Umschlag

Erika Urban verdiente sich ihr Geld als Kellnerin, Texterin und Lehrerin, bis sie mit dem Schreiben begann. Obwohl sie inzwischen in München lebt, ist ihr Wien, der Schauplatz ihrer Krimis, immer eine Heimat geblieben. Sie liebt Reisen, Berge, gutes Essen und Wein.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Rainer Mirau/Lookphotos
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Uta Rupprecht
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-204-5
Wien Krimi
Originalausgabe

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Für Bernd

Prolog

Er schwitzte. Obwohl die Nacht kühl war, lief ihm der Schweiß den Rücken hinunter. Das weiße Rippshirt klebte an seinem Oberkörper, der sich im Rhythmus der Ruderschläge vor- und zurückwiegte.

Die Alte Donau lag still und unbeweglich im Mondlicht. An ihrem rechten Ufer erstreckte sich die Skyline von Kaisermühlen – graue Hochhäuser und Gemeindebauten. Vereinzelt sah er Licht in den Fenstern der Wohnungen. Irgendwo grölte ein Betrunkener.

Sein Ziel aber war das andere Ufer. Dort, wo es um diese Uhrzeit still und menschenleer war. Niemand würde ihn sehen.

Niemand würde ihn stören.

Er ließ die Ruder sinken, seine Augen glitten über das Ufer. Alles war ruhig. Er konnte keine Bewegung ausmachen, keine Geräusche. Ein Stück vor sich erkannte er einen längeren Streifen Land – sein Ziel.

Er ruderte zu einem Strand, von dem aus eine Rampe mit Geländer ins Wasser führte. Als er Widerstand unter dem Boot spürte, sprang er schwer atmend heraus.

Erneut hielt er inne. Lauschte. Beobachtete. Das Grölen des Säufers am anderen Ufer war verklungen. Kleine Wellen plätscherten leise an den Strand. Sonst rührte sich nichts.

Es war so weit.

Nun kam der anstrengende Teil seiner nächtlichen Arbeit. Er watete an das hintere Ende des Bootes und zog ihr mit einer beinahe andächtigen Geste das Seidentuch vom Kopf. Zärtlich betrachtete er ihr regloses Gesicht, das vom Mondlicht kalt angeleuchtet wurde. Die langen blonden Haare klebten an den bleichen Wangen. Fast sah es aus, als ob sie schliefe. Fast.

Ein letzter Blick, eine Berührung, warmes Fleisch an kaltem, dann packte er zu. Mühsam zerrte er den leblosen Körper über die niedrige Reling und ließ ihn ins Wasser gleiten, das an dieser Stelle so seicht war, dass es sich kaum über ihm schloss.

Er kletterte zurück ins Boot und ergriff die Ruder. Er musste weg von hier. Weg von ihr.

Das war das letzte Mal, schwor er sich, skandierte die Worte vor sich hin wie ein Mantra und wusste doch gleichzeitig, dass sie nicht wahr waren.

EINS

»Seid ihr noch nie besoffen durch die Alte Donau geschwommen?« Verwundert stellte Emma Roth fest, dass alle in ihrem Team sie entsetzt anblickten, nicht nur ihr Assistent und beruflicher Kontrahent Karl Rotten, von dem sie es gewohnt war, sondern auch ihre Sekretärin Malin Meier und der Computerfachmann Felix Musch.

Kurz wog sie ihre Möglichkeiten ab: ihre Worte als dummen Scherz abtun, ehrlich von ihren diversen nächtlichen Ausflügen in wechselnder männlicher Begleitung berichten oder einfach so tun, als wäre nichts gewesen? Sie entschied sich für Letzteres.

»Wie dem auch sei, unsere Tote ist sicherlich nicht freiwillig hierhergeschwommen.« Emma zeigte auf die Leiche, die Dr. Alf Heine, der Gerichtsmediziner, gerade mit Hilfe seiner Assistenten aus dem seichten Uferwasser an Land zog. »Wissen wir schon Genaueres?«

Rotten angelte mit wichtiger Miene sein Smartphone aus der Tasche und las von seinem digitalen Notizblock ab. »Heinz Pichorek, der Badewaschl vom Dienst, hat die Tote heute Morgen gegen halb sieben entdeckt, als er seine Runde drehte. Anfangs dachte er, es handle sich um einen makabren Scherz und jemand habe eine Schaufensterpuppe abgelegt, aber als er merkte, dass es ein Mensch war, hat er uns sofort benachrichtigt.«

Er zeigte auf einen hochgewachsenen Mann, nur mit weißen Shorts und T-Shirt bekleidet, der aufgeregt telefonierend außerhalb des Absperrbandes auf und ab lief.

»Was ist denn ein Badewaschl?«, vernahmen sie die Stimme des Gerichtsmediziners, der gerade dabei war, die Leiche von allen Seiten zu fotografieren.

»Scheiß-Piefke«, murmelte Rotten, wofür er einen giftigen Blick von Emma kassierte. Sie beeilte sich, Dr. Heine, der aus dem deutschen Norden stammte, den Ausdruck zu erklären. »So nennen wir in Wien die Bademeister. Muss man nicht wissen.«

Heine lächelte sie dankbar an. Es war nicht das erste Mal, dass er wegen seiner Herkunft bissige Kommentare zu hören bekam. Gerade Rotten ließ keine Gelegenheit aus, den dicklichen, stets etwas ungepflegt wirkenden Arzt mit spitzen Bemerkungen zu verunsichern.

