817193_Namdar_Liebe_statt_Furcht_S003.pdf

Granatäpfel und Peschmerga

In dieser sehr gefährlichen und angespannten Zeit reiste mein älterer Bruder Amir aus Teheran an, um uns zu besuchen. Begleitet wurde er von seiner Frau und seinem kleinen Sohn.

Die Verletzungen, die er sich während der Demonstrationen gegen den Schah zugezogen hatte, waren inzwischen gut verheilt. Er konnte wieder laufen wie früher. Aber innerlich hatte er sich verändert. Früher hatte er den Islam nur sehr oberflächlich praktiziert, jetzt trat er als sehr frommer Muslim auf. Seine Verehrung für den Revolutionsführer Ajatollah Chomeini schien grenzenlos. Zwar war er selbst kein Pasdar, aber er befürwortete das Vorgehen der Revolutionswächter bedingungslos.

Hierüber geriet er in Streit mit meinem Vater. Dieser war zwar auch ein sehr gläubiger Schiit, aber von den Gewalttaten der Revolutionäre hielt er nichts. „Sie nennen sich zwar Muslime“, sagte er, „aber was sie als Islam praktizieren, ist nicht richtig. Sie sind nichts weiter als Fanatiker!“

Mein Bruder war über diese Kritik verärgert. Und ich befürchte, dass sie eher dazu beitrug, seine Position zu verhärten.

Mein Onkel hingegen freute sich sehr, als er hörte, dass Amir von seinen schweren Verletzungen genesen und zu Besuch in Mahabad sei. Deshalb lud er die ganze Familie zu einer Willkommensfeier ein. Er war ein verwitweter alleinerziehender Vater mit vier Kindern und wohnte nur zehn Autominuten von uns entfernt.

Wir machten uns mit unserem durchsiebten Auto und einer wehenden weißen Fahne auf den Weg zu ihm. Aber kaum kamen wir dort an, hörten wir auf der Straße schreckliches Geschrei. Eine Frau schrie vor Verzweiflung. Sofort sammelte sich eine Menge Schaulustiger um sie. Wir konnten nicht erkennen, was geschehen war.

Auch mein Onkel war in dieser Menge. Als er uns bemerkte, lief er zu uns herüber. Er war so aufgeregt, dass er vergaß, Amir zu begrüßen. „Die Pasdaran!“, stammelte er. „Es waren die Pasdaran. Sie sind mit ihren Panzern die Straße entlanggerast. Der Junge sprang nicht schnell genug zur Seite … Sie haben ihn einfach liegen lassen.“ Er schluchzte. „Er ist tot!“ Mit bleichem Gesicht sah er uns an. „Er war doch erst zehn Jahre alt, genauso wie mein Behruz.“

Meine Mutter drehte sich um und eilte entschlossen auf die Menge zu. Wie immer in solchen Situationen ergriff sie die Initiative. Die Mutter des Kindes war untröstlich. Sie wiegte die Leiche ihres Sohnes in den Armen und schrie ihr Leid heraus. Maman hockte sich neben sie, umarmte sie und redete sanft auf sie ein. Schließlich gelang es ihr, die traumatisierte Frau ins Haus zu führen, während die Nachbarn die Leiche des getöteten Kindes in den Hinterhof trugen. Die Frauen begannen sogleich, Wasser warm zu machen, denn nach islamischen Regeln musste die Leiche gewaschen werden.

Ich weiß auch nicht genau, warum ich es tat. Es war wohl nicht viel mehr als die reine Neugier, die mich dazu antrieb, hinüberzugehen und nach dem Jungen zu sehen. Er lag auf dem Boden, als ob er schliefe, aber sein Kopf war voller Blut.

Wir feierten nicht an diesem Abend. Stattdessen saßen wir meist schweigend beieinander und dachten an den toten Jungen. Bevor die Dämmerung hereinbrach, traten wir auch schon wieder die Heimfahrt an. Nachts unterwegs zu sein wäre viel zu gefährlich gewesen.

In den nächsten Tagen zeigte sich, wie sehr Amir sich verändert hatte. Er nannte sich selbst einen Verteidiger der Revolution. Als er mitbekam, dass ein Großteil der Kurden ein gänzlich anderes Bild seines Ajatollah hatte und weiterhin für ihre Autonomie kämpfen wollte, war er entsetzt. Obwohl er selbst den toten Jungen gesehen und miterlebt hatte, wie rücksichtslos die Pasdaran vorgingen, war er der Ansicht, dass die Kurden all dies vergessen und gemeinsam mit ihnen für einen islamischen Gottesstaat kämpfen sollten.

„Die Pasdaran haben viele Opfer für die Revolution gebracht“, sagte er. „Für euch alle haben sie ihr Blut vergossen! Dass die Kurden sich nun gegen die wenden, die sie befreit haben, ist ein Schlag ins Gesicht eines jeden aufrechten Revolutionärs! Sie treten das Andenken der Märtyrer mit Füßen! Diese Kurden müssen vernichtet werden.“

Meine Mutter war schockiert: „Mein Kind, ich bin Kurdin, du bist Halbkurde. Deine Geschwister sind kleine Kinder. Du bringst uns alle in Gefahr!“

Doch es hatte keinen Zweck. Weder meinem Vater noch meiner Mutter gelang es, ihn zu beruhigen. Ich unternahm erst gar keinen Versuch. Ein paar Tage später beschloss er, ein Zeichen zu setzen und die Pasdaran in ihrer Kaserne zu besuchen.

