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Thorsten Cmiel

Neue Spielregeln für das Finanzkasino

THORSTEN CMIEL

Neue Spielregeln für das Finanzkasino

Die Rückkehr des Anlegers zum gesunden Menschenverstand

FinanzBuch Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Lektorat: Hagen Thorn

Satz, Layout und Druck: Druckerei Joh. Walch, Augsburg

THORSTEN CMIEL • NEUE SPIELREGELN FÜR DAS FINANZKASINO

1. Auflage 2009

© 2009 FinanzBuch Verlag GmbH

Nymphenburger Straße 86

80636 München

Tel.: 089 65 12 85-0

Fax: 089 65 20 96

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe. Dieses Buch will keine spezifischen Anlageempfehlungen geben und enthält lediglich allgemeine Hinweise. Autor, Herausgeber und die zitierten Quellen haften nicht für etwaige Verluste, die aufgrund der Umsetzung ihrer Gedanken und Ideen entstehen.

Für Fragen und Anregungen:

cmiel@finanzbuchverlag.de

ISBN 978-3-89879-468-8

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Für Raffaella.

»Es gibt nichts, das so verheerend ist wie ein rationales Anlageverhalten in einer irrationalen Welt.«

John Maynard Keynes (1883 bis 1946), Britischer Ökonom und Mann des Jahres 2009 (Le Figaro)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Zum Verständnis

Fiktive Aktienwelt – ein einfaches Modell

Erklärungshilfe: der Kettenbrief

Madoff leimt sie alle

Wo das verlorene Geld tatsächlich ist

Werte sind relativ

Über Wettbewerb

Markt- oder Staatsversagen?

Warum wir einen starken Staat benötigen

Zur Schuldfrage in Zeiten der Globalisierung

Warum wir Spekulationen trotzdem brauchen

Die Finanz- und Vertrauenskrise

Wie man eine Lunte legt

Globales Weiterreichen des Schwarzen Peters

Entfremdung des Kredits

Ein System vor dem Zusammenbruch

Erste Rezessionsängste

Notoperationen

Globale Infektion – wie es weiterging

Subventionswettlauf

Strukturwandel – die harte Tour

Am Rand einer Weltwirtschaftskrise

Stunden der Politik

Befunde und Folgerungen

Globale Interessen

Neues Denken: Über Rettungspakete

Pragmatismus in Krisenzeiten

Staatlicher Egoismus auf dem Vormarsch

Wissenschaftler sind schlechte Ratgeber

Krisenbeschleuniger: die Provisionsmaschine

Versagen des Risikomanagements

Eine falsche Logik hat das System destabilisiert

Wenn rationales Verhalten zum Problem wird

Wenn Banker sich an den Spieltisch setzen

Die Zeche zahle ich nicht – Moral Hazard

Finanzmarkt besser organisieren

Verantwortung neu implementieren

Akteure

Banken – bis zur Krise hoch angesehen

Ratingagenturen – vom Sünder zum Langfristgewinner

Notenbanken – überschätzte Institutionen

Börsen- und Finanzaufsicht

Investmentfondsgesellschaften – die Durchschnittlichen

Hedge-Fonds – die Alternativen

Private Equity – nicht immer sind es Heuschrecken

Verkauf und Komplexität als Systemfehler

Unfug

Vorsicht bei Mode- und Trendprodukten

Verantwortungstransfer

Finanzprodukte müssen beraten, nicht verkauft werden

Was wirklich an der Börse Tag für Tag geschieht

Kursziele sind nur der Köder

Datengläubigkeit und Statistiktricks

Über den Börsenwert

Stimmt unser Wissen über Geldanlage (noch)?

Typische Irrtümer über Aktieninvestments

Breite Kapitalstreuung funktioniert als Krisenschutz

Fundamentalanalysen bieten einen Vorteil

Anleihen als krisensichere Finanzinstrumente

Rohstoffe – ein Megatrend

Gold – ein Metall als sicherer Hafen

Strategisches für Banker und andere Spielteilnehmer

Spieltheorie für Banker: Martingale

Wie Finanzprodukte sinnvoll einzusetzen sind

Größe – der zentrale Denkfehler

Über Größen- und Controllingwahn

Strategische Überlegungen für Anleger

Wie das Umfeld die Strategie bestimmt

Über den Ausstieg aus Aktien

Epilog

Anhang

Wirtschaftsbegriffe auf der Tagesordnung

Chronologie einer Krise

Abbildungsverzeichnis

Prolog

Das Jahr 2008 hatte für Börsen- und Wirtschaftsinteressierte mehr zu bieten, als sich irgendjemand in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte: Ein französischer Börsenhändler verzockte fast fünf Milliarden Euro, und seine Vorgesetzten wollten über Monate nichts von seinem Treiben bemerkt haben. Die Rohstoffpreise entwickelten sich zu Jahresbeginn nahezu explosionsartig und brachen zum Ende 2008 wieder deutlich ein. Die Inflation stieg wegen der hohen Energiepreise zunächst an, und am Ende des Jahres machen sich einige Marktteilnehmer Sorgen, die Preise könnten zu stark rückläufig sein. Die Indizes gaben im Jahresverlauf mehr als fünfzig Prozent ab, und die Aktienkurse sprangen über Monate willenlos munter hin und her. Mehrere Banken brachen zusammen, das Modell der Investmentbanken verschwand von der Bildfläche, und ausgerechnet die angelsächsischen Staaten verstaatlichten ihre Geldinstitute teilweise zuerst. Großbritannien nutzte Anti-Terror-Gesetze, um Island gefügig zu machen. Der Börsenwert eines Automobilherstellers in Deutschland stieg binnen weniger Tage auf das Fünffache, wodurch das Unternehmen für wenige Minuten zur wertvollsten Firma der Welt aufstieg. Eine Staatsbank und die größte deutsche Geschäftsbank überweisen Millionenbeträge an eine Pleitebank in den USA.