Emma kniete sich neben Heine und betrachtete die Tote. Die Frau trug dunkle Hosen und eine helle Bluse, die vom Wasser völlig durchweicht waren.

»Ich kann bisher nur sagen, dass es sich um eine ältere Frau handelt, so um die siebzig. Sie wurde erwürgt. Das beweisen eindeutig die Male am Hals sowie einige Abwehrspuren an den Händen. Sie trägt einen Haufen Goldschmuck, mehrere Ringe und eine Kette mit einem eingefassten Diamanten. Mit einem Raubmord haben wir es also sicher nicht zu tun.« Emma zog sich Handschuhe über und ergriff die linke Hand. Am Ring- und Mittelfinger glänzte jeweils ein Goldring.

»Sie war verheiratet.« Emma deutete auf den schmalen Ehering. Heine nickte, während er den Bauch der Toten abtastete. Dann stand er auf und winkte einen seiner Assistenten herbei.

»Einpacken und dann ab mit ihr in die Gerichtsmedizin.« An Emma gewandt fügte er hinzu: »Ich melde mich, wenn ich mehr weiß. Spätestens heute Abend hörst du von mir!«

Während Heine und seine Assistenten einen Leichensack öffneten, inspizierte Emma den Fundort. Sie befanden sich im Strandbad Gänsehäufel am Ufer der Alten Donau. Als Studentin war sie oft hier gewesen.

Sie stieg über das Absperrband und näherte sich dem Bademeister, der nervös an einer Zigarette zog, die bestialisch nach Menthol roch. Emma kramte nach ihren Gitanes und atmete erleichtert ein, als der würzige Geruch das künstliche Minzaroma vertrieb.

»Herr Pichorek, ich bin Majorin Roth von der Kripo Wien. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«

»Eh klor!« Er saugte an seiner Zigarette und musterte Emma. »So hübsche Damen bei der Kripo? Wär ich doch lieber zur Polizei gegangen.«

Emma überging die Anmache mit einem abfälligen Lächeln. »Sie haben die tote Frau heute Morgen entdeckt. Was können Sie mir darüber berichten?«

Pichorek kratzte sich an seiner Stirnglatze. Er schien nicht der Allerhellste zu sein. Schließlich hustete er, spuckte kurz aus und begann dann zu erzählen: »Ich hatte heute Frühschicht. Kam gegen sechs, habe aufgesperrt und mich umgezogen.« Er ließ seine Hände von den Schultern nach unten wandern.

Emma warf einen Blick auf seine Arbeitskluft. »Und weiter?«, fragte sie etwas ungeduldig.

»Dann habe ich mir den Caddy von unserem Vorarbeiter Harry geschnappt und damit eine Runde gedreht. Es kommt öfter vor, dass Besoffene nachts über die Alte Donau hier herüberschwimmen.«

Emma warf Malin, die sich zu ihnen gesellt hatte, einen triumphierenden Blick zu. Sie war also doch nicht die einzige Irre in Wien.

»Na ja«, fuhr der Bademeister fort, »und die kotzen uns dann öfters an den Badestrand. Daher muss ich jeden Morgen kontrollieren, ob alles seine Ordnung hat.« Malin feixte.

»Und bei diesem Kontrollgang haben Sie die Wasserleiche entdeckt?«, fragte Emma.

Er nickte. »Sie lag in Ufernähe, unübersehbar. Mir war schnell klar, dass da nichts mehr zu machen war, daher habe ich gleich euch gerufen.«

»Waren Sie zu diesem Zeitpunkt alleine auf dem Gelände?«

Der Mann nickte. »Ja. Alles war zugeschlossen, als ich eintraf. Gegen halb sieben kam dann der Hausmeisterdienst. Da wart ihr aber schon unterwegs.«

»Haben Sie sich die tote Frau genauer angesehen? Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?«

Er schüttelte den Kopf und zog eine neue Mentholzigarette aus einer giftgrünen Packung.

»Warum sollte ich? Leich ist Leich! Da verderb ich mir nicht den Appetit, indem ich genauer hinschaue!«

* * *

Vor dem Strandbad hatte sich eine große Menschentraube versammelt. Darunter sah Emma viele Badegäste, die mit ihren prall gefüllten Strandtaschen ungläubig vor dem geschlossenen Freibad warteten. Eine Handvoll Journalisten war ebenfalls zur Stelle und hoffte auf gute Motive und eine Stellungnahme.

Einer von ihnen entdeckte die Ermittler und stürmte sogleich auf sie zu.

»Majorin Roth, gibt es bereits erste Erkenntnisse zur Toten vom Gänsehäufel?«

Emma kochte innerlich. Woher wussten die schon wieder so genau Bescheid? Zu keinem Zeitpunkt hatte es eine Erklärung gegeben, dass das Opfer weiblich war. Sie tippte auf den Bademeister, der während ihrer Tatortbesichtigung mehrmals telefoniert hatte.

Ohne ein Wort drängte sich Emma an den Reportern vorbei und ging auf den Dienstwagen zu, mit dem sie Rotten heute früh von zu Hause abgeholt hatte. Dort angekommen, drehte sie sich um und lief rot an vor Wut. Karl Rotten war umringt von den Journalisten und lächelte in die Kamera. Dabei erzählte er mit wichtiger Miene, dass die Kripo Wien alles tun würde, um diesen Mordfall aufzuklären.

