cover
Titelseite

 

 

 

 

 

Für Mallory Loehr,
den wahren Hüter des Kessels

WIE ALLES ANFING

Eines Tages tauchte ein geheimnisvolles Baumhaus im Wald von Pepper Hill in Pennsylvania auf. Der achtjährige Philipp und seine siebenjährige Schwester Anne kletterten hinauf und entdeckten, dass es voller Bücher war.

Die Geschwister fanden schnell heraus, dass es ein magisches Baumhaus war, mit dem sie zu all den Orten reisen konnten, die in den Büchern abgebildet waren. Alles, was sie tun mussten, war, auf eines der Bilder zu deuten und sich zu wünschen, sie wären dort.

Das Baumhaus gehörte Morgan, einer Zauberin und Bibliothekarin am Hofe des Königs Artus in Camelot. Immer wenn das magische Baumhaus im Wald auftauchte, wussten Anne und Philipp, dass Morgan einen neuen Auftrag für sie hatte. Um Morgan zu helfen, reisten sie viele Male in ferne Länder und längst vergangene Zeiten. Sie erlösten Morgan von einem bösen Zauber, retteten alte Bücher, wurden zu Meister-Bibliothekaren ernannt und lernten eine besondere Art von Magie kennen. Bei einer ihrer Zeitreisen besuchten die Geschwister die Bibliothek von Morgan in Camelot und brachten König Artus neuen Mut und Hoffnung.

Jetzt ist es Winter.

Anne und Philipp haben Morgan und das magische Baumhaus schon seit vielen Monaten nicht mehr gesehen …

Taube

Eine königliche Einladung

Die letzten Sonnenstrahlen verglühten am Himmel. Es war später Nachmittag und dicke Schneewolken zogen herauf.

„Komm, schneller!“, drängte Philipp. „Mir ist kalt!“

Er war mit seiner Schwester auf dem Heimweg von der Schule. Die Weihnachtsferien hatten gerade angefangen.

„Guru! Ruckedigu!“

„Warte mal“, sagte Anne. „Sieh doch!“

Sie deutete auf einen weißen Vogel, der auf einem kahlen Ast am Waldrand saß. Der Vogel starrte sie an.

„Das ist doch nur eine Taube“, sagte Philipp.

„Nein“, widersprach Anne, „das ist ein Bote von Morgan.“

„Bestimmt nicht“, sagte Philipp. Er wollte keine Hoffnung in sich aufkeimen lassen. Sie hatten Morgan schon so schrecklich lange nicht gesehen und er vermisste sie.

„Doch“, beharrte Anne. „Sie hat wieder eine Aufgabe für uns, da bin ich mir sicher!“

In der kalten Abenddämmerung breitete die Taube ihre Flügel aus und flog in den Wald von Pepper Hill.

„Los, komm“, sagte Anne, „das Baumhaus ist wieder da!“ Und dann rannte sie hinter der Taube her in den Wald.

„Oh Mann!“, seufzte Philipp. Aber er lief Anne nach.

Selbst in der zunehmenden Dunkelheit fanden sie den Weg sofort. Sie liefen zwischen den kahlen Bäumen bis zum höchsten Baum des Waldes.

„Siehst du?“ Anne deutete nach oben.

„Tatsächlich“, flüsterte Philipp.

Das magische Baumhaus war wirklich wieder da.

„Morgan!“, rief Anne.

Philipp hielt den Atem an und wartete, ob die Zauberin wohl aus dem Fenster schauen würde. Aber Morgan zeigte sich nicht.

Anne ergriff die Strickleiter und kletterte hoch. Philipp folgte ihr.

Als sie ins Baumhaus stiegen, entdeckte Philipp etwas auf dem Fußboden. Es war eine Pergamentrolle, die mit einem roten Samtband zusammengebunden war.

Philipp hob sie auf und rollte sie auseinander. Auf dem dicken gelben Pergament schimmerten große goldene Buchstaben.

„Hey, da hat Morgan uns aber eine besonders schöne Nachricht geschickt!“, staunte Anne.

„Es ist eine Einladung“, sagte Philipp. „Hör mal.“

„Weihnachten in Camelot!“, rief Anne. „Wahnsinn!“

„Cool“, flüsterte Philipp. Er stellte sich ein wunderschönes, von Kerzen erleuchtetes Schloss vor, in dem Ritter und Edelfrauen feierten und sangen.

„Wir werden Weihnachten mit Morgan und König Artus feiern!“, freute sich Anne. „Und Guinevere kennenlernen!“

„Ja! Und die Ritter der Tafelrunde und Lancelot!“, schwärmte Philipp.