„Das kannst du nicht machen!“, sagte meine Mutter. „Willst du uns ins Unglück stürzen?“

Doch er ließ sich nicht umstimmen.

Vor aller Augen besuchte er die Revolutionswächter in der Kaserne, in der sie sich die meiste Zeit verschanzt hatten.

Als er danach wieder zu uns zurückkam, berichtete er meiner Mutter, dass die Frau des Oberbefehlshabers der Pasdaran schwanger sei und gern in die Stadt fahren wolle, um Obst und andere Lebensmittel zu besorgen. Aber allein würde sie sich nicht auf den Markt trauen.

Ich weiß nicht genau, ob Amir dabei irgendeine Taktik verfolgte, als er diese Information weitertrug; ich vermute, eher nicht. Aber ob gewollt oder nicht, meine Mutter reagierte instinktiv. In der für sie so typischen spontanen Hilfsbereitschaft beschloss sie, der Frau zu helfen. Sie fuhr mit unserem maroden Auto in die Kaserne und lud die schwangere Frau ein, damit sie sich auf dem Markt Granatäpfel und andere Leckereien kaufen konnte.

Für sie war dies eine gänzlich unpolitische Aktion. Eine schwangere Frau brauchte Granatäpfel, welcher Nationalität sie angehörte oder welche politische Gruppierung ihr Ehemann vertrat, spielte für Maman keine Rolle. Dabei war sie doch sonst so eine kluge Frau. Die Nachbarn beobachteten uns ohnehin schon mit großem Misstrauen. Und wie wir selbst erlebt hatten, gab es sogar einige, die nicht mehr daran zweifelten, dass wir Verräter waren.

Es hätte meiner Mutter klar sein müssen, dass die meisten Menschen nicht so denken würden wie sie. Aber sie konnte nun einmal nicht anders, als zu helfen.

Noch am gleichen Abend klopfte es an der Tür. Als meine Mutter öffnete, stand ein Peschmerge vor uns. Er trug ein Gewehr über der Schulter. „Morgen Vormittag wirst du dich beim Sheikh einfinden. Er wird etwas mit dir besprechen.“ Sein Blick war kalt. „Hast du das verstanden?“

Meine Mutter nickte. „Ich habe verstanden.“

Der Sheik war der örtliche religiöse Führer. Seinen Anweisungen war unbedingt Folge zu leisten. Der Mann verschwand, ohne seine Anweisung zu begründen. Aber ich sah Maman an, dass sie beunruhigt war.

„Sprich nicht mit deinen Geschwistern darüber!“

Ich nickte stumm.

Meine Mutter fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Ich konnte hören, wie sie hin und wieder mit meinem Vater tuschelte.

Die Stimmung war beklommen, als wir am nächsten Morgen beim Frühstück zusammensaßen. Meine Geschwister warfen sich fragende Blicke zu, aber niemand sagte etwas.

Dann war es so weit. Etwas irritiert stellte ich fest, dass meine Mutter meinen kleinen Bruder auf den Arm nahm. Dann sah sie mich an. „Flor, du kommst mit mir.“

Meine Mutter verriet mir nie, warum sie ausgerechnet uns beide mitnahm. An meinem Mut kann es jedenfalls nicht gelegen haben; ich glaube, ich war damals die ängstlichste von allen Geschwistern. Vielleicht wollte sie meinen Bruder nicht allein lassen. Möglicherweise wollte sie nicht, dass ich ausplauderte, wohin sie fuhr. Denkbar wäre auch, dass sie davon ausging, die Anwesenheit von Kindern könnte den Sheik milde stimmen.

In jedem Fall fuhren wir, eine weiße Fahne aus dem Fenster haltend, in unserem durchlöcherten Auto los.

Als meine Mutter vor dem Haus des Sheikhs parkte, blieb sie einen Moment im Wagen sitzen. Sie atmete ein und wieder aus. Dann sah sie mich an. „Flor, ich möchte, dass du mit deinem kleinen Bruder hier im Wagen wartest. Wenn ich in einer Stunde nicht wieder bei euch bin, dann nimmst du deinen kleinen Bruder und rennst nach Hause, so schnell du kannst. Sag deinem Vater, dass ihr alle fliehen müsst!“

„Und du?“, fragte ich leise.

„Ich werde dann tot sein!“

„Maman …“

„Kümmere dich um deinen Bruder, Flor! Und tu genau das, was ich dir gesagt habe.“

„Ja, Maman.“

Sie stieg aus dem Auto und ging auf das Haus zu. In einem der Fenster sah ich den Schemen eines bewaffneten Mannes, der die Straße beobachtete. Ein weiterer Bewaffneter öffnete die Tür und zog meine Mutter grob ins Hausinnere. Dann schloss sich die Tür. Ich starrte Maman hinterher. Furcht presste mir das Herz zusammen. Ich betete zu Allah, aber es brachte mir keinen Trost. Diese eine Stunde kam mir vor wie ein ganzes Jahr meines Lebens. Ich weiß nicht mehr, was mein kleiner Bruder die ganze Zeit getan hat, immerhin war er erst zwei Jahre alt. Ich weiß nur noch, dass ich in unserem zerschossenen Auto saß und auf die Tür des Hauses starrte.

Und schließlich, endlich öffnete sich die Tür. Maman kam heraus. Ihr Gesicht war totenbleich.

Meine Mutter war stets eine sehr starke Persönlichkeit. Ich hatte sie nur einmal verzweifelt erlebt, als sie nicht wusste, ob mein Bruder Amir die schreckliche Schusswunde in seinem Bein überleben würde. Aber so voller Angst hatte ich sie noch nie gesehen.