Ein deutscher Milliardär, einige britische Hedge-Fonds und Banken verloren bei der Autowette des Jahres Milliardenbeträge. Die kamen teilweise einem deutschen Hersteller von Luxusautos zugute, der in einem Geschäftsjahr fast mehr Gewinn als Umsatz erzielte. Russische Milliardäre fühlten sich plötzlich arm. In den USA kommt ein neuer Rekordbetrug ans Tageslicht: Ein 70-jähriger Börsianer konnte seinen verbliebenen Kunden etwa 50 Milliarden US-Dollar nicht mehr zurückzahlen. Sogar seine Frau und seine Söhne soll er hinters Licht geführt haben. Ein Geldmanager nimmt sich das Leben, da er den Betrug nicht erkannt hat und die Schande für seine bekannte Familie nicht ertragen konnte.

Das Vertrauen ist weg. Für die Aktienmärkte gilt: zurück auf Los. Zumal bei vielen Investmentfonds die angeblichen Leistungen von zehn oder mehr Jahren plötzlich unsichtbar sind. Die Finanzbranche zerlegte durch kollektiv organisierte Dummheit und Verantwortungslosigkeit das System, das sie über Jahrzehnte prima ernährt hatte. Die Kosten für das unsolide Denken der Banken und der Finanzindustrie tragen ungerechterweise vor allem andere in einer weltweit vernetzten Wirtschaft: Die Bürger in den Industriestaaten müssen vermutlich Jahrzehnte zusätzlich verschuldete Haushalte und unnötige Arbeitslosigkeit hinnehmen. Sogar die meisten Schwellenländer, die vor wenigen Monaten noch die Hoffnungsträger der Weltwirtschaft waren, sind um mehrere Jahre in ihrer Entwicklung zurückgeworfen. In den Entwicklungsländern wird es möglicherweise noch dramatischere Veränderungen geben, die soziale Unruhen in den nächsten Jahren nicht unwahrscheinlich machen. Die Finanzkrise 2008 verstärkte den ohnehin anstehenden Abschwung der Konjunktur dramatisch. Zur Jahreswende 2008/2009 scheinen wir am Rande einer Weltwirtschaftskrise zu stehen. Der mühsam über Jahrzehnte aufgebaute Handel der Staaten untereinander könnte durch eine neue Form des Protektionismus zum Erliegen kommen. Immerhin: Die Politiker reagierten weltweit mit milliardenschweren Konjunkturprogrammen, um die schlimmsten Folgen der Finanzkrise zu lindern und die Realwirtschaft zu stützen. Unternehmen können in einem Umfeld mit teilweise tektonischen Währungsverschiebungen, die uns die Finanzbranche durch immer neue Produkte mit eingebrockt hat, nicht mehr vernünftig planen. Erkennbar benötigen wir daher wirksamere Spielregeln für das weltweite Finanzkasino. Zunächst müssen Schiedsrichter benannt werden, und die Welt sowie die Nationalstaaten müssen ein System von Regeln schaffen, das prophylaktisch wirkt und den Rahmen neu absteckt.

Privatanleger sollten sich auf ein weiterhin unsicheres Finanzklima in den kommenden Jahren – vielleicht sogar Jahrzehnten oder für immer – einstellen. Zur Analyse der Ereignisse gehört es auch, die Begleitgeräusche der Wirtschaftsberichterstattung und die Hintergründe kritisch zu beleuchten. Denn die Finanzbranche unterhält nicht nur das größte Spielkasino der Welt, sondern auch die wirkungsvollste Maschinerie zu Beeinflussung.

Die Meinungsführerschaft über wirtschaftliche Zusammenhänge haben nicht überraschenderweise Ökonomen. Warum Sie trotzdem dieses Buch eines Wirtschaftsjournalisten lesen sollten, möchte ich mit dem Zitat einer streitbaren britischen Ökonomin begründen. Joan Robinson (1903 bis 1983) sagte einmal über diese Wissenschaftsdisziplin: »Der Zweck des Ökonomiestudiums besteht nicht darin, pfannenfertige Antworten auf wirtschaftliche Fragen zu erwerben, sondern darin, zu lernen, wie man es vermeidet, von Ökonomen getäuscht zu werden.«

Begriffe für Exzesse

Ich entschuldige mich bei allen altehrwürdigen Spielbanken für den Vergleich mit Spielkasinos. Was im Jahr 2008 das Ergebnis einer lang herangereiften Krise im Finanzsektor war, ereignet sich in keiner Spielbank dieser Welt.

Der Begriff Kasinokapitalismus stammt ursprünglich von John Maynard Keynes (1883 bis 1946). Keynes sieht kapitalistische Wirtschaftssysteme permanent Krisen produzieren, die sie aus eigener Kraft nicht lösen können. Anders als Marktgläubige hielt der britische Ökonom Krisen also nicht für die Ausnahme, sondern für den Normalzustand. Keynes trat daher für einen starken Staat ein, der die Gefahr des Vernichtens des Gesamtsystems mindert. Mit dem Begriff Kasinokapitalismus kritisierte Keynes, dass dieser ein System hoch spekulativer Geldanlagen und immer komplexerer Produkte produziere. Dadurch werde der Reichtum weniger Finanzmagnaten vermehrt. Welche Weitsicht!