„Komm, gehen wir“, sagte Anne. „Wo ist das Buch?“

Sie suchten im Baumhaus nach einem Buch über Camelot. Doch das einzige Buch, das sie entdecken konnten, war das Pennsylvania-Buch, mit dessen Hilfe sie immer wieder zurück nach Hause kamen.

„Das ist ja seltsam“, sagte Philipp. „Morgan hat uns gar kein Buch geschickt. Wie sollen wir denn dann nach Camelot kommen?“

Philipp las die Einladung noch einmal. Er drehte sie um, weil er hoffte, auf der Rückseite würde vielleicht noch etwas stehen – doch die war nicht beschrieben. Er gab Anne die Einladung.

„Sie hat es wohl vergessen“, murmelte er.

„So ein Mist!“, schimpfte Anne und starrte auf die goldenen Buchstaben. „Ich wünsche mir so sehr, dass wir nach Camelot reisen könnten!“

Draußen raschelten die Zweige des Baumes.

Wind kam auf.

„Was ist denn jetzt los?“, fragte Philipp.

„Keine Ahnung …“, antwortete Anne.

„Warte mal“, sagte Philipp. „Du hast die Einladung angeschaut und dir etwas gewünscht …“

Der Wind wurde stärker.

„Das muss den Zauber in Gang gesetzt haben!“, rief Anne.

Philipp lächelte.

„Wir reisen nach Camelot“, flüsterte er.

Das Baumhaus drehte sich.

Es drehte sich schneller und immer schneller.

Dann war auf einmal alles wieder still.

Totenstill.

Taube

Das soll Camelot sein?

Philipp schauderte. Im dämmrigen Licht konnte er seinen Atem sehen.

Anne starrte aus dem Fenster. „Das soll Camelot sein?“, fragte sie.

Philipp sah auch hinaus. Das Baumhaus war in einem kleinen Hain mit hohen, kahlen Bäumen gelandet. Ein riesiges, düsteres Schloss zeichnete sich bedrohlich gegen den grauen Himmel ab. Aus keinem der Fenster schien Licht. Keine einzige Fahne wehte von den vielen Zinnen. Der Wind pfiff zwischen den hohen Türmen, es klang einsam und sehr traurig.

„Es sieht ganz verlassen aus“, bemerkte Anne.

„Finde ich auch“, sagte Philipp. „Ich hoffe, wir sind im richtigen Schloss.“

Philipp nahm sein Notizbuch aus seiner Schultasche. Er wollte sich eine Beschreibung des düsteren Schlosses notieren.

„Hey, da kommt jemand!“, rief Anne auf einmal.

Philipp sah wieder hinaus.

Eine Frau kam über die Zugbrücke aus dem Schloss. Sie trug einen langen Umhang und hielt eine Laterne in der Hand. Ihr weißes Haar wehte im Wind.

„Morgan!“, riefen Anne und Philipp gleichzeitig und lachten erleichtert.

Morgan eilte über den frostigen Boden zu der kleinen Baumgruppe. „Anne? Philipp? Seid ihr das?“, rief sie.

„Natürlich! Was dachten Sie denn?“, rief Anne und kletterte hinunter.

Philipp steckte sein Notizbuch wieder ein und kletterte hinter Anne die Strickleiter nach unten. Dann rannten sie beide auf Morgan zu und warfen sich in ihre Arme.

„Ich habe aus dem Fenster geschaut und auf einmal einen hellen Lichtblitz gesehen“, sagte Morgan. „Was macht ihr denn hier?“

„Haben Sie denn nicht das Baumhaus geschickt, um uns abzuholen?“, fragte Philipp.

„Zusammen mit der königlichen Einladung, Weihnachten auf Camelot zu feiern?“, ergänzte Anne.

„Nein“, sagte Morgan und klang besorgt.

„Aber die Einladung war mit M. unterschrieben“, sagte Philipp.

„Das verstehe ich nicht“, murmelte Morgan. „Wir feiern in diesem Jahr nämlich gar nicht Weihnachten.“

„Sie feiern nicht?“, fragte Philipp verständnislos.

„Wieso nicht?“, wollte Anne wissen.

Morgan sah auf einmal sehr traurig aus. „Erinnert ihr euch daran, als ihr meine Bibliothek besucht habt und Artus neue Hoffnung gebracht habt, damit er sich seinem Feind stellt?“, fragte sie.

„Natürlich.“ Philipp nickte.

„Nun, dieser Feind war ein Mann namens Mordred. Artus hat ihn zwar besiegt, aber vorher hat Mordreds böser Zauberer noch einen Fluch über das gesamte Königreich gesprochen, mit dem er Camelot aller Freude beraubt hat.“

„Was? Aller Freude?“, flüsterte Anne entsetzt.