Sie stieg, ohne ein Wort zu sagen, in das Auto. Als wir nach Hause fuhren, wagte ich nicht, eine Frage zu stellen.

Hin und wieder murmelte sie halblaut etwas vor sich hin: „Sie werden uns umbringen … sie werden uns alle umbringen.“

Verrat oder Tod

Es war eine furchtbare Rückfahrt. Die ganze Zeit über ließ ich meine Mutter, die in halsbrecherischem Tempo nach Hause fuhr, nicht aus den Augen.

Als wir endlich zu Hause angekommen waren, stürzte sie ins Haus und schrie meinen Bruder Amir an: „Dein Eigensinn hat uns alle in Gefahr gebracht! Du wirst noch die ganze Familie auslöschen!“

Entsetzt starrten meine Geschwister Maman an. So unbeherrscht kannten wir sie nicht. Dass sie selbst durch ihre unbedachte Hilfsbereitschaft zu der Situation beigetragen hatte, schien ihr in diesem Moment nicht bewusst zu sein.

Erst nachdem ein paar Minuten vergangen waren, hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie uns mit zitternder Stimme berichten konnte, was geschehen war.

„Als ich mit der schwangeren Frau des Kommandanten auf dem Markt war, haben sie uns beobachtet“, erklärte sie. „Der Sheikh sagte mir, dass die ganze Zeit über Waffen auf uns gerichtet waren. Sie hätten uns beide erschießen können. Der Sheikh fuhr mich an: ‚Wie kannst du das machen, als Kurdin und Sunnitin? Du hast uns verraten!‘

‚Ich wollte doch nur einer schwangeren Frau helfen‘, habe ich erwidert. Doch er ließ mich kaum zu Wort kommen: ‚Das sind Schiiten und Perser! Jahrhundertelang haben sie uns unterdrückt. Und jetzt, wo wir ihre gebrochenen Versprechen nicht mehr akzeptieren wollen und für unsere Freiheit kämpfen, wagst du es, dich mit ihnen einzulassen?! Das werden wir nicht zulassen!‘“

„Was wollen sie?“, fragte mein Vater nach einem Moment des Schweigens.

„Sie wollen, dass wir die Befehlshaber der Pasdaran zu uns zum Essen einladen. Sobald sie bei uns sind …“, meine Mutter schluckte, „… werden die Peschmerga das Haus stürmen und sie gefangen nehmen. Sie könnten sich im Kampf um Mahabad als wertvolle Geiseln erweisen. Und selbst wenn die Regierung nicht verhandeln würde, wäre auch der Tod aller Führungsoffiziere der Pasdaran in der Stadt ein wichtiger Sieg für die Peschmerga.“

„Das könnt ihr nicht machen!“, rief Amir.

„Natürlich nicht!“, fuhr meine Mutter ihn an. „Wir werden keinen Menschen verraten, der uns vertraut. Aber der Sheikh ließ keinen Zweifel daran, was geschehen wird, wenn wir uns dem Befehl der Peschmerga verweigern.“

Ihr Blick verlor sich für einen Moment. „Sie werden uns töten. Sie werden unser Haus dem Erdboden gleichmachen.“

Es herrschte entsetztes Schweigen.

„Und“, stammelte ich, „was machen wir jetzt?“ Ich merkte, wie meine Stimme zitterte. In diesem Moment wirkte Maman gefasst, aber ich hatte gesehen, wie verängstigt sie gewesen war, als sie das Haus verlassen hatte. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Maman und mein Vater tauschten Blicke. „Wir werden fliehen!“

„Aber sie werden uns beobachten!“, rief meine Schwester. „Das werden sie bemerken.“

„Ja, deshalb müssen wir klug vorgehen. Wartet hier, bis euer Vater und ich uns besprochen haben.“

Wir hockten beisammen und starrten einander stumm an. Normalerweise hätte ich mich mit meinem kleinen Bruder beschäftigt, der unbekümmert auf dem Boden spielte, aber ich war zu verängstigt.

Als sie zurückkamen, trug Maman ihre Schmuckkassetten bei sich. „Kinder, ihr holt jetzt alles Bargeld und allen Schmuck, den ihr habt. Wir werden von irgendetwas leben müssen. Alles andere lasst ihr zurück! Wir dürfen keinerlei Gepäck bei uns tragen.“

Mit blassen Gesichtern starrten wir sie an. Ich vermute, für meine Schwestern war die Situation so unwirklich, dass sie eine Weile brauchten, um zu registrieren, was unsere Eltern da gerade sagten. Und ich? Ich war wie gelähmt vor Angst.

„Na los!“, herrschte Maman uns an. „Worauf wartet ihr?!“

Meine Schwestern eilten los. Ich folgte ihnen wie in Trance.

In meinem Zimmer zog ich die Schublade meines Nachttisches auf. Da lag die kleine Schatulle mit meinem Schmuck und daneben mein Tagebuch. Instinktiv griff ich danach. Es fühlte sich vertraut an und doch … schien es einem anderen Leben zu entstammen. Diesem Buch hatte ich meine Gedanken anvertraut und meine Träume – die Träume eines jungen Mädchens. Ich hatte von meinen schulischen Sorgen geschrieben, von Streitigkeiten mit meinen Schwestern und meinem Zorn auf Maman. Mein Bestreben, eine gute Schiitin zu sein, fand sich auf diesen Seiten ebenso wieder wie meine Gefühle für den dunkelhaarigen Jungen mit dem schüchternen Lächeln. All dies waren die Erinnerungen an ein anderes Leben, ein verlorenes Leben!

