NORA MIEDLER

Zucker
WATTE
träume

Warum kann man Fettnäpfchen
nicht einfach aufessen?

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Weitere Bücher von Nora Miedler
im Arena Verlag:

Kühlschrank-Chroniken
Funkentanz
Lügenprinzessin

Nora Miedler, geboren 1977, studierte Schauspiel am
Konservatorium Wien und war auf zahlreichen Bühnen
zu sehen. Ihr Krimidebüt Warten auf Poirot war der Überraschungserfolg
des Jahres 2009 und wurde für den
Leo-Perutz-Preis der Stadt Wien für Kriminalliteratur
nominiert und außerdem für das ZDF verfilmt.
Neben ihren Krimis und Thrillern hat sie auch
erfolgreich Frauenromane veröffentlicht.

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1. Auflage 2017
© 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Coverillustration: Martina Frank
Covergestaltung: FAVORITBUERO
ISBN 978-3-401-80704-1

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Samstag, 29. Juli

Status: Möchte von Aliens abgeholt und auf die Venus befördert werden (Venus = Frauenplanet! Keine Jungs dort weit und breit!).

12:05 Uhr. Mist, Mist, Mist, Mist, Mist!

Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein!!!

Scheiße.

Tod, süßer Tod, bitte hol mich heim zu dir.

Aaaaaaaarrrrrrrghhhhhh, was soll jetzt das schon wieder, Ali? Süßer Tod, hol mich heim zu dir?!

Oh Gott, dieses scheiß Pathos, dieses Geschwafel, das hat mich doch erst da hingebracht, wo ich jetzt bin, also Schluss damit! Schluhuuss!!!

Ich bin so unfähig! KOMPLETT UNFÄHIG!

Habe ich wirklich der ganzen Welt verraten (also zumindest der ganzen Schule und den Eltern), was ich für Ben empfinde? Und das auch noch auf eine dermaßen peinliche Art, dass nicht nur ich, sondern vor allem auch Ben für immer mit dieser Schande leben muss?

Ich könnte heulen, echt …

Meine Mutter nervt schon wieder. Schneit alle paar Minuten rein, um mir zu erklären, dass die ganze Sache nicht so dramatisch ist, wie ich sie sehe.

Ha! Die hat doch keine Ahnung, die hat doch längst alles vergessen, was wichtig ist. Sie lebt auf ihrem Erwachsenen-Berufs-und-Kindergroßzieh-Planeten und hat keinen Plan, wie das Leben läuft!

13:00 Uhr. S – C – H – E – I – S – S – E!

23:55 Uhr. Ich hasse mich. Ich bin so blöd. Ich muss sterben.

Sonntag, 30. Juli

Status: Keine Aliens gekommen. Image Wo sind die, wenn man sie wirklich braucht?! Möchte immer noch auf die Venus … Wahlweise auch auf jeden anderen Planeten weit weg von hier.

00:05 Uhr. Ich will sterben!!!

Aber vorher gehe ich noch mal schlafen …

10:25 Uhr. Okay, ganz ruhig, Ali. Vielleicht hat Mama ja recht und es ist alles gar nicht so schlimm …

Was ist denn schon Großartiges passiert? Gut, ich habe mich total blamiert und den Jungen, in den ich verliebt bin, gleich mit …

Doch, es ist schlimm. So ziemlich das tiefste Fettnäpfchen, in das ich je reingetreten bin. Jetzt sind schon eineinhalb Tage seitdem vergangen, aber es fühlt sich noch immer schrecklich an.

Natürlich ist das alles eigentlich Maries Schuld, aber das hilft mir leider gar nicht.

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11:10 Uhr. Marie hat eben angerufen. Als hätte sie geahnt, was ich gerade geschrieben habe. Sie hat versucht, mich aufzuheitern. Ohne Erfolg. Und sie hat sich noch einmal entschuldigt.

Das Komische ist, dass ich eigentlich gar nicht sauer auf sie bin, sondern nur auf mich selbst. Obwohl es diesmal wirklich nicht mein Fehler war.

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

Ich möchte sterben. Ganz schnell.

Ich will ja nicht behaupten, dass es kein größeres Leid auf der Welt gibt als meines, aber ganz bestimmt hat noch nie ein Mensch auf dieser Welt etwas Peinlicheres durchstehen müssen als ich.

Wenn wir wenigstens in einer Riesenmetropole leben würden, dann könnte ich mich den ganzen Sommer verstecken. Aber in unserem kleinen Kaff in Bayern, mit gerade mal zehntausend Einwohnern? No way.