Arschloch, dachte Emma und musste sich zusammennehmen, um ihm nicht an Ort und Stelle eine Watschen zu verpassen. Nachdem sie einen letzten Blick auf ihren medienfreundlichen Assistenten geworfen hatte, lief sie zu ihrem Auto und stieg ein. Auf diesen Volltrottel würde sie nicht warten!

ZWEI

Wie in Trance beobachtete Emma den dünnen schwarzen Strahl, der aus dem Kaffeesieb der Espressomaschine in ihre Tasse lief. Der Tag hatte schlecht begonnen. Nach einer unruhigen Nacht mit verstörenden Träumen hatte Rotten sie wach geklingelt und mit wichtigem Ton in der Stimme ins Büro bestellt. Emma war zu müde gewesen, um ihn in seine Schranken zu weisen. Warum ließ sie sich von diesem Arschkriecher mit Profilneurose etwas befehlen?

Die Stimmung im Team war schon seit Längerem angespannt. Rotten ärgerte es, dass Emma als Abteilungschefin immer Malin und Musch mit an den Tatort nahm. Für ihn waren die beiden lediglich Büroangestellte, an einem Tatort hatten sie nichts zu suchen. Emma sah das anders. Auch wenn Malin offiziell nur als Sekretärin für sie arbeitete, besaß sie ein feines Gespür und eine bewundernswerte Menschenkenntnis. Zusammen mit Musch, der ein Ass am Computer war, hatte sie Emma bereits bei vielen Ermittlungen geholfen – mehr als der selbstverliebte Rotten, davon war Emma überzeugt.

Als Emma im Büro ankam, hatte sie Rottens Zurufe, er müsse mit ihr sprechen, einfach ignoriert und zielstrebig ihre Kaffeemaschine angepeilt.

Über die Tote vom Strandbad gab es noch nichts Neues. Sie hatte nichts bei sich getragen, was einen Hinweis auf ihre Identität gegeben hätte. Auch im Abgängigen-Register für vermisste Personen, das Musch sofort durchstöbert hatte, war sie nicht aufgeführt. Möglich, dass ihr Verschwinden noch nicht gemeldet worden war. Vielleicht würde im Lauf des Nachmittags noch die passende Vermisstenanzeige hereinflattern.

Die Kaffeemaschine surrte laut, dann verstummte sie. Emma nahm sich den Espresso und ging ans Fenster. Während sie sich eine Zigarette anzündete, ließ sie den Blick über die Dächer der Stadt gleiten. Seit dem letzten Sommer, als sie mit ihrem Team einen medienträchtigen Entführungsfall aufgeklärt hatte, war viel in ihrem Leben passiert. Sie hatte sich in Tom, einen Universitätsdozenten, verliebt, war zuerst mit ihm in Urlaub gefahren und dann bald bei ihm eingezogen, ohne jedoch ihre alte Wohnung aufzugeben. Eine Vorahnung?

Es hatte funktioniert. Sie hatte funktioniert wie noch nie zuvor und dabei ihren persönlichen Beziehungsrekord aufgestellt. Im Nachhinein erkannte Emma nun, wie glücklich sie eigentlich gewesen war. Aber es war alles anders gekommen.

Letzten Monat waren sie nach Venedig gefahren. Für Emma ein ganz normaler Kurzurlaub. Hätte sie geahnt, was dort passieren würde, sie wäre lieber daheimgeblieben. Eines Abends war Tom, mitten in einer bierseligen Studenten-Bar an der Piazza Margherita, plötzlich auf die Knie gegangen und hatte um ihre Hand angehalten. Obwohl Emma völlig überrumpelt gewesen war, hatte sie die Antwort sofort gewusst. Ihr »Nein« hatte ihn tief getroffen. Am nächsten Tag war er still abgereist und hatte sie in der Lagunenstadt allein zurückgelassen. Seitdem herrschte Funkstille.

Emma seufzte. Sie hatte es vermasselt. Eigentlich konnte sie ihre Weigerung nicht erklären. Tom war perfekt für sie gewesen. Intelligent, liebevoll und beruflich erfolgreich. Er hatte Geschmack und ließ ihr die Freiheiten, die aufzugeben sie nie bereit gewesen wäre. Er war ein Goldschatz. Und sie hatte diesen Schatz einfach fortgeworfen.

»Und deshalb sitze ich jetzt wieder alleine in meinem stickigen Büro und blase Trübsal«, murmelte sie vor sich hin, als das Telefon klingelte. Schnell warf sie die Kippe aus dem Fenster und hob ab.

Es war Dr. Heine. »Sie sollten schnell vorbeikommen. Es gibt da etwas, das Sie sehen sollten!«

* * *

»Schießen Sie los, Dr. Heine! Sie haben am Telefon so geheimnisvoll getan.«

Heine sah Emma herausfordernd an. Er führte sie zu einem Seziertisch und zeigte auf die Tote. »Wie ich bereits am Fundort der Leiche gesagt habe: Sie wurde erwürgt. Allerdings ist der Fundort nicht der Tatort. Der Todeszeitpunkt liegt bei etwa achtzehn Uhr, im Wasser kann sie aber frühestens ab circa dreiundzwanzig Uhr oder Mitternacht gelegen haben. Es finden sich zahlreiche Abwehrspuren, darunter Hautpartikel unter ihren Fingernägeln, aber die DNA ist leider nicht im System registriert.«

Das wäre auch zu schön, dachte Emma und musterte die Frau, die vor ihr aufgebahrt lag. Heine hatte ihren Körper bis zum Hals mit einem weißen Tuch bedeckt.