„Flor, was machst du da?“, erklang die barsche Stimme meiner Mutter.

Ich fuhr herum. Ihr Gesicht wirkte zornig, aber ich konnte die Furcht in ihren Augen sehen.

„Leg das weg! Du kannst es nicht mitnehmen! Wir müssen so unauffällig wie möglich vorgehen. Niemand trägt sein Tagebuch in der Stadt spazieren.“

Ich legte das Buch in die Schublade und wollte diese wieder zuschieben.

„Der Schmuck!“, herrschte sie mich an. „Flor, was ist los mit dir?“

Ich griff nach der Schatulle. Meine Hände zitterten.

Maman nahm mir das Kästchen aus der Hand. „Reiß dich zusammen, Flor. Du musst jetzt stark sein!“

Ich nickte und spürte gleichzeitig, wie mir die Tränen in die Augen schossen. „Ich will nicht sterben!“, entfuhr es mir.

„Das wirst du auch nicht! Wir werden die Stadt verlassen. In Teheran sind wir sicher.“

Ich schüttelte den Kopf. „Die beobachten uns! Sie werden wissen, was wir vorhaben.“ Unbeabsichtigt liefen Bilder vor meinem inneren Auge ab. Ich sah das Gesicht des Peschmerga-Kämpfers, seine kalten Augen und die tödliche Waffe in seinen Händen. Ich sah die Leuchtspuren der Kugeln in der Nacht und einen kleinen Jungen wie schlafend auf dem Boden liegen, während eine Blutlache sich auf dem Boden ausbreitete. „Sie werden uns töten!“, schluchzte ich.

Meine Mutter packte mich an der Schulter. „Flor, sieh mich an!“

Ich starrte sie an. Tränen ließen ihr Gesicht vor meinen Augen verschwimmen.

„Wir werden diese Stadt verlassen. Sie werden uns nichts tun! Hast du das verstanden?“

Ich nickte mechanisch. Aber die Angst ließ mich nicht los. Wie ein bösartiges Geschwür hatte sie sich an meiner Seele festgekrallt, sie wucherte und wuchs immer tiefer in mich hinein.

„Komm.“ Sie führte mich zu den anderen ins Wohnzimmer.

Aller Schmuck, alles Bargeld und alle Wertgegenstände, die klein genug waren, um sie in eine Tasche zu packen, lagen auf dem Tisch.

„Wir werden uns in kleine Gruppen aufteilen“, erklärte Vater. „Und dann verlassen wir zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Zielen das Haus.“

Maman begann, die Wertsachen in kleine Häufchen aufzuteilen und in Tücher einzuwickeln. „Parvaneh, komm her“, sagte sie zu meiner jüngsten Schwester. Die Kleine ging zu ihr und Maman band ihr das Tuch unter der Bluse um den Bauch. Als Parvaneh zurücktrat, konnte ich die winzige Ausbuchtung erkennen.

Mein Magen schnürte sich zusammen.

Einer nach dem anderen traten meine Geschwister vor und Maman versteckte einen kleinen Beutel mit Wertsachen unter ihrer Kleidung. Dann war ich an der Reihe.

„Flor!“

Ich sah das Tuch, das Maman in der Hand hielt. Mit dem Gold darin erschien es mir schwer, unförmig und viel zu groß.

Sie würden es sehen, sofort! Ich hatte das Gefühl, irgendetwas würde nach mir greifen und mir die Kehle zupressen. „Nein!“, krächzte ich.

„Flor!“, rief mein Vater. „Komm sofort her!“

Panisch schüttelte ich den Kopf. „Ich kann das nicht! Sie … sie werden mich sofort durchschauen!“

Mein Vater wollte mich wütend anfahren, aber Maman hob beschwichtigend die Hand. „Flor hat recht. Sie ist viel zu nervös. Wir werden die Sachen anders aufteilen.“

Die Erleichterung, die ich in diesem Moment verspürte, währte nur kurz. Dann holte die Angst mich wieder ein.

Ich hörte kaum zu, als meine Eltern die Gruppen einteilten. Maman würde mit zwei meiner Geschwister zur Kaserne aufbrechen. Für die Peschmerga musste es so aussehen, als würde sie unsere Einladung überbringen. In Wahrheit würde sie den Kommandanten über den Sachverhalt informieren. Eine andere Gruppe würde sich zunächst in Richtung Markt aufmachen und die letzte vermeintlich zu einem Verwandten fahren, der in der Stadt lebte.

Ich habe oft versucht, mich zu erinnern, wie ich eigentlich genau aus Mahabad herausgekommen bin – vergeblich. Ich weiß nicht einmal mehr, welcher Gruppe ich zugeordnet wurde. Es scheint, als hätte die Todesfurcht jeden klaren Gedanken und jede Erinnerung an diese Stunden ausgelöscht.

Ich weiß nur noch, dass wir uns alle gemeinsam in einem Überlandbus befanden, als wir schließlich die Teheraner Außenbezirke erreichten. In Sicherheit, schoss es mir durch den Kopf, als wir uns durch den Straßenverkehr der Großstadt quälten. Aber noch immer war es eher eine Frage als eine Feststellung.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich registrierte, dass der Plan meiner Eltern tatsächlich funktioniert hatte. Wir waren entkommen!