Meine Fähigkeit, jedes Fettnäpfchen zu finden und mit Anlauf hineinzuspringen, ist in unserer »Stadt« sowieso schon so verbreitet wie die Pest in Europa im 14. Jahrhundert.

Mit der Aktion habe ich wirklich endgültig den Grundstein für meine Ausreise gelegt.

11:50 Uhr. Hey, wenigstens weiß Ben jetzt, wer ich bin.

Hahaha.

Scheiße.

22:15 Uhr. Den ganzen Abend die größten Blamagen und Fettnäpfchen der Welt auf YouTube angesehen. Konnte mich auch nicht trösten.

Tausendmal lieber hätte ich auf meiner Hochzeit die Perücke verloren, weil mein frisch angetrauter Ehemann vor lauter Aufregung ohnmächtig wird, umkippt und mit dem Hintern auf meinem bodenlangen Schleier landet, den er mir mitsamt Perücke runterreißt.

Milliardenmal eher könnte ich es ertragen, wenn irgendein Kleinkind meinen Rock lüpft, während ich im Supermarkt an der Wursttheke stehe, und alle Leute meinen alten beigen Oma-Schlüpfer sehen.

Ich glaube, mir wäre es sogar lieber, ich hätte vor meiner ganzen Klasse lautstark einen fahren lassen – so, wie es Caro einmal passiert ist, als sie am Vorabend drei Teller Chili bei ihrer Großmutter gegessen hatte.

Alles wäre mir lieber als das, was ich jetzt durchzustehen habe.

Gerade ist es wieder ganz schlimm. Ich spüre nicht nur diese Schmach und Schande, wegen der ich am liebsten im Erdboden versinken würde (könnte ich das nur auch mal so gut, wie in Fettnäpfchen zu treten), sondern bin auch total traurig.

Ich könnte mir in den Arsch treten, weil ich nicht nur die peinlichste Dummheit des Jahrhunderts Jahrtausends begangen habe, sondern auch noch ausgerechnet Ben damit geschadet habe.

Er wird mich für immer hassen. FÜR IMMER.

Ach Ben … es tut mir so leid.

Wenn er mich nur wirklich kennen würde und wüsste, wie sehr ich ihn liebe … Oh halt! Das weiß er ja jetzt. Alle wissen es! Denn ich musste es ja unbedingt vor der ganzen Welt ausquatschen. Und natürlich auf die beschämendste Art und Weise, die aufzutreiben war! Du bist wirklich ein Genie, Ali!

Arrrrghhh!

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Egal! Das, was passiert ist, wird mich nicht daran hindern, Ben zu kriegen. Ich schwöre bei allem, auf das man nur schwören kann: ICH WERDE IHN KRIEGEN! Denn er und ich, wir gehören zusammen.

Auch wenn er das noch nicht weiß.

Und wenn ich ihn erst habe, dann werde ich ihm beweisen, wie sehr ich ihn liebe – mehr, als alle klapprigen Supermodels auf unserer Schule es je könnten. Die interessieren sich eh nur für ihr Aussehen – und dann wird er erkennen, dass es nur auf die Größe des Herzens ankommt, nicht auf den Körperumfang.

Und dann lachen wir darüber, was passiert ist. Und irgendwann werden wir unseren Enkelkindern davon erzählen.

Ganz bestimmt.

Es sei denn, ich sterbe vorher vor Scham.

Wieso bin ich eigentlich noch nicht in meinen eigenen Fettnäpfchen ersoffen?

Montag, 31. Juli

Status: Kurzer Anflug von Erleichterung wegen ausgeklügeltem Plan (nur fragwürdig, ob und ab wann durchführbar).

0:25 Uhr. Ich werde Nonne. Das ist es! Jeder andere Lebensplan würde nur wieder in einer Katastrophe enden.

9:55 Uhr. Habe mich die letzte halbe Stunde auf diversen Kirchenwebsites über den Beruf der Nonne informiert. Na ja, auf einer Kirchenwebsite, das andere waren Diskussionsforen. Und die waren das eigentlich Spannende.

Interessant, dass es wirklich Mädchen in meinem Alter gibt, die Nonne werden wollen. Als Gründe nennen sie eigentlich alle einen der folgenden:

Weil ich mich dazu berufen fühle, mein Leben Gott (wahlweise auch Jesus) zu widmen.