»Was wissen wir über sie? Konnten Sie sie identifizieren?«

Der Gerichtsmediziner zuckte die Schultern. »Der Zahnabgleich läuft, aber das kann noch dauern. Sie hat eine Blinddarmnarbe und eine weitere, die von einem Kaiserschnitt herrührt. Zudem wurde in den letzten Jahren kräftig an ihr herumgeschnipselt.« Er grinste.

Verwirrt starrte Emma ihn an. »Sie meinen, sie musste mehrfach operiert werden? War sie krank?«

»Pumperlgesund!«, antwortete Heine. »Bis auf die typischen Alterserscheinungen. Ihre Halsschlagader war etwas verkalkt, und in den Fingern hatte sie Gicht. Sonst fehlte ihr nichts.«

»Aber warum musste sie dann operiert werden?« Emma war irritiert. Zumal Heine mächtig Vergnügen an ihrer Verwirrung zu finden schien. Irgendeinen Knaller hielt er noch zurück.

»Die Gute hat sich wohl regelmäßig unter das Messer eines Schönheitschirurgen gelegt. Die Nase ist gerichtet, die Lippen aufgespritzt. Am Bauch und den Hüften wurde mehrmals Fett entfernt. Und die Brust wurde ebenfalls nachbearbeitet. Quasi eine Generalüberholung!«

»Die ihr nichts gebracht hat. Den Würmern ist das eh wurscht!«, resümierte Emma. Sie war frustriert, hatte sie sich doch eine schnelle Identifikation der Toten erhofft.

Aber Dr. Heine war noch nicht fertig. »Ich habe mir ihre Brüste genauer angeschaut!« Mit diesen Worten zog er das Laken ein Stück nach unten. »Beide waren mit Silikonkissen aufgefüllt.« Er blickte Emma erwartungsvoll an.

»Und?«, meinte sie. »Was sagt uns das über die Leiche? Dass sie viel Wert auf ihr Äußeres legte? Dass sie OP-süchtig war?«

Heine kicherte. »Viel mehr, meine liebe Majorin. Industriell hergestellte Silikonkissen tragen nämlich eine Produktionsnummer. So kann man bei Rückrufen fehlerhafter Implantate durch den Produzenten die Besitzerinnen ausfindig machen. Gab es schon alles!«

Heine ging zu einer Stahlanrichte, auf der verschiedene Nierenschalen standen. In einer lagen zwei Silikonkissen. Triumphierend hielt er sie in die Luft. Und Emma verstand.

Endlich! Über diese zwei Implantate würden sie die Identität der Donauleiche herausfinden. Sie atmete erleichtert auf. Dann hatte ihre Tote wenigstens einen Namen, eine Geschichte, und war nicht mehr nur eine Nummer im Kühlraum der Gerichtsmedizin.

»Rücken Sie endlich mit der Sprache heraus, Herr Doktor, wen habe ich hier vor mir?«

Der Arzt atmete tief durch.

»Die Implantate gehören zu einer gewissen Helen Maria Waldmann.« Er zog die Luft durch die geschlossenen Zähne, sodass es zischte.

Emma musterte ihn fragend. »An Ihrem Gesicht kann ich sehen, dass das noch nicht alles war.«

Heine nickte. Dann führte er Emma zu einem PC und klickte auf einen Ordner. Das Bild einer etwa dreißigjährigen dunkelhaarigen Frau erschien.

»Das ist Helen Maria Waldmann. Sie ist vor einem Jahr nach einem Autounfall gestorben und wurde in Graz beerdigt.«

Emmas Blick wanderte von der Frau auf dem Bildschirm zu der Toten auf dem Seziertisch und wieder zurück.

Was zur Hölle war da los?

* * *

Emma blickte in die Runde. Lauter wohlbekannte Gesichter. Da saßen sie wieder alle zusammen. Seit dem letzten Sommer hatte diese Konstellation nicht mehr an einem Tisch getagt. Zu unbedeutend waren die Fälle gewesen, die ihr in den vergangenen zwölf Monaten zugetragen worden waren, zu zentral ihr schwieriges Verhältnis zum Abteilungsinspektor Karl Rotten, der sie ständig gegen Oberst Tomschak, ihren Vorgesetzten, auszuspielen versuchte. Aus diesem Grund waren durchweg kleinere Vergehen auf ihrem Schreibtisch gelandet, für die sie nicht die Unterstützung des Psychologen Dr. Fred benötigte. Dieser braun gebrannte Beau, der den Frauen reihenweise den Kopf verdrehte, hatte sich heute neben Oberst Tomschak, Herbert Kronau, dem Leiter der Spurensicherung, und dem Gerichtsmediziner Dr. Heine hier eingefunden. Emma, Musch und Malin ließen sich auf der anderen Seite des Konferenztisches nieder, während Rotten mit Strebermiene neben Tomschak saß und ihn anhimmelte.

Gerade als Emma die Runde eröffnen wollte, klopfte es zaghaft an der Tür. Ein Grinsen glitt über Tomschaks Gesicht.