Später erfuhren wir, dass die Peschmerga ihre Drohung wahrgemacht hatten – unser Haus war dem Erdboden gleichgemacht worden.

Von nun an waren wir Flüchtlinge.

Teheran

Wieder waren wir in Teheran. Es war nicht einmal zehn Jahre her, da war ich voller Zorn durch die Gassen dieser Stadt gelaufen, weil ich in der Schule auf sehr peinliche Art und Weise erfahren hatte, dass ich meinen Vater bislang nie bei seinem Namen, sondern stets bei seiner Berufsbezeichnung gerufen hatte.

Der Zorn dieses kleinen Mädchens schien mir nun lächerlich klein und fern.

Mein Vater war kein angesehener Offizier mehr. Er war ein Flüchtling, und es war besser für uns alle, wenn er möglichst nicht über seine Vergangenheit sprach. Mit unserem Status hatten wir auch unsere Entscheidungsfreiheit verloren. Wir konnten uns keine Wohnung suchen. Es kamen keine kostenlosen Lebensmittellieferungen des Militärs. Und es gab keine Gomashte mehr, die sich um den Haushalt kümmerten, uns bekochten und versorgten.

Wir hatten nichts retten können, außer dem, was meine Eltern und Geschwister unter ihren Kleidern aus Mahabad herausgeschmuggelt hatten.

Für ein fünfzehnjähriges unsicheres Mädchen, dessen kindliche Träume unter den Trümmern ihres zerstörten Elternhauses begraben lagen, war dies nur schwer zu begreifen.

Das Erste, was meine Mutter tat, war, ein Juweliergeschäft aufzusuchen und eine goldene Kette zu verkaufen, damit wir uns etwas zu essen besorgen konnten.

Teheran hatte sich verändert. Nun waren die Pasdaran die uneingeschränkten Herrscher der Stadt. Man sah es überall. Früher hatte man nur selten Frauen gesehen, die einen Tschador trugen, nun war dieser aus dem Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Auch das Konterfei des Ajatollah Chomeini war scheinbar allgegenwärtig.

Die Fernsehbilder in Cafés und Geschäften zeigten Bilder der von iranischen Studenten besetzten US-Botschaft. Etwa 400 Studenten hatten die Botschaft im November 1979 gestürmt und 66 Botschaftsangehörige als Geiseln genommen. Auf Vermittlung des PLO-Chefs Arafat waren 13 davon kurz darauf freigelassen worden, eine weitere einige Monate später aus gesundheitlichen Gründen, aber die restlichen 52 blieben in Gefangenschaft. Die Studenten forderten die Auslieferung des Schahs, der sich zur medizinischen Behandlung in den USA befand. Es war ein beispielloser Affront gegenüber dem mächtigsten Land der Welt.

Als Rechtfertigung für diese Aktion diente den Studenten eine Erklärung Chomeinis, die er im Gedenken an einige Teheraner Studenten abgegeben hatte, die ein Jahr zuvor bei Demonstrationen ums Leben gekommen waren:

„Es ist deshalb Sache der lieben Schüler, Studenten und Theologiestudenten, mit all ihrer Kraft die Angriffe gegen die USA und Israel zu verstärken, sodass sie die USA zwingen können, den abgesetzten und kriminellen Schah auszuliefern …“

Weder die iranische Regierung noch Chomeini selbst übernahmen offiziell die Verantwortung für das Vorgehen der Studenten. Stattdessen sprach man von einer „natürlichen Reaktion des unterdrückten iranischen Volkes auf die Missachtung der verletzten Gefühle dieses Volkes seitens der amerikanischen Regierung“12.

Es ist schwer zu sagen, wie gezielt diese Aktion gesteuert war; in jedem Fall spielten die politischen Konsequenzen der Botschaftsbesetzung den islamischen Revolutionären in die Hände. Iran wurde politisch isoliert. Nicht nur die Studenten, die Pasdaran oder der Ajatollah waren davon betroffen. Es war das gesamte Volk, das die Konsequenzen, die beispielsweise in Form von Wirtschaftssanktionen folgten, zu spüren bekam. Und diese äußere Bedrohung nährte die von Chomeini propagierte islamische Revolution. Das Volk rückte zusammen und er wurde mehr und mehr zur unumstrittenen Führungsfigur.

Allerdings vermied er es, selbst die politische Macht zu ergreifen. Nachdem in einer Volksabstimmung die islamische Verfassung bestätigt worden war, wurde Abolhassan Banisadr vom Parlament zum ersten Präsidenten der Islamischen Republik Iran gewählt und von Chomeini formell zum ersten Präsidenten ernannt.

Die Krise durch die Besetzung der amerikanischen Botschaft sollte jedoch schon bald verdrängt werden von einer viel konkreteren Bedrohung in Person des machthungrigen Präsidenten des Irak, Saddam Hussein.

In der damaligen Situation waren diese politischen Ereignisse für mich schwer zu durchschauen. Ich spürte sie vor allem in Form von großer Ungewissheit und einer sich immer weiter zuspitzenden diffusen Bedrohung.

Meine Eltern meldeten sich bei den Pasdaran, um von unserer Situation zu berichten. Wir erhofften uns Hilfe, denn immerhin hatten wir unser Haus nur deshalb verloren, weil wir die Revolutionsführer in Mahabad nicht verraten hatten.

