Norbert Fischer (Hg.)

›Gott‹ in der Dichtung
Rainer Maria Rilkes

Meiner

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Rainer Maria Rilke

Rede über die Gegenliebe Gottes (Entwürfe)

I.
Einführende Betrachtungen zur Themafrage im Blick auf das Gesamtwerk Rilkes

Norbert Fischer

›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Einführung und ein Vorblick auf die Beiträge

August Stahl

Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos

Norbert Fischer

Rilkes Zugang zur Religion. Gegen die Hypothese seiner ›Immanenz-Gläubigkeit‹

Jakub Sirovátka

Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg

II.
Zur Auslegung einzelner Werke und Werkgruppen

Norbert Stapper

Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes

Alexander W. Belobratow

»Gott (wohne) in der Achselhöhle …«. Zur Bedeutung von Rilkes Rußlanderlebnis

Magdolna Orosz

»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«. Raumwahrnehmung und Transzendenzerfahrung in Rainer Maria Rilkes Capreser Gedichten

William Waters

Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹

Norbert Fischer

»Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also.«. Sämtliche Fundstellen zum Wort ›Gott‹ in MLB mit kurzem Kontext und erläuternden Anmerkungen

Wolfgang Braungart

Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts. Sprachsuche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ›Duineser Elegien‹

Friedrich-Wilhelm von Herrmann

»Und zitternd hochgerissen standen sie krumm und hatten bange lieb«. Zu Rilkes Emmaus-Gedicht

Albert Raffelt

Rainer Maria Rilke – Paul Hindemith: Das Marien-Leben

III.
Systematische und geschichtliche Reflexionen zur Dichtung Rilkes

Michael Neumann

Einige Überlegungen zur Wahrheit der Dichtung

Georg Steer

Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts

Daniel Joseph Polikoff

Die unerhörte Mitte. Rilkes Gottesvorstellung aus der Perspektive von Joseph Campbells vergleichender Mythologie

Thomas Pittrof

Rilkes ›Gott‹ und der Polytheismus der modernen Kultur

Peter Por

Rilkes anagogische Gottesvorstellung

Ludwig Wenzler

Rilkes Wege mit ›Gott‹ – religionsphilosophisch betrachtet

August Stahl

»Ein Wehn im Gott«. Der schöpferische Odem Gottes in Rilkes ›Sonetten an Orpheus‹

Anhang

Auswahlbibliographie

Rilke, Religion und Christentum. In chronologischer Folge erstellt von August Stahl

Siglenverzeichnis

Zitierte Quellen

Zitierte Literatur

Namenregister

Vorwort des Herausgebers

Die hier vorgelegten Beiträge, die auf ein von der DFG gefördertes Symposion in der Akademie des Bistums Mainz zurückgehen (7.–11. März 2013), führen wesentliche Dichtungen Rilkes vor Augen, die ›von Gott‹ und ›zu Gott hin‹ sprechen –und diskutieren deren Gottesbezug kritisch. Der Plan, die Gottesfrage in der Dichtung Rainer Maria Rilkes zum Thema zu machen, geht einerseits auf die Philosophischen Seminare in Kloster Weltenburg zurück, die von 2000–2004 Augustins Confessiones zum Thema hatten, von 2005–2008 Kants Kritik der reinen Vernunft, von 2009–2011 die ›Gottesfrage‹ bei Immanuel Kant, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas. Die Früchte dieser zwölf Seminare sind in den Verlagen Ferdinand Schöningh (Paderborn), Felix Meiner (Hamburg) und Herder (Freiburg im Breisgau) veröffentlicht worden. Andererseits war für den Herausgeber die Begegnung und Zusammenarbeit mit August Stahl entscheidend, damals Präsident der Rilke-Gesellschaft, der einen großen Teil der Vorüberlegungen mitgetragen und auch an der Verwirklichung des Projekts tatkräftig mitgearbeitet hat. Seiner erwiesenen Freundschaft verdankt der Herausgeber zahlreiche förderliche Anstöße.

Unmittelbar nachdem Friedrich Nietzsche den ›Tod Gottes‹ (jubelnd und unter Schmerzen) verkündet hatte, tritt Gott in Rainer Maria Rilkes Dichtung lebendig hervor –in einer Weise, die von der ›Anrede Gottes‹ im Gebet bis zu beredtem Schweigen reicht, das aus Verlusten erwächst. Das Phänomen der lebendigen Gegenwart ›Gottes‹ in Rilkes Dichtung, das unser Staunen hervorruft und unser Denken anregt (vgl. dazu Platon: Theaitetos 155d), das die Leser Rilkes mit Nachdruck auf die ›Gottesfrage‹ lenkt, gehört in das Zentrum der ›denkerischen Orientierung‹, die Kant als Aufgabe der Philosophie benannt hat (vgl. Was heißt: sich im Denken orientieren?) und die in der krisenhaften Situation unserer Zeit weiterhin gründlichste Beachtung verdient. Rilke widmet sich als ›Dichter‹ zwar nicht der Denkarbeit, bietet aber mannigfachen Anlaß zu ihr; er sieht sein Dichten ausdrücklich unter dem Anspruch Gottes und erklärt im Stunden-Buch: »Und ich will meinen Sinn/ wahr vor dir« (KA 1,163). Noch in seinen spätesten Dichtungen unterstellt er sich diesem ›göttlichen‹ Anspruch, der in die Transzendenz weist, indem es alles menschliche Vermögen übersteigt (SO I 3; KA 2,241): »In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.« Das Ziel, singend der Wahrheit zu entsprechen, führt nach den Sonetten an Orpheus in die Transzendenz (SO I 5): »Und er gehorcht, indem er überschreitet.« Dieser abschließende Vers des fünften Sonetts im ersten Teil der Sonette an Orpheus bietet eine Auskunft zur grundlegenden Aufgabe der Sonette und kann so ins Lateinische übersetzt werden: »oboedit transcendens«.

Solche in die Transzendenz weisende ›Dichtung‹ ist schon mit Platon (Politeia 545e) als ein ›ernsthaftes Spiel‹ zu verstehen: denn sie hat »Leiden«, »Liebe« und »Tod« im Blick (SO I 19); sie ›kreist‹ dadurch um ›Gott‹ und um die Gottesfrage, die wesentlich zum ›Leben‹ gehört und uns allererst die Aufgabe des Denkens stellt und unsere Lebenswirklichkeit zu bedenken fordert. Im Brief des jungen Arbeiters bekennt Rilke, vielleicht auch für ihn selbst überraschend, seine »Erfahrung«, die heutigen Zeitgenossen oft zu fehlen scheint, daß ihm nämlich »›Gott‹ zu sagen, so leicht, so wahrhaftig, so […] problemlos einfach sei« (SW VI,1118). Diese ›Erfahrung‹ läßt die Dichtung Rilkes als Thema der Philosophie sehen, das die Gottesfrage zu bedenken antreibt.