Und/oder: Weil ich mit den fehlenden Werten und der Oberflächlichkeit in der weltlichen Gemeinschaft nicht klarkomme.

Hmm.

Keine Einzige ist Nonne geworden, weil sie vor Schmach und Schande an einen Ort fliehen musste, wo niemand sie kennt und wo auch keine Gefahr besteht, dass sie dort auf einen Hammerkerl trifft, in dessen Gegenwart sie sich in Fettnäpfchen wälzen kann.

Sollte mir das zu denken geben? Dass ich womöglich die Einzige wäre, die aus genau diesen Gründen ins Kloster ginge? Ohne die ganze Gottesfurcht und die Berufung, von denen die anderen hier schreiben.

Hm.

Jedenfalls muss ich zuerst noch der Kirche beitreten und mich taufen lassen, sonst wird das nichts mit der Nonnenlaufbahn.

Nicht vergessen: Eltern vorwerfen, dass es ein großes Versäumnis von ihnen war, ihre Tochter nicht der heiligen Taufe zuzuführen.

Dass ich mir meinen Glauben oder Nichtglauben selbst aussuchen soll, wenn ich alt genug bin, ist ja schön und gut und sehr liberal gedacht, aber ist ihnen denn nie der Gedanke gekommen, dass ihre Tochter dadurch benachteiligt sein könnte? Zum Beispiel eben beim Nonnewerden?

10:20 Uhr. Arrrrghh, meine Mutter hat mich in der letzten Stunde circa fünfzehnmal angerufen und mir ins Gewissen geredet, dass ich mich schleunigst auf den Weg ins Freibad machen und den Sommer genießen soll.

Ich wollte ihr verklickern, dass ich lieber Mathe lerne, um in der Elften so richtig toll durchstarten zu können, aber natürlich glaubt sie mir kein Wort.

Hey, gerade fällt mir ein, dass ich nie wieder Mathe lernen müsste, wenn ich ab sofort ins Kloster ginge. Oder?

11:45 Uhr. Um mich ein wenig zu trösten, habe ich vorhin beschlossen, mein Mittagessen auf elf Uhr vorzuverlegen und anstatt des Tomaten-Gurken-Salats, den meine Mutter mir heute früh vorbereitet hat, eine Schachtel Schokocookies zu vertilgen.

Was soll das überhaupt? Muss mir jetzt sogar schon meine eigene Mutter mittels Gesundheitsfraß (Tomaten-Gurken-Salat!) unter die Nase reiben, dass ich mehr Kilo auf die Waage bringe als meine Freundinnen? Ich kann ja wohl wirklich nichts dafür, dass Marie, Marie-Jolie und Caro alles Hungerhaken sind!

Darauf angesprochen hat meine Mutter am Telefon behauptet, dass sie lediglich auf meine eigene Frustration bezüglich meiner Figur reagiert habe. Sie hätte mir erst letzte Woche gesagt, dass ich eine ganz wunderbare, weibliche Figur habe und sie es nicht nötig fände, dass ich auch nur ein Gramm abnehme.

Hmm, ja, kann sein. Kann auch sein, dass ich sie daraufhin böse angesehen und verlangt habe, mich ab jetzt mit Trennkost zu versorgen, weil ich den ganzen Sommer über nichts anderes als Salat essen will, anstatt Pommes und Eis im Schwimmbad.

Ha, Schwimmbad. Sowieso nicht gerade mein Lieblingsort. Hat mir letztes Jahr erst wieder eines dieser super Aha-Erlebnisse beschert.

Ich war mit den Mädels shoppen und hatte mir einen neuen Tankini gekauft. Das Teil hat so Sachen wie Bäuchlein und Hüften einfach weggeschummelt. Ich fand plötzlich, dass ich eigentlich eine richtig gute Figur habe.

Die anderen waren auch begeistert. Marie hat sogar erklärt, dass sie auch gerne so sportliche Waden wie ich hätte. Und ich dachte: Ja, stimmt, eigentlich habe ich gar keine so unsportliche Figur. (Wenn man diese kleine Speckrolle am Bauch und die Dellen an den Hüften verdeckt.)

»Deine Arme sind auch richtig muskulös«, meinte Marie-Jolie daraufhin. Ich schaute in den Spiegel und fand, dass sie recht hatte. Abgesehen davon, dass ich sowieso der Meinung bin, dass wir nicht alle eine Wespentaille und Zahnstocherarme brauchen.