Die Dankbarkeit der Pasdaran hielt sich in Grenzen. Aber immerhin wurden wir als Flüchtlinge anerkannt und uns wurde ein Quartier zugewiesen. Es lag in einem überwiegend von Armeniern und Assyrern bewohnten Viertel. Dort hatte ein reicher Schah-Anhänger seine Villa gehabt, bevor er fluchtartig das Land verlassen hatte.

„Oh Flor“, sagte meine jüngere Schwester, als wir aus dem Bus ausstiegen, „das ist ja ein Palast.“

Sie hatte recht. Das Haus war in der Tat riesig … aber es war auch voller Menschen. Bestimmt ein Dutzend Familien lebten bereits dort. So luxuriös das Leben in diesem Haus einst gewesen war, so beengt, schmutzig und chaotisch war es nun.

Der vorherige Besitzer hatte das Haus ringförmig um einen großen Hof errichten lassen. In diesem Innenhof gab es eine große, flache Betonschüssel, wahrscheinlich war sie früher mit Wasser gefüllt gewesen und hatte als Teich für Zierfische gedient. Die neuen Bewohner verwendeten sie als öffentlichen Waschplatz. Da es einige Wasserhähne mit Kaltwasseranschluss gab, konnten die Frauen dort ihre Wäsche und das schmutzige Geschirr waschen. Auch die beiden einzigen benutzbaren Toiletten befanden sich im Hof. Wollten wir uns waschen oder gar duschen, mussten wir etwas von unserem Ersparten nehmen und einen öffentlichen Hamam aufsuchen.

Anfangs wies man uns einen einzigen Raum zu. Doch schon nach kurzer Zeit konnte Maman diesen gegen zwei kleinere, direkt nebeneinander gelegene Räume eintauschen. Das brachte uns etwas mehr Privatsphäre, aber auch mehr Enge. Über einen schmalen Flur gelangte man auf eine kleine Treppe, die in den Hof hinabführte.

Direkt nebenan befand sich ein Keller. Aus irgendeinem Grund sammelte sich dort Wasser. Ich weiß nicht, ob eine Leitung defekt war oder ob das Regenwasser dorthin abfloss. In jedem Fall begann die Brühe irgendwann zu stinken und lockte massenhaft Ungeziefer an.

Immer mehr Personen wurden in diesem Haus einquartiert. Irgendwann lebten bis zu 20 Familien dort. Auch einige zwielichtige Gestalten und Drogendealer kamen hierher, sodass meine Schwestern und ich uns kaum noch auf den Hof trauten.

Irgendwo trieb Maman einen Walor auf, einen kleinen Ölkocher. Auch einige Lebensmittel hatte sie besorgt.

Wir saßen am ersten Abend auf dem kahlen Boden unserer Unterkunft und starrten auf das undefinierbare Etwas in unseren Plastikschüsseln.

„Maman?“, fragte ich vorsichtig. „Was ist das?“

„Reis mit Gemüse!“, erwiderte sie.

Ich betrachtete die völlig zerkochte Pampe und versuchte, mir vorzustellen, welche Art von Gemüse meine Mutter wohl verwendet haben mochte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine ältere Schwester behutsam einen Löffel zum Mund führte und davon kostete. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen war das Geschmackserlebnis kein lukullisches Highlight. Vater löffelte das Zeug stoisch in sich hinein. Aber an seinen hastigen Schluckbewegungen erkannte ich, dass er seine gesamte Selbstbeherrschung aufbieten musste, um den Schein zu wahren.

„Esst, Kinder!“, befahl Maman.

Ich kostete vorsichtig einen halben Löffel, und musste feststellen, dass der Geschmack nicht ganz dem äußeren Erscheinungsbild der Mahlzeit entsprach … leider. Der Brei schmeckte noch scheußlicher, als er aussah. Sie will uns vergiften!, war mein erster Gedanke. Doch dann wurde mir bewusst, dass Maman vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst gekocht hatte. In ihrem Elternhaus hatte Anne sie rundum versorgt. Und natürlich hatte sie nie allein gelebt, sondern war erst mit der Heirat zu Hause ausgezogen. Dann aber hatten sich die Hausangestellten um die Mahlzeiten gekümmert. Für Maman hatte nie die Notwendigkeit bestanden, selbst zu kochen, und sie hatte auch nie Interesse daran gezeigt, es zu erlernen.

So kam es, dass Maman unsere Mahlzeiten meist vom nächstgelegenen Imbiss holte, und das, obwohl wir sehr sparsam leben mussten.

Wir Geschwister blieben meist zu Hause. Aus Furcht vor den Drogenhändlern wagten meine Schwestern und ich kaum, die winzigen Räume zu verlassen, in denen wir lebten. Nur für die Schule gingen wir aus dem Haus.

Auf Dauer machten mich die Zustände der Unterkunft und die Perspektivlosigkeit depressiv. Die hygienischen Zustände in den winzigen Räumen waren furchtbar. Ich war ständig mit der Jagd auf Ungeziefer und dem Versuch beschäftigt, für etwas Ordnung zu sorgen. Nachts lagen wir auf dünnen Matratzen dicht an dicht nebeneinander auf dem Boden, wie das Gemüse in einem Kebab.

Irgendwie gelang es meiner Mutter, Spenden aufzutreiben. Armenische Christen stellten sie uns zur Verfügung. Wir bekamen Teppiche, Decken, Kisten und später sogar einen alten Kühlschrank gespendet. Um warmes Wasser zu bekommen, stellte Maman eine Öllampe unter einen Krug.