Die vorliegenden Beiträge untersuchen zwar nicht das Werk oder die Werke eines ›Philosophen‹, sondern die ›Dichtung Rilkes‹, weisen aber durch ihr Thema auf Fragen der Philosophie und der Theologie und werden deshalb von einem multidisziplinären Kreis von Verfassern dargeboten. Die Zusammenarbeit mit August Stahl begann, als der Herausgeber den Augustinischen Geist wichtiger Dichtungen Rilkes bemerkt und deshalb Kontakt zur Rilke-Forschung gesucht hatte. Erste Früchte trug diese Zusammenarbeit beim Symposion zur Wirkungsgeschichte Augustins, das vom 18.–20. Januar 2008 mit Unterstützung der DFG in der Akademie des Bistums Mainz durchgeführt und dessen Ergebnis 2010 in zwei Bänden im Verlag Meiner publiziert wurde (Augustinus. Spuren und Spiegelungen seines Denkens. Band I: Von den Anfängen bis zur Reformation; Band II: Von Descartes bis in die Gegenwart). August Stahls Beitrag zum zweiten Band: ›Salus tua ego sum‹. Rilke (1875–1926) liest die ›Confessiones‹ des heiligen Augustinus war eine wichtige Vorstufe für den neuen Plan und kann als ein erhellendes Prolegomenon für den hier vorgelegten neuen Band herangezogen werden. Zuvor war dem Herausgeber das Desiderat einer gründlichen Betrachtung der Dichtung Rilkes in ihrer Beziehung zur Gottesfrage bewußt geworden, zu der er eine erste Untersuchung vorgelegt hat (»Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?« Nachklänge der Zeitauslegung Augustins in der Dichtung Rilkes).

Vorangestellt sind dem Band Rilkes Entwürfe zu einer Rede über die Gegenliebe Gottes (1913), die er zwar nicht fertig ausgearbeitet und auch nicht gehalten, aber 1924 einmal vorgelesen hat. Die Hauptthesen der Untersuchungen, die den Zugang zum vorliegenden Buch erleichtern, sind am Ende der folgenden Einführung in den ›Kurztexten‹ aus der Feder der Autoren abgedruckt. Der erste Teil der Untersuchungen beginnt mit der genannten Einführung von Norbert Fischer; es folgt ein grundlegender Essay zu ›Rilkes ausdauernder Arbeit am Mythos‹ von August Stahl. Den Abschluß des ersten Teils bietet der Beitrag von Jakub Sirovátka, der sich Rilkes Herkunft zuwendet und dabei einen ersten Blick auf seinen weiteren Weg wirft. Der zweite Teil ist der Auslegung einzelner Werke und Werkgruppen gewidmet; der dritte Teil enthält systematische und geschichtliche Reflexionen zur Dichtung Rilkes mit Blick auf die Gottesfrage und kann auf diese Weise die nachträgliche systematische Reflexion befördern.

Bei der Vorbereitung des Projekts waren die Mitarbeiter des Eichstätter Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie, insbesondere Herr Privatdozent Dr. Jakub Sirovátka und Frau Anita Wittmann, in bewährter Weise tätig. Beiden sei hierfür herzlich gedankt. Der Dank des Herausgebers gilt sodann der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die dem Projekt die nötige finanzielle Förderung angedeihen ließ. Weiterhin gedankt sei der Akademie des Bistums Mainz, besonders ihrem Direktor, Herrn Professor Dr. Peter Reifenberg, und Herrn PD Dr. Ralf Rothenbusch, der die Organisation der Tagung engagiert in die Hand genommen hat. Besonderer Dank gilt den beteiligten Künstlern, die Werke Rilkes präsentierten oder die Präsentationen künstlerisch begleiteten. Gedankt sei Sabine Weithöner für die eindrucksvolle Rezitation wesentlicher Gedichte Rainer Maria Rilkes, Tobias Fischer für die Darbietung von Cello-Suiten Johann Sebastian Bachs, die den Hörern ohne Worte –durch das andere Medium –Platz zur inneren Aufnahme der Texte Rilkes ließ. Gedankt sei Kateryna Kasper (Sopran) und Jeong-Hwa Fischer (Piano) für die glänzende Aufführung von Rilkes Gedichtzyklus Das Marien-Leben in der Vertonung von Paul Hindemith (vgl. dazu die Hinweise im Beitrag von Albert Raffelt). Diesen Künstlern verdanken die Teilnehmer großartige Abende, die einen lebendigen Eindruck von Rilkes Dichtung im Blick auf ›Gott‹ hinterließen.

Herzlich dankt der Herausgeber cand. theol. Sr. Hanna-Maria Ehlers OCist (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), die schon öfter an Druckvorbereitungen am Eichstätter Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie beteiligt war und jetzt wieder mit Sorgfalt und Interesse mitgearbeitet hat, ebenso wie Frau cand. theol. Simone Pesendorfer (Universität Wien), die im Rahmen ihrer Studien auf das vorliegende Rilke-Projekt aufmerksam geworden war und in freundlichster Weise bereit war, bei der formalen Durchsicht der Manuskripte mitzuwirken. Ebenso sei Frau Anita Wittmann auch für die gründliche Durchsicht des Textes herzlich gedankt und zudem für die Erstellung des Namenregisters und des Verzeichnisses der benutzten Siglen. Für die bewährte Zusammenarbeit dankt der Herausgeber den Herren Horst D. Brandt und Jens-Sören Mann vom Verlag Meiner. Sehr herzlich dankt der Herausgeber Seiner Eminenz Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, der Diözese Eichstätt und der Gesellschaft der Freunde der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt für die Gewährung von Druckbeihilfen.

Daß am Ende dieses Vorworts auf den 290. Geburtstag Immanuel Kants verwiesen wird, mag wegen der sehr unterschiedlichen Zugangsweisen des ›Dichtens‹ und des ›Denkens‹ überraschen, weist aber auf subkutane Beziehungen, die in einigen Beiträgen auch berührt werden.

Zum 22. April 1724 Norbert Fischer

– RAINER MARIA RILKE

Rede über die Gegenliebe Gottes

Es widerstrebt mir (ich will es gleich sagen), die Liebe zu Gott für ein besonders abgegrenztes Handeln des menschlichen Herzens zu halten; ich vermute vielmehr, daß dieses Herz jedesmal dort, wo es sich selbst überrascht, über den bisher äußersten Kreis seiner Leistung nach allen Seiten einen neuen weiteren Kreis hinaustreibend, – daß dieses Herz bei jedem seiner Fortschritte seinen Gegenstand durchbricht oder einfach verliert und dann unendlich hinausliebt. Wer sich einen Begriff machen wollte von den Liebeseinkünften Gottes, würde eine erschreckend geringe Summe aufstellen, wenn er davon absähe, diese schlechthin ausströmenden, gleichsam herrenlosen, Gefühlswerte hinzuzuschlagen. Denn nicht nur daß in unseren Tagen die unmittelbare Gotteszuwendung sich verringert hat, es mochte von ihr immer alles das abzuziehen sein, was die menschliche Anstrengung zu Gott an Trübem und Fühllosem in das Bett des Gebets mit hinüberreißt. Man sehe in irgendeinem Heiligen-Leben nach (etwa bei der seeligen Angela von Foligno), welcher Abhärtung es bedarf, um von der Süßigkeit des eigenen Wesens nicht verführt zu sein und von seiner Herbheit nicht zerrissen. Welche dürftige und immer-übende Mühe dazu gehört, die Leitung zu Gott dort anzuschließen wo die Quellen des Herzens ausspringen, und wie viel daran liegt, diesen Anschluß so rasch zu erreichen, daß man unerschöpft und unabgestanden in ihn hinüberstürzt.