»Kasinokapitalismus« ist meist Pauschalkritik an Börsenspekulationen jeglicher Art. Diese Begriffsverwendung geht zu weit: Sehr gut hat das der Basler Soziologe Urs Stäheli1 formuliert, der die Haltung Kasinokapitalismus als »zensorischen Begriff« zu verwenden ausgemacht hat: Das Geschehen an Finanzmärkten folge nicht allein der Rationalität, sondern auch den Prinzipien des Glücksspiels. Stäheli weist zu Recht darauf hin, dass zwischen Glücksspiel und Spekulation eine »prekäre Grenze« verlaufe. In der Finanzökonomie müsse diese immer wieder neu »vermessen« werden.

Zwei andere Begriffe sind ebenfalls bemerkenswert: »Spekulationskapitalismus« und »Raubtierkapitalismus«. Ersteren Begriff prägte Hyman P. Minsky (1919 bis 1996), ein amerikanischer Ökonom, der Keynes’ Ideen folgend Finanzkrisen für das Resultat eines instabilen Systems hielt. Seine zu Lebzeiten kaum beachteten Theorien beschreiben die Situation im Jahr 2008 sehr präzise: Nach längeren Wachstumsperioden verlieren Banken, Unternehmen und Privatleute jegliches Gefühl für Risiko. Durch Gier getrieben, beginnen die Akteure, in immer riskantere Finanzierungen zu investieren. Neben dieser Grundhaltung und dem Herdentrieb führt ein extremer Wettbewerb dazu, dass immer neue Finanzprodukte entstehen und dass die Akteure versuchen, vorhandene Regulierungen zu umgehen.

Der Begriff Raubtierkapitalismus wurde von Helmut Schmidt (*1918) in die Debatte eingeführt. Der deutsche Ex-Bundeskanzler ist ohne Zweifel ein überzeugter Marktbefürworter, macht sich allerdings Sorgen um den Erhalt der offenen Gesellschaft unter den aktuellen Bedingungen des Kapitalismus. In seinem am 4. Dezember 2003 in der Zeit veröffentlichten Artikel »Das Gesetz des Dschungels« übte der frühere Wirtschafts- und Finanzminister fundamentale Kritik an den Auswüchsen, die während der Periode der New Economy zu beobachten waren. Der Elder Statesman beklagte die fehlende Moral in der Wirtschaft und äußerte Sorge um die offene Gesellschaft. Seine Befürchtungen sind berechtigt.

Globale Neujustierungen der Preise

Die Finanzmarktkrise im Jahr 2008 führte zu einer starken Korrektur der Aktienmarktpreise. Etwa die Hälfte der Aktienmarktbewertung wurde während des Jahres 2008 vernichtet, denn nicht nur Banken erfuhren wegen schlechterer Aussichten eine komplette Neubewertung. Letztlich waren sämtliche Branchen betroffen – ihre Kursbewertungen sackten ab. Anleger wurden in mehreren Etappen schlagartig daran erinnert, dass Aktien Risikopapiere sind. Neben den Turbulenzen an den Aktienbörsen waren dramatische Preisänderungen auf den Anleihe-, Rohstoff- und Devisenmärkten zu beobachten. Die üblichen fundamentalen Erklärungsmuster funktionierten erkennbar nicht mehr, um die verschiedenen Kursveränderungen zu erläutern.

Das Prinzip des Markts sollte in einer Wirtschaftsordnung weiterhin darüber entscheiden, welche Ressourcen wo in einer Volkswirtschaft eingesetzt werden. Damit diese Idee umgesetzt werden kann, sind funktionierende Märkte mit möglichst freier Preisbildung notwendig. Das Jahr 2008 hat uns jedoch gezeigt, dass der Staat intelligentere Instrumente benötigt, um einen Missbrauch der dem System eigenen Freiheiten zu verhindern. Dabei sind weniger die Aktienmärkte gemeint. Erheblich wichtiger sind vielmehr die Rohstoff- und Devisenmärkte, die für die Wirtschaftsakteure eine deutlich größere Bedeutung haben. Die Finanzmärkte sind allen Vermutungen empörter Diskutanten zum Trotz zumindest in Deutschland stark reguliert. Sie sind aber auch eindeutig falsch geregelt: Auf der einen Seite sind hierzulande sehr hohe Auflagen in formaler Hinsicht vorhanden. Aber: Jede Bank darf mit ihrer Lizenz so ziemlich jedes ökonomisch fragwürdige Produkt auf den Markt bringen und auf übergeordneter Ebene sogar unsinnig hohe Risiken eingehen.

Jeder Akteur will in Zeiten der Globalisierung überall mitmischen. Angestachelt von Medien und der Unterhaltungsabteilung der Finanzindustrie, die Finanzinnovationen mundgerecht präsentieren. Die wirtschaftlichen Folgen sind teilweise dramatisch: In globaler Sicht führen weltweite Investments in der Konsequenz zu einer Nivellierung der Preisunterschiede auf unterschiedlichen Märkten und damit gelegentlich auch zu ihrer Funktionsstörung2. Ein Beispiel: Die unterschiedlichen Preise für Kredite sind ein Korrektiv des Markts, das die Ungleichgewichte und unterschiedlichen Zyklen zweier Volkswirtschaften ausdrückt. Das Risiko von Carry Trades3, die bereits 2007 die Finanzwelt kurz erschüttert hatten, steckt letztlich in den Währungsrelationen. Sobald die Zinskonditionen sich nur minimal verschieben, kommt es zu globalen Beben, wenn ganze Nationen ihr Geld von bestimmten Märkten wieder abziehen. Bedauernswerte Unternehmen werden dann mit dramatischen Preisschüben auf allen möglichen Märkten konfrontiert. Auch Ökonomen tragen eine Mitschuld an den immer schwierigeren Bedingungen, da sie mit ihrer übertriebenen Fokussierung auf die Effizienz der Märkte die Folgen grenzüberschreitender Risikoübernahmen nicht ausreichend erkannt haben. Seit 1990 sind die globalen Kapitalströme von 1.100 Milliarden US-Dollar auf 11.200 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 um mehr als das Zehnfache gewachsen. Gut die Hälfte dieser Kapitalströme ist inzwischen auf grenzüberschreitende Kreditgeschäfte in unterschiedlichen Verpackungen zurückzuführen.