»Nur herein!«, rief er und winkte dem Mann, der nun im Türrahmen erschien, freudig zu sich. »Schön, dass Sie es geschafft haben. Ich weiß, eigentlich wollte ich Sie erst kommende Woche vorstellen, aber so vollständig bekomme ich mein Team in nächster Zeit nicht mehr um einen Tisch.«

Emma blickte fragend zu Malin und Musch, die aber nur mit den Schultern zuckten. Lediglich Rotten schien mal wieder voll im Bilde zu sein. Er erhob sich ebenfalls und schüttelte dem Fremden die Hand.

»Ich darf Ihnen Major Viertel vorstellen«, fuhr Tomschak fort. »Er wird ab dem kommenden Montag das Team unterstützen, vor allem unsere werte Majorin Roth.« Er nickte Emma zu, die nur verwirrt den Kopf schüttelte.

»Wie darf ich das verstehen, Oberst Tomschak? Wird Major Viertel uns vorübergehend für den aktuellen Fall zugeteilt?« Anders konnte sich Emma das Erscheinen des Mannes nicht erklären. Aber aus Rottens dümmlichem Grinsen und Tomschaks mitfühlendem Lächeln las sie, dass mehr dahinterstecken musste.

Tomschak schlürfte etwas Kaffee, bevor er antwortete.

»Meine Liebe, wir wissen alle, dass Ihre Abteilung dringend Verstärkung braucht. Daher habe ich Major Viertel zu uns geholt. Er wird zusammen mit Ihnen die Leitung übernehmen. Etwas männlicher Einfluss auf der Führungsebene hat noch nie geschadet.« Er lachte schmierig.

Emma rang nach Worten. Was geschah hier? Sie war die Abteilungsleiterin, nur sie. Gut – sie musste zugeben, dass sie in ihrer Rolle als Vorgesetzte manchmal ein schlechtes Vorbild abgab. Sie kam regelmäßig zu spät, rauchte heimlich im Gebäude, obwohl das strikt untersagt war, und schaffte es nicht immer, ihren Alkoholpegel bis Dienstbeginn vollständig abzubauen. Aber ihre Aufklärungsquote war gut, geradezu vorbildlich, und ihr Team mochte sie. Bis auf Rotten.

Ob er dahintersteckte? Sie beobachtete ihn verstohlen, wie er gerade zufrieden mit dem Bleistift auf die Tischplatte klopfte. Er hatte es nie verkraftet, dass seine direkte Vorgesetzte eine Frau war. Für ihn gehörten Frauen noch an den Herd, nicht an Universitäten, zur Polizei und schon gar nicht in eine Führungsposition.

Der Neue, sichtlich verwirrt über Emmas Reaktion, räusperte sich verlegen. »Dürfte ich …?« Wie ein Schüler im Unterricht hob er kurz die Hand und sah Tomschak fragend an.

Der nickte eifrig. »Natürlich, mein lieber Major Viertel. Nur zu. Über eine kleine Begrüßungsrede würden wir uns sehr freuen.«

Unbeholfen stand Viertel auf und räusperte sich erneut. »Es freut mich, heute gleich alle neuen Kollegen kennenlernen zu dürfen. Mit Abteilungsinspektor Rotten hatte ich ja bereits mehrmals das Vergnügen!« Er blickte zu Rotten, der ihn mit einem schleimigen Lächeln bedachte.

Emma grunzte abfällig. Natürlich kannten sich die beiden. Sie aber hatte man gar nicht erst gefragt.

»Ganz besonders freue ich mich«, fuhr Viertel fort, »meine zukünftige Partnerin im Dienst, Majorin Roth, endlich persönlich zu treffen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört!«

Tomschak hüstelte. »Natürlich nur Gutes, nur Gutes!«

Emma verdrehte die Augen und spürte, wie Malins Hand unter dem Tisch ihr Knie drückte. Wenigstens blieben ihr Malin und Musch als ewige Verbündete, dachte Emma. Sie war sich sicher, dass mit diesem Viertel ein weiterer Maulwurf in ihre Abteilung eingeschleust wurde, der Tomschak, völlig treu und ergeben, regelmäßig Bericht erstatten würde. Mit Rotten allein war sie fertiggeworden. Ob sie zwei von der Sorte ertragen konnte? Sie wusste es nicht.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht mehr zuhörte. Umso erschrockener fuhr sie auf, als ihr Name fiel. »Liebe Majorin Roth, ich stoße an auf eine gute Zusammenarbeit!«

Rotten hatte inzwischen eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank geholt und hantierte umständlich am Korken. Tomschak klopfte Viertel auf die Schulter und redete auf ihn ein. Heine und Fred saßen etwas unbeholfen auf ihrem Platz.

Emma hatte genug. Sie ignorierte das Sektglas, das Viertel ihr reichte, erhob sich und verließ wortlos das Zimmer. Im Hinausgehen hörte sie einen empörten Aufschrei von Tomschak, gefolgt von einem gehässigen »Die kann sich einfach nicht benehmen«, das eindeutig von Rotten kam. Danach vernahm sie Stühlerücken und Schritte. Malin und Musch folgten ihr.

Trotz der angespannten Situation musste sie lächeln. Schon ihren letzten schweren Fall hatten sie und ihre zwei Kollegen ohne Rottens oder Tomschaks Rückendeckung bewältigt. Solange Emma sich der Loyalität der beiden sicher sein konnte, war alles gut.