*

Es wird besser sein, das Wort Glauben so, wie es sich in uns verbildet hat, zunächst nicht anzuwenden, um die arglose Gottesnähe nicht von Anfang an zu erschrecken. Dieses Wort hat einen Nebensinn von Zwang, von Anstrengung angenommen, daß man fast nur noch die langen Mühen einer Bekehrung darin erkennt und vergißt, daß Glaube nur eine leise Färbung der Liebe ist, auf derjenigen Seite mit der sie sich dem Unsichtbaren zukehrt. Ich begreife immer weniger, was eigentlich uns in der Liebe zu Gott aufhält und irre macht. Eine Zeit lang konnte man denken, daß es die Unsichtbarkeit sei, – aber gehen nicht seither alle unsere Erfahrungen dahin, daß die Gegenwart eines geliebten Gegenstands zwar für den Beginn der Liebe hülfreich ist, ihrem späteren Großsein aber Kummer und Abbruch tut? Und stimmen nicht mit diesen Erfahrungen die Schicksale aller Liebenden überein, wie man sie uns überliefert hat? Ist es möglich, in den Briefen der großen Verlassenen länger den unbewußten Jubel zu übersehen, der im Klang ihrer Klagen ist, sooft ihnen zum Bewußtsein kommt, daß ihr Gefühl auch den Geliebten nicht mehr vor sich hat, sondern nur seine eigne schwindelnde, seine selige Bahn? Wie man bei der Erziehung eines Pferdes gelegentlich wohl noch zum Zucker greift, solange, bis dieser ausdrückliche Anlaß nicht mehr nötig ist, um die reine Leistung hervorzurufen, so wird uns lange noch, uns schwer Lernenden, ein liebes Gesicht gezeigt; aber die eigentliche Handlung unserer Liebe beginnt erst, wenn wir dieser Aufforderung nicht mehr bedürfen, um mit dem ganzen Herzen in eine Liebe auszubrechen, der der Wink einer Richtung genügt. Oder es müßte unsere Liebe das Element nicht sein, wenn sie nicht unter den Elementen des Raums im bloßen Hinstürzen, zu sich käme. Wäre sie ein verwöhnter Hunger, so entstände sie erst über dem Gericht. Aber sie ist der Hunger derer die man niemals gesättigt hat, ein Hunger so eingefleischt, daß er nichtmehr nach dem Brote schreit, sondern schreit vom Brot.

Frage sich doch jeder, ob er nicht, in einer Zeit da er liebte, die Versuchung empfand, sein an einem Wesen übermäßig wirkendes Gefühl in größere Verhältnisse zu bringen, zu anderen Übermaßen? Wen hat es nicht ungeduldig gemacht, die Strahlen seines Herzens gleich vor sich gebrochen zu sehn und in ein anderes Leben verwirkt? Wer hat nicht dieses andere Leben getrübt und mit Verwirrung erfüllt, indem er plötzlich ein seiniges Gefühl, das schon drin aufgegangen war, nochmal zu sehn begehrte und begehrte, es dort, wo es abgerissen war, wieder an sich zu halten. Dieses bringt zwischen den Menschen das meiste Entsetzen hervor, daß keiner die Liebe mehr sehen kann, die er gestern vollbracht hat; jeder neue Antrieb stürzt unter ihm weg und, aufwachend, sieht er den andern, wo er Not hätte sich selbst zu sehen. Wer aber zu Gott die Liebe versucht, dem ist kein Wert seines Herzens entwunden, der kommt und sieht alles was er getan hat und hebt in lautloser Klarheit auf sein gestern gefügtes, höher, sein nächstes Gefühl.

Abdruck nach: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke (SW VI,1042–1045): Rede / Über die Gegenliebe Gottes (Entwürfe). Ernst Zinn merkt an (SW VI,1478):

»Die Handschrift der hier zum ersten Mal veröffentlichten Entwürfe, Ms. 290 des [Rilke-Archivs], besteht aus sechs, mit schwarzer Tinte beschriebenen Blättern von einem perforierten Kleinoktavblock, in einem Umschlagsblatt mit der Aufschrift: ›Rede / Über die Gegenliebe Gottes. April 1913‹. Es handelt sich offenbar um zwei verschiedene Ansätze (oben auf S. 1043 durch ein Sternchen getrennt), der erste, auf den beiden ersten Blättern, von dem zweiten auch in der Schrift unterscheidbar; das Ganze ist durchaus fragmentarischer Art (erste Niederschrift mit Korrekturen).

Am 2. Dezember 1913 schrieb Rilke aus Paris an Lou Andreas-Salome: »Du weißt von meinen Plänen zu einer Rede über die Gegenliebe Gottes. Eine Notiz, die ich kürzlich irgendwo las, brachte mir das wunderbare Verhältnis in Erinnerung, das Spinoza muß aufgestellt haben durch seine Einsicht in die Unabhängigkeit des Gottliebenden von jeder Erwiderung Gottes: so daß ich ja wohl gar nicht weiterdenken dürfte, als über diesen Weg. Was von Spinoza müßte ich lesen, um mich darüber zu unterrichten? Würde ichs begreifen? Hättest Du die betreffenden Bände? Konntest Du sie mir borgen? …« (Briefwechsel Rilke / Lou Andreas-Salome, S. 318 f.). Gemeint war offensichtlich die berühmte Propositio XIX im V. Teil der Ethica ordine geometrico demonstrata: ›Qui Deum amat, conari non potest, ut Deus ipsum contra amet‹. (Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik. Übersetzt … von Otto Baensch, 10. Aufl. Leipzig 1922, Der Philosophischen Bibl. Bd. 92, S. 258: V. Teil. Von der Freiheit. Lehrsatz 19: »Wer Gott liebt, kann nicht danach streben, daß Gott ihn widerliebt«). Siehe die Anmerkung des Herausgebers Ernst Pfeiffer im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salome, S. 595–596. – Wie J. R. von Salis mitteilt (R. M. Rilkes Schweizer Jahre, 1. Aufl. 1936, S. 187; 2. Aufl. 1938, S. 184 f.; 3. Aufl. 1952, S. 179), hat der Dichter ihm 1924 in Muzot die Aufzeichnungen zu der (nie gehaltenen) Rede »Über die Gegenliebe Gottes« vorgelesen.«

Anmerkung

1 Rilkes ›Entwürfe‹ zu einer »Rede über die Gegenliebe Gottes« gehören zum Zentrum der Fragen des vorliegenden Bandes und werden den Untersuchungen unkommentiert vorangestellt, auch wenn Erläuterungen zu Platons Theorie des ἔρως und Augustins Liebesgedanken im Spannungsfeld von ›amor‹ und ›caritas‹ möglich sind und naheliegen. Aber auch Immanuel Kant, dem die ›Liebe Gottes‹ erst spät zu einer Aufgabe des Denkens wurde, ist zu beachten. Und selbstverständlich wäre ein Kommentar zu dem von Rilke selbst genannten Baruch de Spinoza erforderlich. Die Anmerkungen des Herausgebers der Sämtlichen Werke, Ernst Zinn, sind hier jedoch aufgeführt.