Wie die Finanzindustrie Blasen fördert

Ein Phänomen sollte die Aufsichtsbehörden und Notenbanken viel mehr beschäftigen als formale Kriterien bei der Aufsicht: Geschäftsbanken und Finanzinstitute schaffen im System inzwischen selbst Geld und pumpen die Blasen der Wertillusionen bei Anlegern durch ihre Instrumente und Vertriebsorientierung immer weiter auf. Die Zentralbanken sehen dem Treiben interessiert zu und scheinen bis heute nicht zu bemerken, dass sie die Kontrolle über das Gesamtsystem längst verloren haben.

Asset-Preisblasen sind den meisten Anlegern seit der New Economy bekannt: Immer wenn viele Investoren einer Idee hinterherlaufen, kommt es zu ähnlich absurden Kursbewegungen in die eine oder andere Richtung. Die Finanzbranche fördert durch ihre Produktpolitik solche zyklisch-verstärkenden Effekte. Spätestens seit dem Jahr 2008 ist zu konstatieren, dass solche »Bubbles« nicht nur auf den Aktienmärkten zu beobachten sind, sondern auch bei Rohstoffen. In den Medien setzte sich die Meinung durch, dass auf den Rohstoffmärkten ein Megazyklus zu sehen sei. Natürlich bietet die Finanzindustrie sofort tausendfach passende Modeprodukte an, mit denen jedermann von dem Trend profitieren kann und die Preise künstlich weiter angeheizt werden. Die Folgen waren deutlich steigende Rohstoffpreise und vor allem ein explosionsartig hochschnellender Rohölpreis. Im sonstigen Kasinobetrieb Aktienmarkt kann man angesichts solcher Effekte noch ein Auge zudrücken, aber verzerrte Rohstoffpreise finden sich als Faktorpreise in den Bilanzen der Unternehmen wieder und sind sicher kein ökonomisches Kavaliersdelikt mehr.

Neues Wissen über Geldanlage

Die Demografie bestimmt die Herausforderungen jedes Einzelnen: Ohne die eigenverantwortliche Geldanlage kommt vermutlich niemand der jüngeren Generationen mehr aus. Richtig ist aber auch: Ohne die zwei ersten Säulen des Systems (Gesetzliches Rentensystem und Betriebsrente) wären die Einkünfte im Alter abhängig von den Kapitalmärkten, und das ist aus heutiger Sicht keine hoffnungsvolle Perspektive.

Das Koordinatensystem für Anleger verschiebt sich mit jeder Krise: Die Ereignisse haben nicht nur die Finanzmärkte und Börsen erschüttert, sondern auch scheinbar gesichertes Anleger- und Beraterwissen darf jetzt nicht mehr unumstritten sein. Selbst die »anerkannten« Wahrheiten über eine erfolgversprechende Kapitalanlage gehören auf den Prüfstand. Denn diese Krise hat viele Probleme offenbart, die niemand ignorieren sollte. Die Anlagezyklen sind erkennbar kürzer geworden in Zeiten, in denen deutsche Sparer einem staatlichen Hedge-Fonds wie Island ihr Geld anvertrauen, japanische Hausfrauen mit Fremdwährungen hantieren und nahezu jeder Privatanleger sein Geld in Rohstoffe investiert hat. Darüber hinaus darf inzwischen fast jedermann mit Termingeschäften aller Art und in unterschiedlichen Produktverpackungen auf hohe Gewinne bei Risiko des Totalverlusts spekulieren.

Jeder Privatanleger sollte den Crash 2008 als Chance begreifen und aus den weltweit gemachten Fehlern lernen. Dazu gehört in erster Linie: Spekulation sollte nicht auf Kredit erfolgen. Dieses solide Grundprinzip missachten Banken selbst: Solch eine Vorsicht ist aus ihrer Sicht nur für Private und Unwissende angebracht. Die Krise hat deutlich gemacht, dass die Banker zu der letztgenannten Gruppe gehören.

Immerhin: Was in vielen Finanzprodukten drin ist, dürfte nach den schlechten Erfahrungen jeden Privatanleger stärker interessieren als je zuvor. Diese neue Aufmerksamkeit ist nutzbringend einzusetzen. Die Eigenanlage beginnt bereits mit der Bereitschaft, Finanzprodukte verstehen zu wollen. Schließlich schauen die Konsumenten auch auf die Zutatenliste eines Joghurtbechers oder die technischen Angaben in einem Autowerbeprospekt. Warum soll das nicht auch bei Finanzprodukten der Fall sein? Um Risiken von solchen Produkten abschätzen zu können, ist ein sehr grundlegendes Verständnis der wichtigsten Produktkategorien nötig. Warnhinweise im Sinn eines Produkt-TÜVs auf den Verpackungen genügen in keinem Fall. Schon heute sind beim Kauf eines einfachen Finanzprodukts zehnseitige Risikoerläuterungen zu lesen und zu unterschreiben. Das Ergebnis der Schutzvorschriften ist das genaue Gegenteil von dem, was anzustreben ist: Anleger wähnen sich in einer scheinbaren Sicherheit, anstatt kritisch nachzufragen oder einfach »nein« zu manchen Angeboten zu sagen. Deutschland braucht keine Aktienkultur, sondern einen kritischen Umgang mit dem Treiben der Finanzindustrie.