Tjaaa, als wir dann aber am nächsten Tag im Freibad zu viert aus der Umkleide kamen und dem großen Spiegel dort entgegenliefen, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf.

Links und rechts von mir gingen Gigi Hadid und Bella Hadid und rechts außen lief eine unbekannte Schwester von ihnen. Jaaa … und mittendrin ich – ein moppeliges Mädchen mit braunen Haaren und Durchschnittsgesicht.

Wo war meine sportliche Figur vom Vortag hin? Hallo?! War ich wirklich doppelt so breit wie meine Freundinnen?

»Könnt ihr mir mal einen Gefallen tun?«, brach es plötzlich aus mir raus.

»Was ist denn los?«

»Ali?«

Ziemlich verzweifelt bat ich sie, mich kurz mal alleine vor den Spiegel zu lassen. Sie taten zwar wie geheißen, standen aber mit skeptischen Blicken da, ihre Streichholzärmchen vor der Brust verschränkt, die Hüften herausgeschoben, sodass ihre Knochen spitz hervortraten.

Ich ignorierte sie und atmete erleichtert auf. Tatsächlich. Ohne meine Magermodelfreundinnen neben mir gefiel mir mein Spiegelbild gleich viel besser.

»Alles klar bei dir, Ali?«

»Klar doch ist alles klar«, versicherte ich betont lässig, während ich mir überlegte, ob es nicht an der Zeit war, mir dickere Freundinnen zu suchen.

Hab ich aber natürlich nicht gemacht. Charakter geht vor Aussehen. Ich liebe meine Mädels – auch wenn sie mir zu dünn sind.

Und der Sommer im Freibad war dann trotzdem prima. Bis auf die eine Geschichte. Eine Ali-Geschichte eben.

Zwei Wochen vor Ferienende kam Ben aus dem Urlaub zurück und ich hatte über etwa sieben Ecken vernommen, dass er in ebenjenem Urlaub seine Freundin besucht hatte (wo auch immer die lebt) und dass es dort zum großen Krach zwischen den beiden gekommen war.

Juhuuu und große Freude bei mir natürlich.

Nur dass dann plötzlich eine gewisse Kira aus dem Nachbarort mitsamt ihren Tussenfreundinnen auf der Bildfläche – beziehungsweise im Schwimmbad – erschienen ist und Ben und seine Kumpels ständig mit denen rumgehangen haben.

Vor allem Kira hing im wahrsten Sinne des Wortes an Ben.

Na ja, am vorletzten Tag vor Schulbeginn, nachdem ich mir gerade ein Eis geholt hatte, sah ich Ben völlig allein im Strudelbecken. Also, nicht völlig allein natürlich, seine Kumpels waren ja ständig dabei und ein Dutzend anderer Leute natürlich auch, aber keine Kira und keine Kira-Tussenfreundinnen.

Ich wusste, das war meine Chance! Und die musste ich nutzen.

Sämtliche Einstiege ins Becken lagen auf der anderen Seite. Doch der kleine Abschnitt, in dem das Strudelbecken war, lag nur ein paar Meter vor mir. Da rannte ich einfach los und sprang.

Das war das erste und letzte Mal, dass ich ein Magic Double Caramel für einen Mann zu opfern bereit war, ehrlich.

In dem Moment, in dem ich sprang, fiel mir ein, dass ich das Eis noch in der Hand hatte. Caro, die meine Showeinlage aus einiger Entfernung beobachtet hatte, berichtete mir später, ich hätte beim Sprung ins Wasser sogar noch schnell daran geschleckt (ich hoffe sehr, sie war einer optischen Täuschung erlegen).

Als ich aus dem Wasser auftauchte, schwamm ich gleich los, das Eis dabei nach oben aus dem Wasser gestreckt.

Eigentlich eine sportliche Leistung, vor allem wenn man bedenkt, dass ich gegen den Strudel schwimmen wollte, weil Ben von dieser Seite viel näher war.

Dann hörte ich ein gellendes Pfeifen. Der Bademeister hockte direkt über mir am Beckenrand. »Beckenrandsprünge verboten! Und was machst du mit dem Eis in der Hand? Sofort raus!«

Das konnte doch nicht wahr sein! Nicht jetzt, wo ich endlich die Chance hatte, Ben zu erobern!