I.
Einführende Betrachtungen zur Themafrage
im Blick auf das Gesamtwerk Rilkes

– NORBERT FISCHER

›Gott‹ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes

Einführung und ein Vorblick auf die Beiträge

Mancher Zeitgenosse mag ein Thema, das ›Gott‹ eine Hauptrolle in Rilkes Dichtung zuweist, unwillig, aber angesichts von Rilkes häufigem – und selbstverständlichem – Reden von ›Gott‹ (und sogar als ›An- rede‹ Gottes im gebetsmäßigen Sprechen hin zu ›Gott‹) doch auch ein wenig verunsichert betrachten und meinen, nüchtern Denkende könnten nach Nietzsches Verkündigung des ›Todes Gottes‹ nicht einmal mehr die Frage nach ›Gott‹ ernsthaft in Erwägung ziehen. Gegen diese Meinung, die auch bei gründlichen Rilke-Interpreten zu finden ist und dem Grundzug des ›nachmetaphysischen‹ und areligiösen Zeitgeistes heutiger ›Intellektueller‹ entspricht, deren Sinn für Gott geschwunden, gleichsam abgestorben ist, steht die Erfahrung Rilkes, daß ihm »›Gott‹ zu sagen, so leicht, so wahrhaftig, so […] problemlos einfach« war (SW VI,1118). Aus diesem Geist Rilkes sind indessen Erbaulichkeiten zu bekämpfen, die letztlich den ›Trostmarkt‹ bedienen, indem sie falsche Beruhigung befördern und lästige Fragen beiseite schieben. Wer sich aber auf die Fragen einläßt, die mit dem ›Leben‹ endlicher Vernunftwesen unvermeidlich gegeben sind, wer die (auch neuzeitliche und zeitgenössische) philosophische Reflexion der menschlichen Wirklichkeit wahrnimmt, wie sie bei Immanuel Kant, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas hervortritt – die im Zentrum früherer Publikationen dieser Reihe standen –, wird modische Zweifel am Gewicht der Gottesfrage gewiß leichter beiseite legen können.

Der radikale denkerische Neuanfang, wie er zu Beginn der ›Neuzeit‹ stattfand, aber jedem neuen Leben aufgegeben ist (und schon immer war), konnte sich auf gründliche Vorgänger beziehen. Und Rilke hat sich auch auf ›die Alten‹ bezogen, zuweilen offen, zuweilen aber subkutan, wo immer er konnte und wo er durch deren Spuren nicht von seinem eigenen Weg abgelenkt wurde. Auf die auch von Seichtigkeiten bestimmte ›Moderne‹, die massenmedial in den Vordergrund drängt und dabei den Fragen ausweicht, die sich jedem Menschen in der Begegnung mit ›Leiden‹ und ›Liebe‹ (auf ›Leben und Tod‹) stellen, wird an diesem Ort nicht weiter eingegangen. Zwar mag sich heute niemand mehr so leicht von Augustins strenger Konzentration auf die ›Fragen nach Gott und der Seele‹ beeindrucken lassen (sol. 1,7: »deum et animam scire cupio«). Aber daß auch Kant, der durchweg als Protagonist der Moderne anerkannt ist und vorgestellt wird, eben diese »zwei Fragen«: »ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?« als die einzigen nennt, »die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen« (KrV B 831), sollte Zauderern, die sich (vom Zeitgeist bestimmt) der ›Frage nach Gott‹ entfremdet haben, doch zu denken geben. Da Menschen, wie Augustinus sagt, Wesen sind, die fragen können (conf. 10,10: »homines autem possunt interrogare«), ist die Frage nach Herkunft und Sinn dieses Könnens grundlegend. Die Frage nach dem Ursprung des Fragenkönnens öffnet den Blick für die Transzendenz der Wahrheit und lehrt uns, die ›Frage nach Gott‹ als eine alle Moden übersteigende Frage zu sehen.

Rainer Maria Rilke ist ein Dichter, der sich vom Schreiben philosophischer Traktate ferngehalten und nicht den Versuch gemacht hat, ›die Frage nach Gott‹ einer philosophisch sachgemäßen Antwort zuzuführen. Doch war er ein achtsamer Leser religiöser, philosophischer und theologischer Texte, was die Beiträge dieses Bandes erneut und teils mit neuen Facetten zeigen. Seine Dichtung war von Anfang bis zum Ende existenziell mit der Frage nach ›Gott‹ verknüpft. Die Rede von ›Gott‹ hat seine Dichtung wie wenig anderes beständig, dauerhaft und tiefgreifend begleitet – und zwar auch dort, wo sie nicht explizit als ›Frage nach Gott‹ zur Sprache kommt. Denn die von allen Menschen ersehnte Möglichkeit preisender Bejahung des faktischen Lebens, für die ›Gott‹ angesichts der ›conditio humana‹ die entscheidende Rolle spielt, bewegt Rilkes Dichtung allenthalben. Sogar »die Verluste«, mit denen alle Menschen sich abzumühen haben, kennt nach Rilkes Wort allein, »wer mit dennoch preisendem Laut/ sänge das Herz, das in Ganze geborne« (SO II 2). Das in diesen Kontexten häufig auftretende Wort »dennoch«, das der Sache nach Augustins Grundwort »tamen« entspricht (vgl. conf. 1,1), verweist auf die Gegenwart Gottes im Modus der Defizienz, hat folglich einen tiefinneren Bezug zur ›Gottesfrage‹.

Woher es kommt, daß wir Menschen – wie Platon sagt – ›Zwischenwesen zwischen vollkommen göttlichen und unvernünftigen sterblichen Wesen‹ sind (Symposion 201d–204d: vgl. den Zusammenhang von ›Liebe‹ = ἔρως und ›Fragen‹ = έρώτησις) und ›fragen können‹, mag daher rühren, daß wir alle zwar dem Ausruf Rilkes in der siebenten Elegie zustimmen: »Hiersein ist herrlich« (KA 2,221), daß der ›wissende Jubel des Anfangs‹ aber alsbald in die Ferne entflieht – und ›Sehnsucht‹ und ›Klage‹ sich vor den ursprünglichen Jubel schieben (SO I 8; KA 2,44). Sogar noch angesichts seines eigenen Todes – in seinem letzten Gedicht (KA 2,412) – müht sich Rilke (zwar ohnmächtig, aber doch mit letzter Kraft) um sein Ja zum Dasein: also auch um ›Anerkennung‹ des Todes und um ›Zustimmung‹ zu ihm. Mit dem ihm selbst bevorstehenden Tod gelangt er schließlich existenziell in die Situation (KA 2,412), die er in den Schlußstrophen des achten der Sonette an Orpheus (im Blick auf Wera Ouckama Knoop) zur Sprache gebracht hatte (SO I 8):

Jubel weiß und Sehnsucht ist geständig, –
nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt
sie nächtelang das alte Schlimme.

