zuschauer, wenn Blut floss. Dann nämlich, wenn der Vater an Samstagen nach einem heftigen Genickschlag mit einem scharfen Messer die Halsschlagader eines Kaninchens durchtrennte. Der Sonntagsbraten wollte Christian nicht so recht schmecken.

Besonders schöne Kaninchen sah Christian bei Onkel Paul. Dieser kam ungefähr einmal im Monat auf Besuch. Christian tat jeweils nicht, was er bei Besuchen bis zum achten Altersjahr demonstrierte: das grosse Buffet im Wohnzimmer besteigen, um die ungewöhnliche Perspektive auf den Bäumen auch im Innern zu erproben oder sich einfach nur wichtig zu machen. Wenn Onkel Paul, untersetzt, mit breiter Stirn und flackernden Augen, eintraf, begann dieser, nachdem die Mutter einen Aschenbecher für die Zigarre auf den Tisch gestellt hatte, mit einem Thema, das nie fehlen durfte und das phantastische Dimensionen eröffnete, nämlich dass die Chinesen kämen. Sie seien in ihrem flächenmässig begrenzten Territorium so zahlreich, dass eine Expansion wie ein eruptiver Ausfall unmittelbar bevorstehe. Sie würden millionenfach ausschwärmen und wie Tschingis Khan bei uns alles ratzekahl schlagen. Keine Kirche sei vor ihnen sicher, die Glocken würden ein letztes Mal als Todesglocken läuten und dann für immer verstummen. Um eine Kulturrevolution chinesischer Prägung zu verhindern, hätte die Schweiz entschieden aufrüsten müssen. Aber jetzt sei es schon zu spät. Nach einem ausgiebigen Zug aus der Zigarre von Rauchschwaden benebelt, hob er erneut zu folgender Rede an. Nicht nur in China, sondern überall planten die Kommunisten die Weltrevolution. Das hätten die Ereignisse in Ungarn gezeigt. Und wenn die dann erst ihre Atombomben einsetzten, sei aller Tage Abend. Wie die gerüstet seien, sehe man jeweils bei der Parade am Jahrestag der Revolution. Er hatte sich jetzt in das ihm eigene Feuer hineingesprochen, aber Vater gelang es mit seinem diplomatischen Geschick, eine Feuerpause zu bewirken und von der Revolution zu den Kaninchen überzuleiten, die Onkel Paul in seiner Zucht mit viel Liebe umhegte. Die gleiche Zuwendung liess er seinem Auto gedeihen. Doch trotz der sorgfältigen Pflege versagte der Anlasser in einem Walliser Hochtal einmal seinen Dienst, so dass Christian bestaunen konnte, wie Onkel Paul mit seinen muskulösen Armen die Kurbel betätigte und er nach dem Anspringen des Motors stolz war, der modernen Technik gewachsen zu sein.

Prägend für Christian waren aber nicht die Errungenschaften der Technik, sondern die ländlichen Reize: Sträusse von Frühlingsblumen, die er seiner Mutter ständig brachte und für die sie mit der Zeit keine Vasen oder Gläser mehr fand; schattige Kluften in einem grün gesprenkelten Laubwald; sich sputende Heuerinnen vor einem drohenden Gewitter; abendliche Maiandachten, wo sie, die Kinder, oft schon barfuss, länger aufbleiben durften; Kuhund Pferdeprämierungen goldener Sommertage. Eine war ihm wichtiger als die Geburt seiner sieben Jahre jüngeren Schwester. An diesem Tag tänzelten die Hengste - und die hatten es ihm angetan - besonders majestätisch. Seine Schwester beachtete er später mehr und gewann sie so lieb, dass er sie sogar gehen lernte. Und darauf mächtig stolz war.

Warum hast du deinen Bruder durch eine Schwester ersetzt?