Sie seufzte. »In fünf Minuten treffen wir uns in meinem Büro. Lagebesprechung. Malin, du sorgst für frisch aufgebrühten Kaffee. Musch, du trägst alles, was wir bisher wissen, auf dem Whiteboard zusammen. Ich springe schnell in die Mensa und hole uns Kuchen. Etwas Nervennahrung kann uns jetzt nicht schaden!«

Eine Viertelstunde später saßen sie in einer entspannten Runde beisammen. Auch Dr. Fred, Dr. Heine und Herbert Kronau hatten sich zu ihnen gesellt.

Nachdem sich jeder an der Kuchenplatte bedient hatte, begann Emma: »Die Identität unserer Toten vom Gänsehäufel ist nach wie vor unklar. Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass sie die Brustimplantate einer anderen trug – Helen Maria Waldmann. Diese Silikonkissen sind momentan unser einziger Anhaltspunkt. Daher möchte ich, dass du, Musch, gleich morgen früh zu recherchieren beginnst. Wer war besagte Frau Waldmann? Wo hat sie sich ihre Brüste machen lassen? Und warum wurden sie ihr nach dem Tod entnommen?« Emma trank einen Schluck Kaffee.

»Malin«, sie blickte ihre Sekretärin an, »konntest du noch irgendetwas aus dem Badewaschl herausbekommen?«

Malin schüttelte den Kopf. »Er ist erst seit dieser Saison im Gänsehäufel. Es war das erste Mal überhaupt, dass er alleine aufgesperrt hat.«

»Du behältst bitte das Abgängigen-Register im Blick. Sollte irgendeine neue Meldung reinkommen, gibst du mir sofort Bescheid. Und halte die Presse in Schach. Ein Mord in Wiens beliebtestem Strandbad ist ein gefundenes Fressen für die Meute, das stopft ihr Sommerloch. Ich möchte, dass keine Informationen nach draußen dringen. Kronau, hat dein Team irgendetwas am Fundort der Leiche entdeckt?«

Der Leiter der Spurensicherung grinste Emma breit an. Obwohl er ein schmieriger Typ war, der jeder einigermaßen hübschen Frau an den Rock wollte und daraus keinen Hehl machte, mochte ihn Emma. Es hatte zwar einige Zeit gedauert, bis sie ihm klargemacht hatte, dass ihr Rock eine Tabuzone für ihn war, aber nachdem er es kapiert hatte, waren sie so etwas wie »gute Bekannte« geworden. Sie gingen gelegentlich sogar gemeinsam ein Bier trinken. Malin hatte da weniger Glück. Mit ihrer skandinavischen Schönheit war sie das perfekte Opfer für Kronau.

Auch jetzt streifte er sie mit einem eindeutigen Blick, bevor er Emma antwortete. »Von meiner Seite gibt’s kaum etwas zu sagen. Es gibt keine eindeutigen Spuren am Strand und im Wasser. Was wir entdeckt haben, muss nicht vom Täter stammen. Laut Aussage des Bäderamtes war das Strandbad am Tag zuvor so gut besucht wie noch nie seit Saisonbeginn. Letzte Woche war das Wetter ja auch umwerfend. Insgesamt wurden über sechzehntausend Tickets am Eingang gelöst. Da kann man sich ausmalen, wie es am Strand zugegangen sein muss.«

Er zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern. »Auch unsere Taucher haben nichts entdeckt. Von mir aus könnt ihr den Fundort wieder für die Öffentlichkeit freigeben.« Er verschränkte die Arme, warf Malin einen schmachtenden Blick zu und schwieg.

Da meldete sich Dr. Heine zu Wort. »Ich bin jetzt mit der Obduktion durch. Das Opfer war, wie ich Majorin Roth bereits berichtete, pumperlgesund. Sie wurde erwürgt. Inzwischen habe ich ein Foto, das Sie für die Fahndung verwenden können.« Er schob Emma ein Bild zu, auf dem die Leiche mit geschlossenen Augen abgebildet war.

»Danke«, erwiderte Emma. »Ich fahre morgen in der Früh ins Gänsehäufel und zeige es allen Angestellten. Vielleicht ist sie vor ihrem Tod schon einmal im Strandbad gewesen, und jemand erkennt sie. Musch, möchtest du mich begleiten?«

Ihr Computerass blickte sie überrascht an. Normalerweise nahm sie ihn nicht zu Befragungen mit. Begeistert nickte er.

»Dann machen wir hier Schluss«, beendete Emma die Runde und erhob sich. »Es kommt morgen genug Arbeit auf uns alle zu, wir sollten nach Hause fahren und uns ausschlafen!«

DREI

»Was machst du denn hier?« Überrascht starrte Emma Karl Rotten an, der mit einem Kaffeebecher in der Hand auf sie zukam. Sie stand vor dem Strandbad, um eine letzte Zigarette zu rauchen, während sie auf Musch wartete.

»Tomschak hat mich geschickt. Er meinte, unsere Muschi eigne sich nicht für Befragungen. Das sollte schon von jemandem mit Erfahrung und Know-how übernommen werden!«

Emma runzelte spöttisch die Stirn. »So einem wie dir?«

Anstatt zu antworten, marschierte Rotten auf die Kassenhäuschen zu, zog seinen Ausweis und hielt ihn einer der darin sitzenden Damen vor die Nase: »Kripo Wien, Abteilungsinspektor Rotten. Ich möchte mit dem Verantwortlichen des Strandbades sprechen!«

Emma fuhr dazwischen. Sie lächelte die Kassiererin freundlich an und schubste Rotten zur Seite. Wütend flüsterte sie ihm zu: »Du Depp! Verantwortlich ist das Bäderamt. Da kannst du gerne hinfahren, dann muss ich dich nicht mehr ertragen. Falls du es vergessen hast: Ich leite diese Ermittlung. Du hältst schön brav deine Klappe und machst, was ich dir sage. Und zwar Folgendes: Du wirst mit diesem Foto zu allen Ladenbesitzern, Cafébetreibern und Würstelstandtanten gehen und sie fragen, ob sie unsere Tote schon einmal gesehen haben. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um die wichtigen Leute.« Sie drückte ihm einen Abzug des Fotos in die Hand, das sie gestern von Dr. Heine erhalten hatte, und ließ ihn damit stehen.