Aber plötzlich, schräg und ungeübt,
hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme
in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.

Wer das Fehlen von Ersehntem beklagt, preist es dennoch, wenn auch im unerwünschten Modus der Defizienz, der ihn zur Suche nach anderen Wegen treibt, die ihm Zustimmung ermöglichen. Dies war schon Augustins Problem am Beginn der Confessiones (1,1), das der Autor im Rekurs auf die von Gott ausgehende ›excitatio‹ zu lösen suchte und das auch Rilke gesehen haben mag. Wer meint, die Alten hätten unbedacht von ›Gott‹ gesprochen, sollte bedenken, was Augustinus in einer Predigt gesagt hat und als Gegengift gegen manches positive und negative Gerede taugt. Er betont die Unbegreiflichkeit Gottes, ohne die Gottesfrage für belanglos zu erklären. Was in seinem Text ›pia confessio‹ heißt, scheint auch Rilke zu kennen. Augustinus sagt (s. 117,5):

de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus. sit pia confessio ignorantiae magis, quam temeraria professio scien- tiae. attingere aliquantum mente deum; magna beatitudo est: comprehendere autem, omnino im- possibile.   Von Gott sprechen wir: Was wunders, wenn du nicht begreifst? Wenn du nämlich begreifst, ist es nicht Gott (was du begreifst). Für fromm gelte mehr das Bekenntnis des Nichtwissens, weniger die kecke Behauptung des Wissens. Gott ein wenig im Geiste zu berühren, ist eine große Seligkeit: ihn aber zu begreifen, ist gänzlich unmöglich.

Auch der gewiß nicht ›heterodoxe‹ Thomas von Aquin erklärt unverblümt, daß wir ›von Gott nicht wissen können, was er ist‹ (S.th. I 3 introductio): »de deo non scire possumus quid sit«. Das von der restaurativen ›Neuscholastik‹ seit dem 19. Jahrhundert erzeugte und für Außenstehende prägende Bild von der ›katholischen Theologie‹ hat wenig mit den großen philosophischen Denkern und auch wenig mit den großen Theologen der christlichen Tradition zu tun. Bevor Rilke als ›heterodox‹ diffamiert oder gerühmt wird, muß zur Besinnung gerufen werden.

Bevor also ›neuscholastisch‹ orientierte, sich selbst der ›Orthodoxie‹ rühmende Theologen (oder zeitgeistige Literaturwissenschaftler, denen ›Orthodoxie‹ jedoch kaum etwas Gutes bedeutet), von der ›Heterodoxie Rilkes‹ sprechen, sollten ›Philosophen‹ (die ›Liebhaber der Weisheit‹ sein sollten, nicht im ›Besitz der Wahrheit‹ sind), aber auch zeitgeistige Literaturwissenschaftler, sich auf das jeweils zu ihrem Handwerk Gehörige besinnen, das sie wirklich beherrschen. Hinsichtlich der Frage nach ›Gott‹ ist dann gewiß Zurückhaltung, ja sogar Schweigen geboten. Denn ›Gott‹ wird, wie mit Augustinus und der großen philosophisch-theologischen Tradition zu sagen ist, ›besser im Nichtwissen gewußt‹ (ord. 2,44): »non dico de summo illo deo, qui scitur melius nesciendo«. Das hat Rilke offenkundig besser als manche seiner Interpreten verstanden. Sofern ›Gott‹ besser im Nichtwissen gewußt wird, degeneriert die Besinnung auf dieses Thema nicht zu einer belanglosen Frage, sondern lockt uns vielmehr immer neu zum Nachdenken.

Die Einsicht, daß wir die Wahrheit (Gottes) ›nicht wissen können‹, hat Faust in Verzweiflung und auf Irrwege getrieben, die wenig mit seiner Ausgangsfrage zu tun haben. Sie hat Denker wie Augustinus und Thomas nicht bewogen, die Gottesfrage zu vernachlässigen und zu mißachten. Das Studium solcher Autoren sei allen Zeitgenossen empfohlen, die zu wissen vorgeben, was mit ›Gott‹ gemeint ist und was ›die Alten‹ von ›Gott‹ gedacht hätten. Die Aufgabe, die sich im Blick auf ›Gott‹ angesichts der Dichtung Rainer Maria Rilkes stellt, hält hinsichtlich der heute wenig beachteten ›Gottesfrage‹, aber auch im Blick auf die Dichtung Rilkes, so viele und nicht leicht überblickbare Schwierigkeiten bereit, daß ihre Bearbeitung zu Problemen und Aufgaben führt, die sachgemäß differenziert angesichts der formal und inhaltlich verschiedenen Dichtungen Rilkes, die nicht als Traktate gedacht sind, gelöst werden müssen. Wenn das vorliegende Buch Anregungen und Hinweise zur schärferen Bezeichnung der mit der Dichtung Rilkes im Blick auf Gott gegebenen Forschungsaufgaben böte, wäre einiges erreicht. Eindeutige, scheinbar ›objektive‹ Auslegungsmuster mögen allesamt revisionsbedürftig sein.

Immerhin liegt klar auf der Hand, daß ›Interpreten‹ Rilkes nicht behaupten können, Wesentliches von dessen Dichtung verstanden zu haben, wenn sie die ›Gottesfrage‹ an den Rand drängen, sie auf minderem Niveau vergegenwärtigen oder nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen. Die Rede von der ›Nähe‹ und ›Ferne‹ Gottes deutet auf eine uralte Thematik, die Augustinus klassisch und exemplarisch zum Ausdruck gebracht hat; Augustinus sagt (vgl. an. quant. 78): »quo nihil sit secretius, nihil praesentius, qui difficile invenitur, ubi sit, difficilius, ubi non sit«. Nichts ist nach diesem Text für uns unzugänglicher und weiter von uns fern als Gott; nichts aber auch gegenwärtiger als er: schwer sei zu finden, wo er ist, schwieriger aber noch, wo er nicht ist (vgl. dazu im Hintergrund Gn. litt. 12,28,56, wo der alttestamentliche Hintergrund hervortritt). In diesen Kontext gehört auch die grundlegende Selbstauslegung von Augustins Motivation, die er an entscheidenden Stellen der Confessiones nennt (2,1; 11,1): »amore amoris tui facio istuc.« Was aber mit ›Liebe‹ gemeint ist, liegt weder für Augustinus (z. B. ›amor‹, ›dilectio‹, ›caritas‹) noch für Rilke auf der Hand. Rilke sagt (SO I 19): »nicht ist die Liebe gelernt«; Augustinus hat im Blick auf Gott ein ›gratis diligere‹ im Sinn (civ. 1,9). Diesem Thema hat Rilke die Entwürfe zur Rede über die Gegenliebe Gottes gewidmet, die den Beiträgen dieses Bandes vorangestellt sind und zu gründlichem Bedenken anregen mögen. Rilke mag noch lange ein Autor bleiben, der die Leser seiner Dichtungen zum Eingeständnis bewegt (SO II 18): »Bang verlangen wir nach einem Halte,/ Wir zu Jungen manchmal für das Alte/ Und zu alt für das, was niemals war.«