Zum Verstehen der Produkte hilft Anlegern der gesunde Menschenverstand oft besser weiter als Verkäuferwissen über Details und mathematische Formeln. Denn die Finanzmärkte und Börsenkurse verhalten sich dauerhaft ohnehin nicht so, wie plausibel klingende Modellrechnungen Glauben machen sollen. Systemverständnis ist in Zeiten der rasanten Veränderungen jedenfalls wichtiger als das Anhäufen von vergänglichen Informationen.

Verstehen ist das Ziel

Wer sein Geld den Kapitalmärkten anvertrauen will, der sollte die Analyse und Interpretation der Crashvorgänge im Jahr 2008 weder den Politikern, noch Bankenvolkswirten oder Analysten und schon gar nicht den Bankvorständen überlassen. Stattdessen ist jeder mündige Anleger, Investor und Wirtschaftsinteressierte jetzt aufgefordert, sich eine Meinung über Ursachen und Folgen zu bilden und sein eigenes Anlageverhalten anzupassen. Die eigene Geldanlagestrategie sollte ohnehin bei gravierenden Veränderungen überdacht und – wenn notwendig – adjustiert werden. Einer der Väter der modernen Portfoliotheorie, Harry M. Markowitz (*1927), formulierte sehr pragmatisch für sein eigenes Modell4 wie mit der Realität umzugehen sei: »When one clearly unrealistic assumption of the capital asset pricing model is replaced by a real-world version, some of the dramatic CAPM conclusions no longer follow.«

Seit Jahren ist zu erleben, wie Banken und die gesamte Finanzbranche durch scheinbar immer neue Messmethoden und Indizes den Anlegern »einzigartige« Anlagemöglichkeiten überall auf der Welt eröffnen. Immer neue Details über angebliche Wirkungszusammenhänge und mehr Indizes als Aktien geben dem weltweiten Geschehen den Anstrich von Rationalität. In Wirklichkeit halten solche Logiken eine überdimensionierte Industrie in Gang, deren Produkte einen immer geringeren Grenznutzen5 produzieren. Fest steht: Wer in diesem Umfeld nur ein »Einmaleins der Aktien« oder einen ähnlichen Ratgeber gelesen hat oder manche Börsensendung regelmäßig sieht, der versteht sicherlich nicht genug über das Haifischbecken, in das er seine Füße eintauchen will. Er läuft ständig Gefahr, den Erklärungsmodellen der Banken zu folgen. Das Gehirn schaltet er dann wie beim Schauen des Vorabendprogramms ab. Übrigens: Selbst dort bleiben Fernsehzuschauer von einer Kurzinterpretation der Börsenereignisse nicht verschont.

Verantwortung übernehmen

Mehr Eigenverantwortung und eine eigene Meinung sind zig Mal mehr wert als der Rat eines von fremden Interessen geleiteten Bank- oder Versicherungsverkäufers beim Kauf von Anlageprodukten. Denn nur wer gleichgerichtete Interessen wie der Geldanleger hat, kann Erfolg versprechende und seriöse Empfehlungen geben. Auch neutrale Beratungen können keine Erfolgsgarantie sein, sie erfolgen jedoch aus den richtigen Motiven heraus.

Wer auf eine dauerhafte Besserung der Verhältnisse im Finanzsektor hofft, sollte nicht auf die Beteuerungen ehrbar beratender Banker, bessere Spielregeln oder Schiedsrichter vertrauen. Denn eine stärkere Aufsicht wird über kurz oder lang wieder von einigen Akteuren auf den Finanzmärkten ausgehebelt – das dürfte wahrscheinlicher sein als Aktienmärkte, die in den kommenden zehn Jahren einen neuen Höchststand erreichen. Das marktkonforme Gegengewicht gegen Fehlentwicklungen im System lässt sich am wirkungsvollsten fernab von politischen Placeboregeln durch eine Abstimmung mit den Füßen organisieren: Ein mündiger Finanzanleger sollte in der Lage sein, den gröbsten Unfug im System und bei den Produktangeboten als solchen zu identifizieren und nicht selbst die Finger auf die Herdplatte zu legen. Jeder kann seinen Berater oder seine Bank bei zu vielen fragwürdigen Empfehlungen einfach wechseln. Das diszipliniert auf Dauer ungemein.

Wiederentdeckung des gesunden Menschenverstands

Zur Krisenprävention wäre bei Bankmanagern, Politikern und sonstigen Akteuren nicht einmal besonderer Sachverstand oder eine höhere Moral notwendig gewesen. Die Absurditäten des Systems erkennt, wer seinen gesunden Menschenverstand einsetzt und sich nicht von seinem Umfeld oder medialen Begleitgeräuschen von diesem Pfad abbringen lässt. Die Katastrophe des Finanzmarktjahres 2008 war absehbar, ist aber überraschend heftig ausgefallen – der genaue Zeitpunkt war nicht vorherzusagen. Sie war aus heutiger Sicht die Folge von Entwicklungen, die schon viel länger zurückliegen. Zu den Ursachen gehört eine »Auf-Pump«-Mentalität der US-Amerikaner, die dazu geführt hat, riesige Kreditberge aufzutürmen, um ein naives ökonomisches Konjunkturverständnis umzusetzen. Aber Amerikaner-Bashing ist nicht meine Absicht: Die ganze Welt hat über Jahre vom Konsumhunger der USA profitiert und muss sich jetzt an der Redimensionierung der Weltwirtschaft beteiligen.

In der Folge lesen Sie hier keine Gesellschaftskritik über Spekulation an sich. Sie werden auch keine grundlegenden Hinweise darauf finden, welche gesellschaftlichen Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise gezogen werden sollten. Diese Aufgabe überlasse ich anderen. Mein Anliegen ist deutlich schlichter und praktischer: Wie sollte ein Anleger sich strategisch unter diesen Bedingungen positionieren, und worauf sollte er achten, wenn er sein Geld den Kapitalmärkten zur Verfügung stellt?