Am Eingang war ein älterer Mann mit langen grauen Haaren und einem Vollbart zu der Kassiererin getreten, die nun aufgeregt auf ihn einredete. Als Emma sich ihm vorstellte, streckte er ihr freundlich die Hand entgegen.

»Ich bin Harry Kretsch, der Vorarbeiter. Wenn es Fragen gibt, wenden Sie sich bitte an mich. Frau Rudolph sagte mir, Sie sind von der Kripo?«

Emma nickte und stellte sich und Rotten, der wutschnaubend im Strandbad verschwunden war, vor. Zusammen mit Kretsch fuhr sie in dessen Caddy zu einem kleinen Café, das Tische und Stühle im Freien hatte.

Nachdem eine Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte, legte Emma mit ihren Fragen los. »Herr Kretsch, gibt es eine Möglichkeit, das Freibad nachts zu betreten?« Schließlich konnte die tote Frau sowohl mit einem Boot übers Wasser als auch von der Straße aus an den Strand gebracht worden sein.

Der Vorarbeiter nickte verbittert. »Leider ja. Es kommt immer wieder vor, dass sich Badegäste unerlaubt Eintritt verschaffen. Es gibt einen Zaun, über den man leicht hinüberklettern kann. Nachts steigen Betrunkene oder Liebespaare oft darüber und streunen durch das Freibad.«

»Wo befindet sich dieser Zaun?«

Kretsch erklärte es ihr, und Emma zückte sofort ihr Handy. Kronau und sein Team sollten den Zaun und sein näheres Umfeld unter die Lupe nehmen. Zwar schien es unwahrscheinlich, dass der Täter es geschafft hatte, die Frau über den Zaun zu wuchten, aber unmöglich war nichts, das hatte Emma im Lauf ihrer Karriere gelernt.

Nachdem sie ihr Telefonat beendet hatte, zog sie das Foto der Toten aus der Tasche und legte es vor den Mann auf den Tisch. »Kennen Sie diese Frau?« Noch während sie die Frage stellte, erkannte sie, dass sie einen Treffer gelandet hatte.

Kretsch wurde blass und rang sichtlich um Fassung. Dann stieß er mit gepresster Stimme hervor: »Das ist die Hausberger-Gitti. Die Leich ist die Gitti von der Kabane vier!«

* * *

»Brigitte von Hausberg, genannt Hausberger-Gitti. Dauermieterin im Gänsehäufel, verwitwet. Ihr Mann entstammte einem deutschen Adelsgeschlecht, vermögend. Daher auch das ›von und zu‹. Ein Sohn. Wir haben ihn bereits informiert.« Rotten gähnte.

Sie befanden sich auf einem kleinen Platz nahe dem Haupteingang des Strandbades. Stühle und Tische luden zum Verweilen ein, eine kleine Ladenzeile versorgte die Besucher mit allem, was man für einen Badetag benötigte. Soeben hatte Musch ihrem Assistenten die wichtigsten Daten zur Toten telefonisch durchgegeben. Emma atmete erleichtert auf. Wenigstens wussten sie jetzt, mit wem sie es zu tun hatten.

Der Vorarbeiter hatte sich in sein Büro zurückgezogen. Sichtlich erschüttert hatte er Emma mitgeteilt, dass die Hausberger-Gitti bereits seit vier Jahrzehnten Stammgast im Gänsehäufel gewesen sei und eine der begehrten Kabanen bewohnte. Auf Emmas Nachfragen hatte er erklärt, dass dies die heiß umkämpften Vorbaukabinen im Nordteil der Insel seien. Emma nahm sich vor, sich als Nächstes die Kabine der Toten vorzunehmen und ihre Nachbarn zu befragen.

Sie spürte, wie ihr Magen knurrte. Es war fast Mittag.

»Ich hab Hunger. Lass uns vorne noch schnell eine Schnitzelsemmel holen, bevor wir uns auf den Weg zu ihrer Hütte machen!«

Karl Rotten musterte seine Chefin. »Wenn du das deiner Figur und unserem Planeten antun möchtest. Weißt du eigentlich, wie viele Tiere jedes Jahr geschlachtet werden, damit Leute wie du ihre Schnitzelsemmeln bekommen?«

Emma atmete tief durch. Ruhe bewahren! Seit ihr gemeinsamer Vorgesetzter, Oberst Heiko Tomschak, von seiner dürren Politikergattin auf eine vegane Diät gesetzt worden war, eiferte ihm Rotten, der alles tat, um dem Oberst zu gefallen, darin nach und ernährte sich nur noch von Lebensmitteln, die absolut frei von allem Tierischen waren. Grünkernschnitzel, Lupinensteaks und Sojaburger standen seitdem nebst Hafermilch und grünen Smoothies auf seinem Speiseplan.