»Bitte nicht … ähm … Herr Bademeister. Wenn Sie ganz kurz mein Eis halten, dann könnte ich schnell da rüberschwimmen und …«

»Bist du noch ganz bei Trost, Fräulein? Sofort raus mit dir!«

Ich warf einen verzweifelten Blick Richtung Ben, zum ersten Mal froh darüber, dass ich für ihn unsichtbar war. Seine Kumpels hatten von der ganzen Aktion auch nichts mitbekommen. Andere Badegäste natürlich schon.

War verdammt peinlich, als ich versuchte, mit Eis in der Hand über den Beckenrand zu klettern, noch dazu mit dem Bauch an einer der Düsen klebend, was nicht nur wehtat, sondern fieserweise auch gleichzeitig kitzelte.

Ich glaube, das nahm mir der Bademeister besonders übel – dass ich auch noch blöd zu lachen anfing.

Irgendwann packte er mein Eis mit der einen, dann mich mit der anderen Hand und zog mich aus dem Wasser. »Gott, bist du schwer«, stöhnte er dabei.

Als ich endlich draußen war, verlangte ich mein Eis zurück und trat möglichst würdevoll meinen Rückzug an.

Das Double Caramel war halb geschmolzen und roch nach Chlor. Ich aß es trotzdem.

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Nach dieser Geschichte würden mich keine zehn Pferde mehr ins Schwimmbad (und damit womöglich in Bens Nähe) bringen. Und nach der Blamage von Freitagabend erst recht nicht.

Warum sagt man das eigentlich so? Warum sind es ausgerechnet zehn Pferde, die einen irgendwo nicht hinbringen? Wenn auch nur eines dieser Monster auf mich zugaloppieren würde, würde ich sofort zur olympiareifen Läuferin werden, die mit Lichtgeschwindigkeit ins Freibad saust.

Denn wenn es etwas gibt, das ich noch schlimmer finde, als mich der Erniedrigung im Schwimmbad zu stellen, dann sind das Pferde. Also ein Pferd reicht eigentlich schon.

18:00 Uhr. Vielleicht haben meine Freundinnen doch recht, und ich sollte mich nach draußen wagen.

Sie waren am Nachmittag eine halbe Stunde hier (also Marie und Caro; Marie-Jolie ist am Samstag mit ihren Eltern nach Kuala Lumpur geflogen) und haben versucht, mich ins Schwimmbad zu zerren. Oder zumindest zum Marktplatz, um ein Eis zu essen.

»Ich kann nicht«, hab ich ihnen gesagt, und als das auch beim zehnten Mal nichts half, habe ich Marie kummervoll angesehen und hinzugefügt: »Ach, wenn das bloß nie passiert wäre …«

Nicht weil ich ihr ein schlechtes Gewissen machen wollte. Also schon, weil ich ihr ein schlechtes Gewissen machen wollte, aber nicht, weil ich sauer auf sie war, sondern weil ich ihre Hilfe brauchte, um mich gegen Caro und das Schwimmbad zu wehren.

Doch Marie fuhr mich lediglich an: »Schon gut, mach mir nur ein schlechtes Gewissen.« Nur um dann enthusiastisch hinzuzufügen: »Heute sind die Jungs vom Kleist-Gymi aus Muckenkirchen da. Du weißt schon, Joe, Claas, Chrissi, Bernd. Dieses Jahr haben sie schon alle Haare auf der Brust und sind so richtig männlich. Arrrrr.« Sie seufzte und schloss dabei schwärmerisch die Augen.

»Haare auf der Brust«, knurrte Caro verächtlich. »Ich finde, die sehen alle aus wie Affen.«

»Apropos Affe«, versuchte ich einen Scherz, um etwas cooler in Bezug auf Ben zu klingen. »Ist, ihr wisst schon, er auch da?« Wooow, das klang ja sehr cool! Und gar nicht verzweifelt.

Natürlich verdrehten beide die Augen. Doch dann waren sie sich nicht mehr so einig. Während Marie energisch den Kopf schüttelte, nickte Caro – was ihr einen Rempler von Marie einbrachte.

»Caro, echt jetzt, musste das sein?«

»Was denn? Soll ich Ali vielleicht anlügen?«

Marie nickte vehement. »Natürlich. In dem Fall schon!«

»Danke, Caro, dass du mir die Wahrheit sagst.«

»Ach komm schon …« Marie rollte wieder mit den Augen.