Thorsten Cmiel im März 2009

Zum Verständnis

Marktteilnehmer versuchen verständlicherweise ihr eigenes Handeln ins beste Licht zu rücken und Kaufgründe für ihre Anlageideen zu schaffen. Die Finanzindustrie beschäftigt dazu ein Heer an Analysten und Volkswirten, die jeden Tag die Welt neu erklären und die Medien mit allerlei statistischem Material füttern. Das Erleben des Treibens an den Finanzmärkten wird durch den Medienkonsum maßgeblich bestimmt: Informationen werden oft gefiltert und manchmal auch ungefiltert in Tageszeitungen, bei Börsensendern, in Anlegermagazinen, in Börsenbriefen und im Fernsehen wiedergegeben. Kritische Kommentare sind eher selten, da die Finanzindustrie teilweise auch die Medien finanziell speist. Selbst Wissenschaftler machen fleißig mit und veröffentlichen »marktbewegende« Umfrageergebnisse, die den Studieninitiatoren ungeahnte und ungerechtfertigte Wichtigkeit verleiht. Die Darstellung des Börsengeschehens erscheint in der Berichterstattung meist als rationale Folge von logischen Entscheidungen der Marktteilnehmer. Diese Sichtweise ist erkennbar falsch: Die Börsenwelt besteht aus ständig neuen Preisblasen überall im System. Die Suche nach dem »richtigen« Preis ist nie abgeschlossen, was zumindest Volkswirten allerlei – eigentlich sämtliche – Erklärungsmodelle verhagelt.

FIKTIVE AKTIENWELT – EIN EINFACHES MODELL

»Die Illusion ist Wirklichkeit geworden«.

Gordon Gekko im Oliver Stone Film »Wall Street« (1987)

Die Welt der Aktien ist eine Art Schattenwelt zur Wirtschaft. Sie schafft für sich genommen keine realen Werte. Stattdessen entstehen dort Wertillusionen. Anleger sollten sich vor Leuten hüten, die ihnen etwas anderes erzählen6.

Gelegentlich sind Vorwürfe zu hören wie während des Niedergangs der New Economy von einem Sprecher der Deutschen Telekom: Dieser beklagte nach einem kräftigen Kursrutsch der Telekom-Aktie, dass durch die negative Berichterstattung über sein Unternehmen ein Wert von zehn Milliarden Euro vernichtet worden sei. Hinter der Aussage verbirgt sich ein grandioses Missverständnis über den Wirkungsmechanismus von Aktienmärkten und dem Begriff Wert: Aktienkurse sind eine Zeitaufnahme und haben mit dem realen Wirtschaftsgeschehen erst einmal wenig zu tun. Die Veränderung von Börsenkursen gibt eine Indikation für künftig zu erwartende Wertveränderungen eines Unternehmens – mehr nicht. Ein einfaches Beispiel soll die Funktionsweise des Systems und das Auf und Ab an einer Börse sowie die daraus resultierenden Vermögenseffekte bei Anlegern beschreiben:

Wie aus einer Million Euro an der Börse mehr und wieder weniger wird

In dieser kleinen Modellwelt existiert genau ein Unternehmen, das einen Börsengang vollzieht: 100 Aktionäre erwerben jeweils 100 Aktien beim Going Public zu einem Kurs von 100 Euro. Die Aktiengesellschaft (AG) erhält demnach 10.000 mal 100 Euro, also 1.000.000 Euro. In diesem Beispiel bleiben die sogenannten Transaktionskosten vernachlässigt, die für den Börsengang oder den Kauf von Wertpapieren anfallen. Diese fließen dem Bankensektor und den Börsen zu. Auch Steuern bleiben unbeachtet.

An der Wertpapierbörse geschieht jetzt Folgendes: Einer der Aktionäre verkauft am ersten Börsenhandelstag seine sämtlichen Aktien für einen Kurs von 110 Euro. Am nächsten Tag steigt der Kurs bei ebenfalls nur einer Transaktion auf 120 Euro und so weiter. Nach zehn Tagen notiert die Aktie des Unternehmens bei 200 Euro. Da jedem Käufer immer auch ein Verkäufer gegenübersteht, sind durch die Transaktion Geld und Papier umverteilt worden, aber es wurden erkennbar keine realen Werte geschaffen. Das Unternehmen hat immer noch die eine Million Euro (zumindest wenn man von bis dahin angefallenen Kosten und Produktionsprozessen absieht). Dennoch ist durch das Geschehene eine Illusion entstanden: Bei den jetzt anders zusammengesetzten, (immer noch) 100 Aktionären entstand die Vorstellung, man habe jetzt einen Wertzuwachs im Depot. Alle Aktien entsprechen in der Summe einem Buchwert, das ist der virtuelle Wert einer Depotposition, von zwei Millionen Euro (10.000 Aktien zu 200 Euro).