Wegen der Kälte zog sich Christian nun in das nahe Gotteshaus zurück, wo er sich vor den brennenden Kerzen und dem Ewigen Licht erwärmen konnte. Im frisch renovierten Langhaus wurde er sich aber bewusst, dass die Segnungen der katholischen Kirche nicht hier, sondern besser durch ein Foto eingefangen wurden, das er am Morgen zu Hause betrachtet hatte. Hier, an einer Prozession, versammelten sich die tragenden Säulen, die drei Dorfkönige, der Ammann, der Pfarreipräsident und der Bankdirektor, die mit dem Sigrist einen Baldachin, eine Bedachung über dem die Monstranz tragenden Dorfpfarrer, gen Himmel streckten und Kirche, Staat und Wirtschaft vertraten. Mit ihren Gaben wurden nicht alle beschenkt. Daneben weitere Priester mit ihren schmucken Gewändern, die Messdiener, die Lehrerschaft. Sogar ein Bischof hatte es auf das Foto geschafft. Alle waren unter dem Kreuz vereint. Christian hatte als Messdiener folgsam das Kreuz getragen, wenn am Schluss der lateinischen Messe, von der die Kinder nichts verstanden, das Libera nos zelebriert und jeder von den Sünden befreit wurde. Als Messdiener hatte er eine reine Weste, ihm war der Himmel verheissen. Messdienen war Ehrensache und als Auszeichnung von den Knaben begehrt, auch wenn sich Pfarrer und Sigrist in der Sakristei nur durch Zurechtweisung und Kritik bemerkbar machten. War Christian nicht Messdiener, begab er sich mit den Schülern für den Dienst an Gott jeden Morgen paarweise auf die rechte Seite der Kirche. Auch die Mädchen hatten paarweise Einzug gehalten, belegten aber die linke Seite. Die strenge Trennung sollte unkeusche Gedanken verhindern und entsprechende Gefühle erst gar nicht aufkommen lassen. Trotzdem suchte Christian die Frauenseite nach seiner Angebeteten ab. War er ihr nahe, fühlte er in einem für ihn nicht genau zu bestimmenden Organ ein Kribbeln und Flattern.

Gleichgeschlechtliche Paare wurden auch bei den Bittprozessionen gebildet, die im Mai unter freiem Himmel stattfanden. Da der Rosenkranz gebetet und also Gebete, die jeweils emphatisch begannen, dann in allgemeines Geleier übergingen und allmählich in ein Murmeln abfielen, ständig wiederholt wurden, ergab sich eine Monotonie, deren Intonation Gott gefällig stimmen und zu schönem Wetter bewegen sollte. Wenn lange Zeit schlechtes Wetter war und die Bauern deshalb an einem schönen Sonntag auf den Feldern arbeiten wollten, mussten sie nicht Gott, sondern den Pfarrer um Erlaubnis fragen.

Nicht an einer Prozession, sondern an einer Wallfahrt zu einer Kapelle nahm Tante Lina teil, wie sie bei einem Besuch berichtete. Sie hatte Maria um eine gelingende Ehe ihrer Tochter gebeten. Christian fragte sich damals, wie sie das angestellt hatte? Maria, zu der sie einen guten Draht hatte, sollte wohl Gott darum ersuchen, während der Ehe ständig zu intervenieren, wenn etwas schieflief, oder die Weichen so zu stellen, dass die Ehe reibungslos oder wie auf Geleisen verlief. Vielleicht schickte er dafür Schutzengel. Um dem Gebet Nachdruck zu verschaffen, zündete sie eine Kerze an und steckte einen Franken in einen Kassenschlitz, so dass es im Himmel und auf Erden klingelte. Wie die Zukunft bewies, blieb die Wirkung nicht aus.