Ha, jetzt hatte ich sie in der Hand. »Okay, Marie, ich geb dir noch eine Chance, mir die Wahrheit zu sagen. Sag mir ehrlich, war, ähm … du weißt schon was, unsere kleine Einlage am Freitagabend, heute Thema im Schwimmbad oder nicht?«

Maries Augenbrauen hüpften in die Höhe. Ihr Gesichtsausdruck verriet nicht nur, dass sie gerade ganz angestrengt nachdachte, sondern entblößte noch dazu jeden einzelnen ihrer Gedankengänge:

Shit, natürlich war es Thema. Was heißt Thema? Es war das Einzige, über das sämtliche Leute aus unserer Schule heute geredet beziehungsweise gelästert beziehungsweise höhnisch gelacht haben.

Und dieser tragische Freitagabend, der für Ali wirklich total megapeinlich war, das muss ich zugeben, hat sich im Schwimmbad wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Sogar die Jungs vom Kleist-Gymi wussten schon längst Bescheid, als wir kamen.

Aber wenn ich ihr das jetzt sage oder dass ich sogar gehört habe, dass Ben stocksauer auf sie ist – auf »diese Moppelkuh aus der Parallelklasse«, wie er sie schrecklicherweise genannt hat; oh Gott, anscheinend weiß er immer noch nicht ihren Namen –, dann würde ich ihr letztendlich, also auf den Rest ihres Lebens bezogen, was Gutes damit tun.

Allerdings würde es ihr im ersten Moment so sehr zusetzen, dass sie den Rest ihres Lebens womöglich gar nicht mehr erleben würde, weil sie sich auf der Stelle suizidieren würde.

Was mach ich nur?

Schneller Blick zu Caro, die mich mitleidslos ansieht.

Verdammt, ist sie wirklich die bessere Freundin, nur weil sie die schonungslose Wahrheit ausspricht? Ist mein Versuch, Ali glücklich zu machen, wenn auch unter Zuhilfenahme ein paar kleiner Schwindeleien, nicht ein viel größerer Freundschaftsbeweis, weil es doch zeigt, dass mir nichts so sehr am Herzen liegt wie ihr Wohlbefinden?

Okay, das reichte mir. Ich hatte genug in Maries Gesichtsausdruck gelesen.

»Vergiss es«, sagte ich. »Ich weiß eh Bescheid.«

Marie sah mich verdutzt an. Ach bitte. Dachte sie wirklich, dass ich sooo schlecht im Lesen ihrer Gedanken bin?

00:15 Uhr. Heureka!

Was auch immer das genau heißen mag und woher auch immer dieser Ausruf kommt – heureka!

Die Lösung für meine Probleme ist vor einer halben Stunde in Form eines verzweifelten Anrufs einer gewissen Tante Ida, die ich bisher nur vom Hörensagen kenne, gekommen.

Nachdem sie meine Mutter aus dem Schlaf gerissen hatte, begrüßte Tante Ida sie mit den Worten: »Claudia, du hast doch eine Tochter, die jetzt ungefähr 16 oder 17 sein müsste. Hoffentlich hab ich das richtig in Erinnerung und sie ist nicht schon viel älter und lebt gar nicht mehr bei euch, hat längst einen Job und – na jedenfalls, Geld für einen Urlaub habt ihr keins, wie ich von mehreren Seiten gehört habe und vielleicht will deine Kleine ja auch bald ihren Führerschein machen, da dachte ich mir, sie kann einen Sommerjob bestimmt gut gebrauchen. Oje, sie hat doch noch keinen Job, oder?«

Mama echauffierte sich bei Papa darüber, wie respektlos ihre Tante mit ihr geredet hatte, und wiederholte ständig ihr einseitiges Gespräch.

Mir wurde diese Tante Ida dabei immer sympathischer. Es gibt nur wenige Menschen, die meine Mutter aus der Fassung bringen können.

Jetzt bin ich ganz aufgeregt. Tante Ida – die eigentlich meine Großtante ist, aber als Nachzüglerin in ihre Familie hineingeboren wurde und darum nur ein paar Jahre älter ist als meine Eltern –, ach, egal, auf jeden Fall gehören ihr in Disneytown, das im Schwarzwald liegt, die Indiana-Jones-Achterbahn, das Lightning-McQueen-Autodrom (auf gut Deutsch: Autoskooter), Woodys Wurfbude, die Fluch-der-Karibik-Geisterbahn und – brrrrrrwääähhh – das Disney-Pony-Paradise alias Horseland (da setze ich keinen Fuß rein, das werde ich von vornherein klarstellen!).