Rilke knüpft mit diesen Versen der Sache nach an den Neuplatoniker Saloustios an (dessen Schrift περὶ ϑεῶν καὶ κόσμoυ zwischen 363–394 entstand, also in der Lebenszeit Augustins). Saloustios spricht hier von dem, ›was niemals geschah, aber immer ist‹. Das von Gebildeten früher oft zitierte Wort: ›Was niemals war und immer ist‹ lautet im griechischen Original (IV 9): Tαῦτα δὲ ἐγένετo μὲν oὐδέπoτε, ἔστι δὲ ἀεί. Wir, die jeweils in der Gegenwart Lebenden, sind zu jung für das unvordenkliche Alte, das nach Saloustios immer ist, können es nie zureichend in unsere Gegenwart holen, sind aber doch schon zu gewitzt und altklug-erfahren, als daß wir lauter an die Wahrheit historischer Konkretisierungen des Absoluten glauben könnten. Kants Stellungnahme zu unserem Nichtwissen im Blick auf Gott mag die förderlichste sein. Kant spricht gegen Ende der Kritik der praktischen Vernunft zur ›praktischen Bestimmung des Menschen‹, die unsere Freiheit fordert und zugleich voraussetzt, daß unserem Nichtwissen eine konstitutive Funktion für unseren Lebensvollzug zukommt; er sagt dort (KpV A 265):

Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ.

Von einem Dichter, auch wenn er sich in die prophetische Rolle des poeta vates zu finden sucht, sind keine theoretischen Auskünfte zur ›absoluten Wahrheit von Welt und Mensch‹ zu fordern. Dennoch ist der Anspruch, dem Rilke sich in seiner Dichtung ausdrücklich stellt, auch für das philosophische (und in der Folge: für das theologische) Denken aufmerksamer Beachtung wert. Rilke unterstellt seine Dichtung von Beginn an dem höchsten Anspruch und nennt als überhohes Ziel ›die Wahrheit vor Gott‹ (StB I 13; KA 1,163): »Und ich will meinen Sinn/ wahr vor dir.« Diesem Anspruch unterwerfen sich noch die Sonette an Orpheus, in denen der Dichter gesteht, daß die ihm angesichts des Todes gestellte Aufgabe, die er mit dem Wort »in Wahrheit singen« ausspricht, sein Vermögen unendlich übersteigt. Das Sonett beginnt mit den Versen (SO I 3): »Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll/ ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?« Rilkes Geständnis des Unvermögens, das er in Beziehung zu einem göttlichen Vermögen sieht, weist implizit auf das Prinzip der Plötzlichkeit (έξαίφνης), das im Höhlengleichnis von Platons Politeia (515c–516e) genannt wird und im Höhepunkt von Augustins Confessiones (10,38) als plötzlich und unvorhergesehen eintretende Inversion der Aktivität des Suchenden wiederkehrt. Die ersehnte Antwort nicht aus eigener Kraft zu behaupten, heißt nicht: ihr den Kredit zu entziehen, sondern: sich in äußerstem Ernst einzugestehen, daß sie nur ›plötzlich‹ und unableitbar, also in einer Inversion der eigenen Aktivität, von der Seite ›Gottes‹ her erfolgen kann.

Diese Einsicht fordert, daß wir uns vorerst kindlich und gläubig an das gegebene Irdische halten, unsere Aufgabe also im Irdischen und Immanenten sehen und uns zunächst mit ihm bescheiden. Sie weist dennoch auf Gott und die Hoffnung, die sich am Ende nur in der Transzendenz Gottes, nur durch Gottes ›Hände‹, durch das Geschehen einer göttlichen ›Offenbarung‹ erfüllen kann. Rilke sagt schon früh (Das Stunden-Buch. Von der Pilgerschaft; Strophe 3; KA 1,221):

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,
nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn
und dienend sich am Irdischen zu üben,
um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

Den Gedanken der Inversion der Aktivität durch Offenbarung, die der ›Hände‹ Gottes bedarf, auf dessen Wirken Menschen sich in ihrer Endlichkeit und Schwäche nur vorbereiten können, scheint Rilke aufzunehmen, wenn er in seiner bedrängten Situation die Hoffnung zwar auf deren Ende lenkt und kindlich auf einen Ausweg aus ihr hofft, sich ihn aber nicht ›vorstellen‹ kann, sondern auf ein ›Ereignis‹ warten muß, das nur unversehens und ›plötzlich‹ geschehen kann, nicht als etwas, das mit eigenen ›Händen‹, aus eigener Kraft, bewerkstelligt werden könnte.

Das uralte, von Platon formulierte Prinzip der Plötzlichkeit wird – sofern es auf die Transzendenz des Göttlichen und auf die Transzendenz Gottes weist – von Rilke an entscheidenden Stellen zur Sprache gebracht (oft in den Sonetten an Orpheus, vgl. bes. SO I 8: V.12; in den Duineser Elegien vgl. DE I: V. 3 und 95; DE II: V. 15; DE IV: V. 4; DE V: V. 81 (2x); DE VI: V. 24). Dieses Prinzip verdient Beachtung im Blick auf ein sachgemäßes Verständnis von Rilkes Vergegenwärtigung des mit ›Gott‹ Gemeinten, weil der ›Unendliche‹ in seiner ›Nähe‹ und in seiner ›Ferne‹ nur geglaubt werden kann und er alle Fixierungen übersteigt, transzendiert.