Die Anleger fühlen sich jetzt auf einen Schlag reicher und verändern möglicherweise ihr Konsumverhalten. Leider wird nach einigen Wochen berichtet, dass ein geplantes Geschäft nicht zur Zufriedenheit abgewickelt werden kann. In der Folge verkauft ein Aktionär bei fallenden Kursen jeden Tag seine Aktien zum eigenen Kaufkurs. Also derjenige, der zu 190 gekauft hat, verkauft zu diesem Kurs und so weiter. Der Kurs fällt bis auf 100 Euro. Also zurück auf Start: Wie ist jetzt die Zwischenbilanz der Anleger und des Unternehmens? Die 90 Anleger, die zum Startzeitpunkt gekauft haben, besitzen in ihrem Depot Aktien, die an diesem Tag genauso viel kosteten wie an dem Tag, als sie die Aktie ursprünglich für 100 Euro gekauft hatten. Die zehn ersten Käufer haben zu ihrem Kaufkurs die Aktien zurückverkauft – sie sind mit einem Ergebnis von null aus dem Spiel ausgeschieden. Aber es gibt jetzt auch Anleger, die auf Verlusten sitzen. Derjenige, der zu 200 gekauft hat, der zu 190 gekauft hat und so weiter. Der Aktienkurs hat sich nach oben bewegt und ist wieder auf sein Ursprungsniveau gefallen. Es gibt zu dem jetzigen Zeitpunkt also Verlierer mit Aktienbesitz, aber die zehn Anleger, die zuerst ausgeschieden sind, haben genau diese noch virtuellen Verlustbuchsummen an realisierten Geldgewinnen erzielt. Die gesamte Illusion ist verloren gegangen. Das Konsumverhalten könnte sich dadurch wieder verändern, da sich die Anleger plötzlich weniger »reich« fühlen. Das Treiben an der Börse ist für sich genommen bis hierhin ein Nullsummenspiel7. Es gibt einen klugen Spruch unter Börsianern, der lautet: »Das Geld ist nicht weg, es hat nur jemand anderer.«

In der realen Welt hat diese Aktiengesellschaft zunächst eine Million Euro an Kapital erhalten. Das Unternehmen wirtschaftet mit dem Geld: Es werden Löhne gezahlt, Pacht und Mieten entrichtet, Rohstoffe erworben und Produkte hergestellt. Die Aktie verharrt zunächst weiter auf einem Kursniveau von 100 Euro (der Kurs wird vom Börsenmakler täglich taxiert, da niemand seine Aktien verkauft und niemand mehr bietet als 100 Euro). Das Unternehmen ist erfolgreich und erwirtschaftet einen Gewinn nach Steuern, der an die Aktionäre zur Auszahlung gebracht wird. Jeder Aktionär erhält nach einem Jahr des Wartens eine Nettodividende von fünf Euro je Aktie. Damit rentiert sich das Ursprungsinvestment des Anlegers, der schon zu Beginn dabei war, mit soliden fünf Prozent. Aber es gibt auch Anleger, die zu 110, 120 bis 200 Euro eingestiegen sind. Deren Dividendenrendite fällt natürlich magerer aus. Verkaufen will noch kein Anleger.

Durch die Ausschüttung und die folgende positive Berichterstattung angetrieben, steigt der Aktienkurs wieder bis auf 200 Euro. Diesmal verkaufen alle Anleger ihre Aktien. 90 von ihnen erzielen einen Gewinn von 100 Euro je Aktie beziehungsweise 100 Prozent. Der Anleger, der zum Kurs von 200 gekauft hatte, ist inzwischen froh, seinen Einstandspreis erlöst zu haben. Es gibt jetzt also Teilnehmer, die 100, 90, 80 bis 10 Euro an Gewinn je Aktie erzielen konnten. Zu diesem Zeitpunkt gibt es nur noch Gewinner unter sämtlichen Altaktionären (die real ausgezahlten Gewinne betragen insgesamt genau eine Million Euro). Darüber hinaus gibt es 100 Anleger, die einen neutralen Depotbestand aufweisen (200 Euro bezahlt und 200 Euro im Depot als virtueller Wert). Das Spiel funktioniert bei steigenden Kursen immer weiter und ist ein scheinbar sicheres Gewinnsummenspiel. Wie könnte es anders sein – der Kurs der AG bricht irgendwann ein, da das Unternehmen als Folge einer verfehlten Produktpolitik die Hälfte seines Lagerbestands als unverkäuflich abschreiben muss. Der Kurs notiert von einem Tag auf den anderen wieder bei 100 Euro. Das eigenständige System Börse produziert insgesamt bis zu einem Kurs von 100 Euro über alle Transaktionen ausgestiegener und immer noch beteiligter Spielteilnehmer ein Gesamtergebnis von null auf der Anlegerseite. Bei einem Konkurs kann bis zu eine Million Euro an Geld verloren gehen, die aber irgendjemand im System über Geschäftsprozesse genutzt hat. Der Rest wurde irgendwie unter den Teilnehmern des Spiels umverteilt. Das Unternehmen kann während seines Bestehens reale Werte schaffen und Dividenden zahlen. Für ein Unternehmen und die Gesellschaft insgesamt ist das Geschehen auf dem Aktienmarkt also ein erquickliches Spiel, das man unterstützen sollte.

Im Fall des Crashs 2008 wurden über einen längeren Betrachtungszeitraum hinweg daher keine Werte vernichtet, sondern die Anleger wurden insgesamt einer gemeinsamen Wertillusion beraubt. Wer Aktien im eigenen Depot hatte, saß nach dem Crash auf Buchverlusten, die insgesamt betrachtet den Gewinnen der Verkäufer entsprachen, da bekanntlich irgendjemand die Wertpapiere den aktuellen Besitzern zu höheren Kursen verkauft hatte. In dieser Situation stark gefallener Kurse benötigen die Spielorganisatoren natürlich einige Zeit, um das Vertrauen in das eigene Blähsystem wieder zu stärken. Die Finanzindustrie als Ganzes setzt vor allem auf steigende Kurse, damit möglichst viele Teilnehmer glücklich sind und immer neue Teilnehmer den Kapitalfluss erhalten. Die meisten Marktteilnehmer und Unternehmen versuchen durch das Produzieren positiver Bewertungen und Nachrichten eine Stimmung zu erzeugen, die das Spiel scheinbar endlos fortsetzt. Medien unterstützen diese Entwicklung. Sogar Boulevardzeitungen und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten berichten inzwischen in Deutschland über die Aktienindizes und das Geschehen an den Märkten.