Und gestern ist Tante Ida einer ihrer Angestellten abhandengekommen, weil er vor zwei Wochen das erste Mal nach 40 Jahren seine Sandkastenliebe wiedergetroffen hat!

Besagte Sandkastenliebe fuhr mit ihren beiden Neffen in der Geisterbahn und hat die Tickets bei ihm gekauft. Nachdem sie so lange aufeinander gewartet hatten, wollten sie keine Zeit mehr vergeuden und haben gestern noch geheiratet und er hat gleich darauf gekündigt, um erstens mit seiner Braut in die Flitterwochen zu fahren und anschließend zu ihr nach Berlin zu ziehen.

Wahnsinnig stressig für Tante Ida, wahnsinnig ideal für mich.

Ich wurde für die nächsten vier Wochen eingestellt, bekomme dort ein richtiges Gehalt und – das ist das Beste – ich wohne dort bei Tante Ida, drei Autostunden entfernt von hier. Das heißt, ich kann den Sommer doch noch outdoor verbringen, laufe aber nicht Gefahr, irgendjemandem von hier zu begegnen. Wahnsinnig ideal und wahnsinnig genial.

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Mein erster richtiger Job. Und dann so was! In einem Ferienparadies. Ich verdiene Geld und mache gleichzeitig Urlaub, perfekter geht es gar nicht. Ich liebe diese Tante Ida. Bin sehr gespannt auf sie. Aber ich habe ein gutes Gefühl, denn meine Mutter ist alles andere als begeistert von ihr. Sie findet sie zu verantwortungslos für ihr Alter und zu schrill und überhaupt alles, was für mich eigentlich ganz gemütlich klingt.

Zum Glück hat Mama trotz ihrer Vorbehalte gegenüber ihrer Tante zugestimmt, dass ich die Ferien in Disneytown verbringe. Ich glaube, sie hat sich wirklich Sorgen gemacht, dass ich nach einem Sommer zu Hause, ohne menschliche Kontakte, zum Grufti oder Emo mutiere und dann mein weiteres Leben mit weiß geschminktem Gesicht und schwarzen Lippen herumlaufe. Vielleicht mach ich mir den Spaß und komme im Emo-Look von meinem Sommerjob zurück, nur um sie ein bisschen zu ärgern.

Bin sooo happy. Endlich ein Lichtblick nach diesen trüben Tagen. Oh, oh, das Pathos kehrt zurück … Ach was, nein, bin einfach nur überglücklich! Image

Dienstag, 1. August

Status: Bereit für neue Abenteuer und endlich wieder happy!

8:30 Uhr. Aufgeregt. Sehr sogar.

Die erste Nacht seit Freitag, in der ich aus einem anderen Grund wach gelegen habe, als mich zu schämen und hunderttausendmal in Gedanken jene fünf Minuten durchzuspielen, die mich mein weiteres gesellschaftliches Leben plus alle Chancen auf eine erfüllte Liebe mit Ben gekostet haben; die erste Nacht seit Freitag, in der ich nicht unzählige (sondern nur circa 15) Dialoge mit einem imaginären Ben durchgegangen bin, an deren Anfang ich mich bei ihm entschuldige und die stets damit enden, dass er erkennt, was für eine faszinierende Persönlichkeit ich bin und wie wunderbar es ist, endlich einmal einen weiblichen Körper zu umarmen nach all den Hungerhaken, deren rausstehende Rippen ihm keinen Genuss mehr, sondern nur noch blaue Flecken beschert haben.

Ich habe sechs Stunden Zeit, um mein Zeug für die nächsten vier Wochen zu packen. Um halb drei wird mich Papa zu Tante Ida nach Disneytown fahren. Sehr, sehr aufgeregt.

Habe plötzlich das Gefühl, dass diese Sache meinem Leben einen Wendepunkt geben könnte. Vier Wochen weg von den Eltern. Leben wie eine Erwachsene. Arbeiten (auch wenn es nach Urlaub klingt und sicher einer werden wird, hihi Image).

Und dann werde ich zurückkehren als reife, unerschütterliche Frau, sonnengebräunt vom vielen Aufenthalt im Freien, verantwortungsvoll, wahrscheinlich sogar durchtrainiert, weil ich mich sicher viel bewegen muss in dem Job. Ich meine, die Leute in die Geisterbahn setzen, die Dosen in der Wurfbude aufstellen … hmm, irgendwie klingt das plötzlich doch nach Arbeit. Aber egal. Je mehr Arbeit, desto erwachsener, gefestigter und toller werde ich zurückkommen. Ben wird die neue Ali lieben!