Dieser knappen Einführung in das Thema des Buches folgen nun Kurztexte, die von den Autoren erstellt worden sind und einen ersten Blick auf die Untersuchungen des Buches bieten. Wenn die Lektüre zur Einsicht führte, daß Fragen offen bleiben, ist dieses Ergebnis erwünscht. Das Thema ›Gott‹ in der Dichtung Rilkes muß nüchtern und gründlich wahrgenommen werden. Nun also die Kurztexte aus der Feder der Autoren:

Rilkes ausdauernde Arbeit am Mythos (August Stahl): Rilke hat den Weg in die Moderne als Auseinandersetzung mit der Tradition erfahren und gestaltet, erfahren als Verlust und in nostalgischer Anhänglichkeit, gestaltet in deutender und umdeutender Aneignung. Seine Aufmerksamkeit für die religiöse Überlieferung ist unübersehbar wie sein Umgang mit den Dokumenten und den Zeugnissen der christlichen Frömmigkeit und Kultur, der Bibel, den Legenden der Heiligen, den Werken der sakralen Kunst, den kirchlichen Feiertagen, den Friedhöfen. Diese Betroffenheit hat Spuren hinterlassen in seiner Lebensführung, in seiner Korrespondenz, in seinem Werk, seiner Lyrik und seiner Prosa, sensibel immer für die im Verlust ahnbare Präsenz des Verlorenen. Von der Ruhe in den leeren Kirchen und verfallenden Kapellen redet der »junge Arbeiter« nachdenklich und schonend und die Erste Duineser Elegie wirbt für »die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.« Die pathetischsten Verneinungen sind immer umgeben vom Glanz ihrer möglichen Widerlegung. Dem »nicht einmal«, mit dem die Elegien enden, folgt daher ein »Aber«, ein »vielleicht« und eine konjunktivische Trias: »erweckten«, »zeigten«, »meinten«.

Die Gottesfrage in der Dichtung Rainer Maria Rilkes. Gegen die Rede von seiner ›Immanenz-Gläubigkeit‹ (Norbert Fischer): Die Auslegung der religiösen Haltung Rilkes als ›Immanenz-Gläubig- keit‹, die sich in dessen Dichtung zeige, hat in den Texten keine Stütze und ist verfehlt. Um Rilkes Sprechen von ›Gott‹ zu verstehen, geht der Beitrag von Rilkes ›Anrede Gottes‹ aus, die auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Atheismus zu sehen ist, der Rilke unbeeindruckt gelassen hat. Rilke hat sich selbst nicht nur wie Augustinus als ›ruheloses Herz‹ bezeichnet, sondern – im Ton der ›Klage‹ – sogar als ›wildes Herz‹, in dem ›obdachlos die Unvergänglichkeit‹ nächtige. In Augustins Geist zu verstehen ist auch ein Wort aus einem späten Brief: »Statt des Besitzes erlernt man den Bezug«. Dennoch bleibt die Frage nach dem Sinn von Rilkes innigem Gottesbezug und seiner expliziten Absetzung vom Christlichen ein strittiges Thema. Der Beitrag ist ein Plädoyer für die Annahme, daß Rilke mit dem Prooemium von Augustins Confessiones ein Lob Gottes sucht, das Menschen aus sich selbst nicht zu leisten imstande sind, das aber ihre Aufgabe bleibt, weil Gott uns Menschen zu ihm hin antreibt (conf. 1,1): »tu excitas«.

Rilkes Herkunft und ein erster Blick auf seinen Weg (Jakub Sirovátka): Aufgrund seiner geographischen Herkunft als Deutscher in Prag und aufgrund seiner schwierigen religiösen Sozialisation fühlte sich Rilke in seinem Leben stets heimatlos. Zur Heimat wird ihm die deutsche Sprache. Und durch seine Reisen wird er zu einem europäischen Dichter im besten Sinne des Wortes. Seine lebenslange Gottsuche wird von einer doppelten Bewegung bestimmt. Auf der einen Seite wird das Christentum einer harschen Kritik unterzogen. Trotz dieser Tatsache erweisen sich die traditionellen christlichen Inhalte zugleich als Quelle imaginativer Inspiration. Und auf der anderen Seiten begibt sich Rilke auf die unermüdliche Suche nach einem echten und unmittelbaren Gottesbezug, der nicht besitzergreifend ist und sein darf.

Die »Christus-Visionen« Rainer Maria Rilkes (Norbert Stapper): Der Beitrag gewährt einen überraschenden Blick in den frühen, wenig beachteten und zu Lebzeiten Rilkes unveröffentlichten Zyklus der »Christus-Visionen«. Seine einzelnen Texte und ihr zyklisches Gebilde macht er konsequent als ein selbstreferentielles und vorwändiges Schreiben verständlich, das nicht einfach inhaltlichpositionell ausgewertet, sondern in seiner poetisch evozierten Bewegungsrichtung verstanden werden muß. Auch der Christus der Gedichte ist deshalb vor allem als ein poetischer Vorwand zu begreifen. Erst in einer solchen Perspektive wird es möglich, die Texte angemessen nach ›Gott‹ zu befragen und weltanschauliche Engführungen zu vermeiden. Der Aufsatz stellt die einzelnen Erzählungen der Gedichte vor und führt an den beiden zuerst entstandenen Texten die Beobachtungen zum Zyklus aus. Neben den bisher in der Forschung unbeachteten Materialreferenzen vermitteln sich gerade in der Beschäftigung mit diesem Zyklus an der Schwelle zum Frühwerk Einsichten zum ›Ort des Dichters‹ innerhalb seiner Poesie und in das Fundament des rilkeschen Werkes.

»Gott (wohne) in der Achselhöhle …«: Zur Bedeutung von Rilkes Rußlanderlebnis (Alexander Belobratow): Rilkes russische Reisen (1899 und 1900) und seine Bewunderung des ›Märchenlandes‹ Rußland finden zahlreiche Spuren in seinen Tagebüchern, Briefen und dichterischen Texten. Der ideale Ort (locus amoenus) für Rilke wird mit der deutlichen Verwendung der rhetorischen Topik präsentiert. Die spätere Darstellung des urplötzlichen ›Sich-Zeigens‹ der den Fremden in ihren Bann ziehenden russischen Religiosität und des mitreißenden Heimatgefühls bei Rilke darf nicht die Tatsache vergessen lassen, daß diese romantisch-mythologische Auffassung von Rußland durch viele Einflüsse gründlich vorbereitet war und auch gewisse Züge der Selbstinszenierung des Autors aufweist. U. a. wird eine wichtige Spur in der Gärung von Rilkes ›religiöser‹ Rußlandbegeisterung verfolgt: Publikationen der Wiener Wochenzeitung Die Zeit aus den Jahren, die direkt an beide seiner Rußlandreisen grenzen bzw. sich zeitlich mit ihnen überlagern (in Beiträgen von und über Lev Tolstoj und Anton Cechov). Das im Voraus von den Dingen gemachte Bild dominiert in Rilkes russischen Erinnerungen und Darstellungen. Dabei polemisiert Rilke in seinen Essays aus dieser Zeit gerade mit dem europäischen Umschwung in der Auffassung Rußlands, wobei er seine eigenen Rußlandkenntnisse und sein Verstehen von Rußland dem ›falschen‹ Verstehen bzw. totalem Mißverstehen seitens Europas gegenüberstellt. Rilkes Erfahrung und Stilisierung der russischen Religiosität wird an einem Fallbeispiel (der russische Gott, der, nach Rilke, »in der Achselhöhle wohne«) analysiert, der von der Forschung zwar schon berücksichtigt worden war, ohne dabei aber das ›produktive Mißverständnis‹ bei Rilke zu bemerken, das die Mechanismen der Stilisierung und Mythologisierung fremder kultureller Inhalte charakterisiert und aus einer ungenauen Übersetzung einer Textstelle aus Niko- laj Leskovs Schilderungen des gläubigen Rußlands entstanden ist.