Wirklich zufrieden schien Rotten mit dieser Kost nicht zu sein, aber genauso spießig und regelkonform wie er selbst war nun wohl auch der Inhalt seines Kühlschranks. Malin, Emmas Sekretärin, war Vegetarierin, aber dahinter erkannte Emma eine tiefe Überzeugung, die sie bewunderte. Bei Rotten war alles nur Masche. Würde Tomschak morgen gebackenen Kalbskopf bestellen, Rotten würde es ihm ohne nachzudenken gleichtun.

Umso genussvoller biss sie nun in die Schnitzelsemmel, die ihr die kleine blondierte Verkäuferin vom Schnitzelstand gereicht hatte. Rotten verzog angewidert das Gesicht.

»Mörderin«, zischte er und drehte sich demonstrativ weg.

Emma wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, während sie den letzten Bissen ihrer Schnitzelsemmel hinunterschluckte.

Rotten trat gelangweilt von einem Bein aufs andere. »Können wir endlich los?« Er beäugte sie genervt.

Sie beschlossen, zu Fuß zur Kabinensiedlung zu gehen, und spazierten durch das Strandbad. Die Anlage war grün und gepflegt. Wohin man sah, erblickte man Sonnenanbeter, die ihre Körper auf Badehandtüchern oder Liegen rekelten. Linker Hand entdeckte Emma eine Reihe kleiner Häuschen.

»Sind das die Kabinen, die wir suchen?«, fragte sie Rotten.

Der sah sie verwundert an. »Du hast mal wieder keine Ahnung. Das sind die Strandkabinen. Die sind zwar nicht schlecht, aber die kannst du nicht mit den Kabanen vergleichen.«

Emma grinste überrascht. »Woher kennst du dich denn hier so aus?«

Rotten wand sich etwas. Schließlich gab er zu: »Die Eltern von der Birgit bewohnen eine Kabane. Wir sind gelegentlich zu Besuch.« Dann schwieg er. Offensichtlich war es ihm unangenehm, Dinge aus seinem Privatleben Emma gegenüber preiszugeben.

Ihr war das egal. Rottens ödes Langweilerdasein interessierte sie ohnehin nicht. Und erst recht nicht das seiner Spießerfreundin Birgit. Die hatte Emma nur ein Mal bei einem Betriebsfest getroffen, und das genügte für den Rest ihres Lebens.

Birgit Rahm war ein verstocktes Ding, das ihrem Karl permanent an den Lippen zu hängen schien. Den ganzen Abend über hatte sie keinen Satz von sich gegeben, nur Limo getrunken und war früh mit Rotten wieder gegangen. Emma wusste von Malin, dass die beiden seit vielen Jahren ein Paar waren, aber dass Rotten es wohl nicht schaffte, ihr die alles entscheidende Frage zu stellen.

»Die Turmkabinen«, vernahm sie die Stimme ihres Assistenten. Emma sah einen mehrstöckigen, trist wirkenden Turm. »Es ist nicht mehr weit!«

Rotten lief zielstrebig auf einen weiteren Gebäudekomplex zu. Flache Kabinen mit kleinen Vordächern und winzigen Gärtchen drückten sich aneinander.

Überrascht blieb Emma stehen. Die Bewohner hatten sich alle Mühe gegeben, ihre winzigen Behausungen zu gestalten. Aus einem Vorgarten lachten Emma unzählige Gartenzwerge an, einen anderen schmückten Blumentöpfe mit allerlei Grünzeug. Menschen in Badehosen saßen gemütlich unter den Dächern, entspannten sich, rauchten oder spielten Karten. Irgendwie erinnerte Emma die ganze Szenerie an eine Schrebergartensiedlung. Plötzlich vernahm sie einen lauten Schrei.

»Karli! Was machst du denn hier? Und wer ist diese Frau?« Ein tätowierter Rentner mit grauen Haaren und einem buschigen Schnurrbart kam aus einer Kabane gestürzt und eilte auf den entsetzten Rotten zu.

Der wich instinktiv einen Schritt zurück, und Emma bemerkte mit Genugtuung, wie ihm für einen Moment die Gesichtszüge entgleisten. Doch schnell hatte er sich wieder unter Kontrolle.

»Berti, servus. Bin im Dienst. Das ist meine Kollegin Roth.«

Emma straffte die Schultern und drückte den Rücken durch. »Vorgesetzte und Majorin Roth«, stichelte sie und streckte dem Mann die Hand entgegen.

Der musterte sie mit unverhohlener Abneigung und zog die seine schnell wieder zurück. »Ach, die«, sagte er zu Rotten gewandt und nestelte eine Zigarettenpackung aus seiner Hosentasche. »Weiß die Birgit, dass du hier bist? Was macht ihr denn hier? Ihr ermittelt doch nicht etwa wegen der toten Frau? Hab davon in der Zeitung gelesen. Schreckliche Sache!«

Emma konnte sich gut ausmalen, welche Zeitungen dieser alte Mann las. Sie stupste Rotten an und forderte ihn mit einer Kopfbewegung zum Weitergehen auf. Sie hatte genug von seiner lieben Verwandtschaft gesehen.

»Wisst ihr denn schon, wer es war? War sie gar eine von uns?« Der Alte gab einfach nicht auf.

Sein Schwiegersohn in spe antwortete schließlich seufzend. »Die Tote ist die Gitti Hausberger. Kanntest du die?«