13:20 Uhr. Marie war die letzten paar Stunden bei mir – vorweislich, um mir beim Packen zu helfen, in Wahrheit aber, um auf mich einzureden, diese »saublöde Idee mit dem Disneyscheiß« zu lassen und stattdessen einen herrlichen Sommer mit ihr im Freibad zu genießen.

Grrrr, Freibad. Wenn ich dieses Wort schon höre!

Am Schluss versuchte sie es auf die ganz harte Tour. In herausforderndem Tonfall sagte sie: »Gut, du fliehst jetzt vor den ganzen Begegnungen, aber weißt du was? Irgendwann musst du da trotzdem durch! Spätestens im September, wenn die Schule wieder losgeht. Wenn du das aber jetzt schon hinter dich bringst, wirst du einen ganz relaxten Schulanfang haben und wahnsinnig froh sein, dass du so klug warst, dich den Leuten gleich zu stellen. Abgesehen davon, dass es gar nicht so schlimm ist, wie du es dir vorstellst«, schob sie schnell hinterher.

»Wenn du es allerdings wochenlang aufschiebst, dann summieren sich die Auswirkungen der Angelegenheit womöglich. Vielleicht multiplizieren sie sich sogar …«

Das ist mir momentan so was von scheißegal. Und wenn sich die ganze Angelegenheit potenziert! Hauptsache, ich muss mich nicht jetzt damit auseinandersetzen.

Außerdem – aber das würde ich Marie natürlich nicht sagen – wünsche ich mir nicht nur, durch meinen Sommerjob und die vier Wochen ohne meine Eltern reifer hierher zurückzukehren, sondern habe irgendwie auch die leise Hoffnung, dass ich während der Zeit in Disneytown einem Jungen begegne, der mich auf andere Gedanken bringt und der mich am Ende natürlich auch erhört, sodass ich Ben aus meinem Kopf bekomme und es mir völlig egal sein wird, was er über mich denkt.

Auch die Meinung meiner Mitschüler – und die der anderen Leute aus unserem Kaff – wird mir dann hoffentlich egal sein. Ich werde hoch erhobenen Hauptes zurückkehren. Eine ganz neue Ali.

Und nachdem ich Ben dann so wahnsinnig gelassen und gleichgültig entgegentrete, wird sein Interesse plötzlich derart entflammen, dass er gar nicht mehr anders kann, als mich anzuflehen, mit ihm auszugehen. Typen wollen doch immer das, was sie nicht haben können, oder? Zumindest ist es bei Frauen so, dass sie immer das haben wollen, was sie nicht haben können. Na gut, ich will oft das haben, was ich nicht haben kann. Aber warum sollte das bei Jungs anders sein? Bin da sehr zuversichtlich in der Hinsicht!

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Ich werde mich ein wenig zieren. Schließlich habe ich ja diesen »Freund«, doch natürlich habe ich es mit dem nicht ganz ernst werden lassen, denn ich habe ja immer noch Ben im Kopf gehabt … ach so, nein, ich habe Ben nicht mehr im Kopf gehabt, es mit dem anderen Jungen aber trotzdem nicht so ernst werden lassen, weil ich so wahnsinnig vernünftig bin und weiß, dass Fernbeziehungen (immerhin drei Stunden mit dem Auto, was ohne Führerschein schon eine ganz schöne Barriere darstellt) nie gut gehen. Natürlich gebe ich dann irgendwann nach und werde Ben erhören.

Na ja, also wie gesagt, aus welchem Grund auch immer (vielleicht weil sie mich dann für bescheuert halten könnte) erzählte ich Marie nichts von dieser Theorie.

Mann, was spinne ich da eigentlich schon wieder zusammen? Das alles ist natürlich völliger Blödsinn, schließlich habe ich ja ernsthaft damit spekuliert, Nonne zu werden, damit ich nie wieder einem Jungen begegnen muss!

Okay, ich fahre meine Erwartungen für die Zeit in Disneytown dann doch besser wieder etwas zurück: Ich hoffe – und das konnte ich Marie dann auch anvertrauen –, dass ich durch die Arbeit im neuen Umfeld, konfrontiert mit neuen Menschen, lerne, mich von solchen Wesen wie Jungs und so Angelegenheiten wie Fettnäpfchen nicht mehr tangieren zu lassen, weil sich mein Blick geweitet hat.