»Gebirge, Gestein, Wildnis, Un-Weg«. Raumwahrnehmung und Transzendenzerfahrung in Rainer Maria Rilkes Capreser Gedichten (Magdolna Orosz): Im Beitrag wird auf Grund der sog. ›Capreser Gedichte‹ von Rilke das Problem einer bestimmten Selbst- und Welterfahrung in den Mittelpunkt gestellt, die für eine moderne Transzendenzerfahrung des Künstlers als eine Variante von Gotteserfahrung als repräsentativ betrachtet werden könnte. Da die ›Suche nach Gott‹ bei Rilke über im engeren Sinne Religiöses hinausgeht und zugleich ›zur Suche nach dem eigenen Ich‹ wird, wird durch die Gedichtanalysen aufgezeigt, wie sich in diesen formal auch oft experimentierenden Texten ein neuartiges Verhältnis von Natur und Mensch, Subjekt und Objekt gestaltet. Die Capreser Gedichte nehmen eine Übergangsstellung zwischen den Neuen Gedichten und den Duineser Elegien ein, sie artikulieren eine allmähliche Entfernung von der dinghaften Schreibweise der ersteren und führen – über die Capreser Gedichte und die in ihnen aufscheinenden neuartigen Wahrnehmungen – zur Poetik des Rilkeschen Spätwerks: Die Capreser Erfahrung verbindet damit frühere und spätere ›Fäden‹ des Rilkeschen Œuvre und demonstriert dessen moderne Komplexität.

Fragen nach Gott in den ›Neuen Gedichten‹ (William Waters): Mehrere der Neuen Gedichte berühren religiöse Themen, ob biblisch, kirchlich, geschichtlich oder legendär. Jedoch werden in diesen Gedichten traditionelle religiöse Thematik und die Vorstellung von Göttlichkeit radikal abgekoppelt: Sie können zusammen auftreten, müssen es aber nie. Die Gedichte, die Gott erwähnen, tragen zu keiner einheitlichen Gottesvorstellung bei, denn in jedem geht es um eine situationsgebundene Perspektive auf Gott, um den oft komplexen Blickwinkel einer menschlichen Figur oder einer gewissen Gruppe gegenüber dem Göttlichen. Doch anhand von Beispiellektüren wird gezeigt, daß gerade diese Instabilität des Blickes auf Gott, die Destabilisierung der Situationen durch interagierende Gesichtspunkte, und die Faszination von denjenigen Konstellationen, in denen ein Wille für Gott und einen Menschen ausreicht – daß alles dies bewußt dazu beiträgt, den Raum um Gott freizulassen. Was die Neuen Gedichte deshalb inszenieren, ist die Entdeckung, daß der heilige Aspekt der Welt in ihrem Werden liegt, in ihrer nicht-Koinzidenz mit sich selber, in der Tatsache, daß die Welt aus Perspektiven, Bewegungen und Beziehungen gemacht ist, nicht aus Totalität.

›Gott‹ in Rilkes Roman ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹. Sämtliche Fundstellen zum Wort ›Gott‹ mit kurzem Kontext und erläuternden Anmerkungen (Norbert Fischer): Ihren Ausgangspunkt nimmt die Untersuchung (die unter dem Leitwort steht: »Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also«) bei einem Wort aus den ›Aufzeichnungen‹: »Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig werden.« Im Hintergrund steht das Pathos des ›Atheisten‹ Nietzsche, der trotz Leugnung des Daseins Gottes in die Gottesfrage verstrickt bleibt und am Fehlen ›Gottes‹ leidet. Der Hinführung zu Rilkes Malte-Roman und zur Methode der Untersuchung der Gottesfrage folgt ein dreifach gegliederter Überblick über alle Stellen im Malte Laurids Brigge mit Erwähnung des Wortes ›Gott‹, zunächst mit beiläufigen Erwähnungen des Wortes ›Gott‹, sodann mit Stellen von mittlerem Gewicht, schließlich solche mit bewußt gesetzten, aussagekräftigen Erwähnungen des Wortes ›Gott‹. Im Epilog wird ein Versuch gemacht, die Doppeltheit von Maltes Nähe und Ferne zu Gott zu verdeutlichen, die ein altes Thema der philosophischen Theologie ist.

Das Schweigen der Engel und der Hinweg des Subjekts. Sprachsuche, Selbstsuche, Gottsuche in Rilkes ›Duineser Elegien‹ (Wolfgang Braungart): Mit der späten Aufklärung wird das Mythische, Anschauliche, Imaginative von Religion unabweisbar problematisch. Radikalste Konsequenz dieses neuen, modernen Mißtrauens in die vorgefundenen ›Bilder‹ von Religion ist die negative Theologie, die auch eine skeptische Religionsästhetik impliziert. Genau deshalb steht hier die Literatur als der kulturelle Diskurs der fortwährenden Produktion von Imaginationen seit der Romantik vor neuen Herausforderungen und neuen Aufgaben. Rilkes ›Elegien‹ und sein Werk überhaupt nehmen sie an. Aber Darstellen bedeutet immer auch Deuten. Die ›Elegien‹ sind insofern zugleich als hermeneutische Poesie verstehbar. Das betrifft ihre poietische Sprachbewegung selbst wie die verstehend-imaginative Leistung des hermeneutischen Subjekts, die sie von ihm verlangen. Von ihm ist hier eine viel größere Anstrengung gefordert, als sich nur in einen Überlieferungszusammenhang und in ein Traditionsgeschehen einzurücken. Subjektivität darf nicht nur selbstgenügsam sein; sie muß sich vielmehr ausrichten und sich transzendieren. Und sie weiß, daß sie das tun muß. Die Produktivität dieser sich (auf die Engel) ausrichtenden Suchbewegung ist Sprach- und Subjektsuche zugleich. Die ›Elegien‹ entwickeln damit ein großes Thema, ohne selbst im Sinne zweckhafter, zielgerichteter Produktivität wirklich voranzukommen. Dennoch ist diese Suchbewegung notwendig und nicht nur voller »Hinweg«, sondern auch voller Sinn. Am Ende weisen die ›Elegien‹, nachdem sie ihr Thema zyklisch ausgeschritten haben, auf ihren Anfang zurück. Die moderne Subjektivität wird in ihrer Suche nach sich selbst und in ihrer sprachlichen und religiösen Suchbewegung immer unterwegs sein. Sie kennt dabei immer nur »Hinweg«. Ob sie dabei dennoch »immer nach Hause« unterwegs ist (Novalis): Wer vermag das zu sagen?

»Und zitternd hochgerissen standen sie krumm und hatten bange lieb«. Zu Rilkes Emmaus-Gedicht (Friedrich-Wilhelm von Herrmann): Die hermeneutisch-phänomenologischen Ausführungen zu Rilkes 1913 in Paris verfaßtem Gedicht EmmausEmmausChristus und die Jünger von Emmaus