Für mich war das alles nur schwer zu ertragen. Uns war es doch so gut gegangen, und nun lebten wir unter ärmlichen Bedingungen in beengten Räumen, dicht an dicht mit Menschen, die mir Angst machten. Wir waren angewiesen auf die Almosen anderer, noch dazu von Ungläubigen. Unsere große Familie, in der wir einst einen guten Status gehabt hatten, zeigte sich nun in Zeiten der Not wenig hilfsbereit. Mein Bruder, dessen Revolutionseifer wesentlich dazu beigetragen hatte, dass wir in diesen Schwierigkeiten steckten, unterstützte uns kaum. Auch meine ältere Schwester, die einen sehr reichen Mann geheiratet hatte, schien sich nun ihrer Verwandtschaft zu schämen und mied den Kontakt.

Wir hatten überlebt, aber unser bisheriges Leben hatten wir verloren. Ich fühlte mich so ungeheuer verletzlich.

Ich war damals ein unsicherer, verängstigter Teenager, der die Menschen nicht besonders mochte und sein Selbstbild aus seiner gesellschaftlichen Stellung und der eigenen Frömmigkeit zog. Nun war mir nur noch die Frömmigkeit geblieben. Ich betete zu Allah. Ich fragte, womit wir diese Strafe verdient hätten. Eine Antwort bekam ich nicht, aber insgeheim gab ich Maman die Schuld. Mein Vater war ein sehr frommer Mann, ich selbst eine treue Muslima, nur Maman betete kaum und machte ständig so merkwürdige Sachen.

In dieser für uns persönlich ohnehin schon schwierigen Zeit verschärfte sich die politische Situation dramatisch. Seit einiger Zeit war das Säbelrasseln zwischen dem Irak und dem Iran immer lauter geworden. Die Wurzeln dieses Konflikts waren uralt, vielleicht konnte man sie sogar bis zu den Kriegen zwischen Babylon und Persien im Altertum zurückverfolgen. Immer wieder hatten diese beiden Reiche um die Vorherrschaft im Nahen Osten gerungen. Im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung stand die rohstoffreiche iranische Provinz Chuzestan, in der überwiegend Araber lebten.

Durch die islamische Revolution, der viele tatsächlich oder vermeintlich Schah-treue Offiziere zum Opfer gefallen waren, war der Iran militärisch geschwächt. Saddam Hussein, der Präsident des Irak, sah die Gelegenheit gekommen, sich als Führungsfigur der arabischen Welt zu etablieren. Er unterstützte offen separatistische Bewegungen in der Provinz.

Ajatollah Chomeini hingegen war die säkulare Baath-Partei Saddam Husseins zuwider. Er bezeichnete den irakischen Präsidenten als antiislamisch und rief alle irakischen Muslime zum Sturz des Regimes auf. Es sollte nicht bei Wortgefechten und Propagandaschlachten bleiben.

Am 22. September 1980 erschütterten schwere Detonationen die Luft. Die irakische Luftwaffe bombardierte den Flughafen von Teheran. Doch nicht nur das, auch in fünf weiteren Städten fielen Bomben. Zugleich rückte die irakische Armee mit 100 000 Mann in die Provinz Chuzestan ein.

Es war der Beginn eines achtjährigen Krieges, der zwischen 800 000 und einer Million Todesopfer fordern sollte.

12 https://de.wikipedia.org/wiki/Geiselnahme_von_Teheran#Besetzung_der_Botschaft

Plastikschlüssel zum Paradies

Der Plan des irakischen Präsidenten, den Iran in einem Blitzkrieg zu überrumpeln und Chuzestan einzunehmen, misslang. Aus dem Blitzkrieg war ein blutiger Stellungskrieg geworden, der immer mehr Opfer forderte. Die Bombardierung der zivilen Bevölkerung im Hinterland hatte nicht den erhofften Erfolg; es gelang nicht, die Menschen gegen das Revolutionsregime aufzuwiegeln, ganz im Gegenteil. Der Angriff von außen führte zu einem Schulterschluss. Die unter dem Schah-Regime ausgebildete Armee kämpfte Seite an Seite mit den Religionswächtern gegen den Irak.

Nicht zuletzt aus diesem Grund bezeichnete Ajatollah Chomeini diesen grausigen Krieg als Gottesgeschenk. Durch die äußere Bedrohung konnten die Revolutionäre im Inneren ungehindert ihren Gottesstaat aufbauen und ihre politischen Gegner vernichten. Der eher gemäßigte Präsident Banisadr, der versucht hatte, die Macht der Mullahs zu beschneiden, wurde abgesetzt – offiziell wegen politischer Inkompetenz und mangelhafter Führung der iranischen Streitkräfte.

Mithilfe der Volksmudschahedin gelang es ihm, als Frau verkleidet das Land zu verlassen. Sein Nachfolger wurde der Chomeini bedingungslos ergebene Mohammed-Ali Radschāi.

Das politische System, das die islamische Revolution hervorgebracht hatte, führte im Grunde genommen das Prinzip der Scheindemokratie fort, welches auch das verhasste Schah-Regime ausgezeichnet hatte. Es gab ein demokratisch gewähltes Parlament und somit auch eine formell demokratisch legitimierte Regierung. Die eigentliche Macht lag jedoch außerhalb der Einflusssphäre des Volkes. War es zuvor der Schah gewesen, der in Wahrheit die Zügel in den Händen gehalten hatte, so war es nun der sogenannte Wächterrat.

Dieses Gremium bestimmt noch heute die Geschicke des Landes.