Die Beschreibung der Parallelwelt Aktienmarkt soll kein Trost für Anleger sein, sondern darauf aufmerksam machen, dass bei einem Crash an der Börse keine realen Werte vernichtet werden wie in einem Krieg, bei dem Häuser zerstört und Menschenleben ausgelöscht werden. Die Wirkungen für die »reale« Wirtschaft sind im Jahr 2008 dennoch verheerend gewesen: Das ist vor allem auf eine negative Spirale durch die Rückabwicklung von unterlegten Krediten zurückzuführen – das wird in Bankersprache »Deleveraging« genannt.

ERKLÄRUNGSHILFE: DER KETTENBRIEF8

Ein wirtschaftlicher Kettenbrief ist ein System, das auf Illusionen beruht und eine Auszahlungspyramide aufbaut, die irgendwann ihr jähes Ende findet.

Er erklärt die übergeordnete Logik des Börsenspiels.

Im Herbst 2003 besuchte eine Frau eine Veranstaltung in einem Kölner Hotel. Sie hatte von einer Freundin gehört, die an einem solchen »Informationsabend« zuvor teilgenommen hatte, und aus 5.000 Euro binnen kurzer Zeit 20.000 Euro gemacht hatte. Was war geschehen? Wie kann das funktionieren? Nun, jemand kommt auf eine scheinbar clevere Idee: Er überredet zehn »Investoren«, ihm jeweils 5.000 Euro zu geben und dadurch das Recht zu erhalten, selbst vier Teilnehmer zu rekrutieren, die in das System »Schenkkette« einsteigen. Jedes Event findet in festlichem Rahmen statt und überzeugt einige Teilnehmer. Wer sich an den Anfang einer solchen Kette begibt, hat eine gute Chance, genügend Glücksritter zu finden, die später als er noch einzahlen. Es gibt diese Methode in den verschiedensten Ausprägungen und Zusammenhängen. Manchmal sichert sich der Erste der Kette Beteiligungen an allen weiteren Transaktionen. Es finden sich immer wieder neue Opfer und Teilnehmer solcher Systeme. Die Letzten in der Kette zahlen die Gewinne der Initiatoren und der anderen Vorgänger. Im Jahr 2001 erklärte der Yale-Ökonom Robert J. Shiller in seinem Buch Irrationaler Überschwang diesen Zusammenhang im Rückblick der letzten geplatzten Kursblase mit dem Vergleich des Kettenbriefes.

Die Kette erklärt die einfache Funktionsweise des übergeordneten Börsenspiels, wobei dort im Unterschied zu einem illegalen Kettenbrief im Sinne einer Schenkkette durch die Aktivitäten der Unternehmen tatsächliche Werte geschaffen werden. An der Aktienbörse sollte sich jeder Anleger über ähnliche Phänomene immer wieder Gedanken machen: Wir laufen stets Gefahr, einer Herde zu folgen und dabei zu hohe Kursbewertungen von Unternehmen in Kauf zu nehmen. Neuroökonomen haben dieses Herdenverhalten untersucht und verschiedene psychologische Fallen ausfindig gemacht, die auf dem Weg zur Anlageentscheidung drohen.

Die Gefahr besteht auch, einem Betrüger aufzusitzen, der im Golfclub tolle Geschichten erzählt. Ende 2008 erschütterte das überraschende Geständnis eines 70-jährigen Mannes die ohnehin schon schwer angeschlagene Finanzwelt.

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Ein ehemaliger Rettungsschwimmer konnte im Dezember 2008 nicht mehr genug Geld für seinen Kettenbrief auftreiben und gestand das größte illegale Umtauschspiel aller Zeiten. Mit ihm ging viel Prominenz finanziell unter.

Charles Ponzi (1882 bis 1949) – ein Italiener aus Parma – gilt als der Erfinder der illegalen Schneeballsysteme – obwohl er dies eigentlich seinem zeitweiligen Patron in Montreal, Luigi Zarossi, abgeschaut hatte. Der Betrüger kam 1903 als Einwanderer Carlo Pietro Giovanni Guglielmo Tebaldo Ponzi in die Vereinigten Staaten und lernte in wenigen Jahren einige Gefängnisse von innen kennen. Er scheiterte mit legalen Geschäftsideen, bis er die Gier seiner Mitbürger profitabel einzusetzen lernte: Er stellte den Investoren seiner »Securities Exchange Company« hohe Gewinne durch lukrative Arbitragegeschäfte9 mit Bezugsscheinen in Aussicht. Ponzi versprach eine Wertentwicklung von 50 Prozent in 45 Tagen oder 100 Prozent in 90 Tagen. Seine Erstinvestoren zahlte er mit den Einlagen neuer Kunden aus und verzeichnete regen Zulauf für seine »Anlage-Idee«. Er soll von 40.000 Investoren insgesamt Geldzuflüsse von bis zu 15 Millionen US-Dollar erhalten haben. Er baute unter anderem in Massachusetts ein Haus mit 13 Zimmern und sieben Schlafzimmern. Das »Geschäft« funktionierte, bis das Misstrauen unter den Investoren zu groß wurde, da in der Presse Zweifel an dem Geschäftsmodell aufkamen. Von dem Geld waren bei der Entdeckung nur noch 10 Prozent übrig, und Ponzi wanderte wieder ins Gefängnis. Mit seiner ursprünglichen »Arbitrage-Idee« hatte er gerade einmal 30 US-Dollar verdient. Noch heute ist im englischen Sprachgebrauch »Ponzi Scheme« ein gängiger Begriff für Schneeballsysteme.