Einmal vergass Christian bei einer Begegnung mit dem Pfarrer den Pfarrkindergruss «Gelobt sei Jesus Christus». Als der Pfarrer ihn zur Rede stellte, entgegnete er: «Gelobt sei Jesus Christus ist kein Gebot des Jesus Christus». Der Pfarrer machte grosse Augen, runzelte die Stirn und sprach: «Schon bei Christi Geburt haben die Hirten den Herrn gelobt und dann die Apostel und alle Gläubigen in Ewigkeit, Amen.» Damit war die Angelegenheit erledigt. Christian hütete sich in Zukunft, pfarrherrliche Allwissenheit anzuzweifeln. Die Augen des Pfarrers verfolgten ihn aber, wo immer er war. Und der Gott der Kirche schürte Ängste.

Ein Tag begann, nach dem üblichen Gottesdienst, nicht mit der Toilette, sondern der Fingernägelkontrolle. Wehe denen, die vorher im Stall hatten arbeiten müssen. Sie wurden vom Lehrer als abschreckendes Beispiel dar- und blossgestellt. Nicht weil sie wegen fehlender Maniküre von den Walküren nicht beachtet wurden und die Naildesigner verhungern liessen, sondern weil sie an ihren Nägeln Trauer trugen, was für den Lehrer nicht angebracht war.

Im Turnunterricht mussten die Schüler, mangels Turnhalle, über die trübe Brühe des verschmutzten Dorfbaches springen. Christian gelang der Sprung immer meisterhaft, er blieb nie stecken, da er voll austrainiert war. Im Wald hatten sie nämlich eine Felshöhle, die man nur kletternd erreichen konnte. Und in der Ecke der Schulstube musste er als Sohn des Bankdirektors nie stehen. Dorthin wurden nur Schüler geschickt, die den Unterricht gestört hatten oder schwer von Begriff waren. Dort hatten sie aber weniger Blickkontakt mit der sich allmählich füllenden Tafel, konnten nicht abschreiben, verstanden und bestanden noch weniger. Immerhin hatten sie Glück, dass sie nicht stundenlang mit ausgestreckten Armen, die durch Lasten beschwert wurden, knien mussten. Für manche war es auch ein Glück, wenn das Klassenzimmer sich im Erdgeschoss befand. So konnten Schüler auf der Flucht vor dem gewalttätigen, zwackenden Lehrer durchs Fenster ins Freie gelangen. Er hatte als Organist im Gottesdienst aber die Fähigkeit erlangt, mit einer Hand zu präludieren, damit Gottes Lob zu verkünden und mit der anderen einen neben der Orgel schwatzenden Schüler mit einem Backenstreich zu Ehren Gottes über die Backe zu streicheln.

Christian bekam, wenn er im Vorschulalter am Morgen im Bett wach lag und seine Eltern glaubten, er schlafe noch, manchmal einzelne Gesprächsfetzen mit: Warum musstest du wieder so früh aufstehen? Du hast nur deinen Beruf im Kopf. Oder Frau Müller. Die Leute munkeln ja schon. - Warum nimmst du heute keine Dusche? - Heute ist sie nicht nötig, das weisst du doch. - Man sollte ihn jetzt langsam auf die Schule vorbereiten. Ein bisschen Rechnen täte ihm gut. - Das lernt er dann noch früh genug. - Wir müssen aufpassen, dass er uns nicht durch die Finger gleitet. Die Mutter begnügte sich mit einem ablehnenden „Aba“. Irgendetwas stimmte da nicht. Aber Christian wollte das für sich behalten, das war sein Geheimnis. Niemand durfte das wissen.

Dass dem Vater viel an Christians Erziehung gelegen war, zeigte sich auch bei anderen Gelegenheiten. Einmal wollte er aufs Karussell. Als die Mutter ihm Geld geben wollte, intervenierte der Vater: «Diesmal nicht, er soll nicht meinen, er müsse alles haben. Es geht mir nicht ums Geld, aber Kinder müssen den Verzicht lernen.» « Aber er hat ja heute für uns schon die Einkäufe besorgt und die Aufgaben gemacht.» « Gut, aber nur einmal.»