Die zwölf Sitze des Wächterrats werden dabei zur Hälfte von Geistlichen und zur Hälfte von Juristen besetzt. Die geistlichen Mitglieder werden vom Obersten Religionsführer direkt ernannt. Die sechs Juristen werden aus verschiedenen Rechtsgebieten vom Parlament gewählt. Allerdings stehen nur diejenigen Kandidaten zur Wahl, die vom obersten Richter genehmigt wurden. Der oberste Richter wiederum wird vom Obersten Religionsführer ernannt. Dieses Prinzip der Wahlfreiheit zwischen vorher festgelegten Kandidaten findet sich konsequent im gesamten politischen System wieder, denn der Wächterrat ist es letztlich, der entscheidet, welche Kandidaten sich dem Volk zur Wahl stellen dürfen und welche nicht.

Von außen betrachtet hatte Chomeini somit keine politische Macht inne, in Wahrheit jedoch hielt er alle Zügel fest in der Hand.

Der Widerstand dagegen war vergleichsweise gering. Denn es gab ja eine äußere Bedrohung, gegen die man zusammenstehen musste. Vor diesem Hintergrund schürten die Religionswächter den Hass auf Amerika, das laut Propagandamaschinerie in Wahrheit hinter dem Angriff Saddam Husseins stand. Zwar hatte man bislang nicht einen einzigen amerikanischen GI unter den irakischen Streitkräften entdeckt, doch das änderte nichts an der ideologischen Herangehensweise. Der Krieg gegen den Irak galt als Krieg gegen die Ungläubigen. Jeder gefallene Soldat war demnach ein Märtyrer. Und so fehlte es an der Front nicht an Freiwilligen.

Der Aufbau der iranischen Verteidigungslinien wurde bestimmt vom Ausmaß des Fanatismus, der die Kämpfer auszeichnete. Die regulären Truppen bedienten die Artillerie in der Regel von den hinteren Frontlinien aus. Sie hatten sich in Schützengräben verschanzt. Davor kämpften die Pasdaran und an allervorderster Front wurden die Basidschi13 eingesetzt.

Die meisten von ihnen waren Jugendliche, die man systematisch in den Schulen angeworben hatte. Sie erhielten eine kurze militärische Ausbildung. Sobald sie sich freiwillig meldeten, durften sie mit Erreichen der Volljährigkeit auch ohne Erlaubnis der Eltern an die Front ziehen. Bereits 1980 war die Volljährigkeit auf 15 Jahre festgelegt worden. Diese Freiwilligen, die nach westlichen Maßstäben nichts anderes als Kindersoldaten waren, wurden im Verlauf des Krieges immer wichtiger. Ihre Aufgabe bestand darin, als lebende Minenräumer den kämpfenden Truppen voranzugehen. Sie gingen sehenden Auges in den Tod, denn man hatte ihnen das Paradies versprochen, wenn sie als Märtyrer fielen.

Das Regime hatte eine halbe Million Plastikschlüssel aus Taiwan liefern lassen. Jeder Basidschi bekam einen solchen Schlüssel um den Hals gehängt; er sollte ihm das Tor zum Paradies öffnen, sobald er starb. Zudem trugen die Jungen ein Stirnband mit der Aufschrift: Allahu Akbar – Gott ist groß. Bewaffnet waren sie in der Regel nicht, das war nicht nötig.

Den Eltern, deren Kinder auf diese Weise starben, wurden Prämien versprochen.

In Scharen fielen die jungen Freiwilligen im Krieg und Leiche um Leiche wurde nach Hause geschickt. Die Trauerzüge mit den Gefallenen wollten kein Ende nehmen. Auch einer meiner Cousins starb als Basidschi in diesem schrecklichen Krieg. Man brachte uns jedoch keine Leiche zurück, das war offensichtlich nicht möglich gewesen. Seine Eltern bekamen nur eine Kette, anhand derer man ihn identifiziert hatte.

Die Medien waren voll von Nachrichten über die Geschehnisse an der Front. Doch die Menschen in Teheran blieben darüber hinaus weitgehend von den direkten Folgen des Krieges verschont. Es gab nur wenige, überwiegend glimpflich verlaufende Luftangriffe auf die Stadt. Indirekte Folgen des Krieges waren die Rationalisierung von Benzin, Heizöl und Lebensmitteln.

Es waren düstere, bedrückende Tage. Ich versuchte, Halt in der Religion zu finden. Ich betete viel und begann auch gemeinsam mit meiner Familie, Wallfahrten zu unternehmen. Wir pilgerten meist zu Fuß, manchmal auch mit dem Maultier zur Grabstätte des Imamzade Davood, eines islamischen Heiligen, dessen Verehrung gerade zu dieser Zeit zunehmend an Bedeutung gewann. Das Mausoleum lag in der Nähe von Teheran.

Obwohl ich mich streng an die Regeln des Islam hielt, fand ich in all dem nur wenig Trost.

Dann geschah etwas, das während der nächsten Jahre meines Lebens wie ein Damoklesschwert über mir hängen sollte.

Hin und wieder besuchte uns mein älterer Bruder Amir in unserer Unterkunft. Dabei freundete er sich mit einem der jungen Männer an, die ebenfalls in dem großen Haus wohnten. Sein Name war Saaid. Er war Pasdar, und ich mochte ihn nicht besonders, da er mir unheimlich war. Aber das war nicht so schlimm. Es gab einige Männer im Hof, die mir unheimlich waren.

Das eigentliche Problem war sein jüngerer Bruder Wahid.

13 Basidsch-e Mostaz’afin – Mobilisierte der Unterdrückten