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VERSÖHNE DEIN HERZ

Was mich das viel zu kurze Leben
meines Sohnes lehrte

EMILY RAPP

Aus dem Amerikanischen von Ina Pfitzner

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Für Ronan, auf immer und ewig

»Ich liebe das Stückchen Erde, das du bist.«
Pablo Neruda, 100 Liebessonette, »Sonett XVI«

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Dies ist eine Liebesgeschichte und wie alle großen Liebesgeschichten nimmt sie ein tragisches Ende. Am zehnten Januar 2011 erhielten mein Mann Rick und ich die schlimmste Nachricht unseres Lebens: Unser Sohn Ronan, damals neun Monate alt, litt am Tay-Sachs-Syndrom, einer seltenen, fortschreitenden Erbkrankheit, die unheilbar ist und unweigerlich zum Tod führt.

Schon seit einer Weile hatte ich mir Sorgen gemacht. Ronans Entwicklung war verzögert; er hatte ein paar wichtige motorische Meilensteine noch nicht erreicht. Jeden Tag eilte ich von der Arbeit nach Hause in der Hoffnung, dass er vielleicht zu krabbeln angefangen oder sein erstes Wort gesagt hatte. Immer war er dasselbe liebe, zufriedene, glucksende Baby – doch eben das war das Problem: Mit neun Monaten war Ronan genau wie mit sechs Monaten. Der Kinderarzt riet uns, Ronans Augen untersuchen zu lassen. Also fuhren wir von Santa Fe, wo wir wohnen, nach Albuquerque zu einem Augenspezialisten für Kinder.

Ich saß mit Ronan auf dem Untersuchungsstuhl. Der Augenarzt, ein freundlicher kleiner Mann mit schwarzer Brille, spielte Ronan auf dem iPhone Trickfilme vor und leuchtete ihm mit verschiedenen Lampen in die Augen. »Er hat eine gute Fixation«, sagte er. Ronan wand sich auf meinem Schoß. Prima, dachte ich, er kann also sehen. Doch hinter der Erleichterung stieg Panik in mir auf – warum dann diese Verzögerungen? Ich gab Rick den Kleinen und setzte mich auf einen Stuhl daneben.

»Ich sehe mir noch kurz die Netzhaut an«, sagte der Arzt und machte das Licht aus. In der Dunkelheit leuchteten erst Ronans kleine Augen auf, dann Ricks. Behutsam trat der Arzt an Ronan heran und schaute ihm mit einer speziellen Lampe in die Augen.

»Oh je«, sagte er. »Oh je« hatte mein Vater gesagt, als meine Eltern von meiner angeborenen Fehlbildung erfahren hatten, wegen der mir das linke Bein amputiert werden musste. Ich klammerte mich an meinem Stuhl fest und spürte, wie sich der Boden unter mir auftat. Der Arzt knipste das Licht an und sagte: »So etwas habe ich erst einmal gesehen.«

»Was denn?«, fragte ich, aber in seinem Gesicht las ich, dass es etwas Schreckliches war.

»Hey, kleiner Mann«, sagte Rick und drehte Ronan zu sich herum.

»Rick«, sagte ich. Meine Hände waren schweißnass und zitterten. »Rick!«

»Er hat kirschrote Flecken auf der Makula«, sagte der Arzt. »In 15 Jahren Praxis habe ich das erst einmal gesehen. Es ist Tay-Sachs.« Er zögerte. »Es tut mir leid.«

»Und was ist das?«, fragte Rick ruhig und wandte sich dann zu mir. Ich hatte aufgeheult und mir in die Hose gemacht. Der Arzt ließ eine Schwester kommen.

»Ich hab mich testen lassen!«, schrie ich. »Ich hab doch den Test gemacht.« Ich wusste noch genau, wie der Arzt gefragt hatte: »Sind Sie jüdisch?« Ich hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ich will mich trotzdem auf Tay-Sachs testen lassen.« Oder etwa nicht? Hatte ich mir spontan eine Erinnerung zugelegt, um den Schrecken ein wenig zu mildern?

»Ich weiß nicht«, sagte der Arzt zaghaft, als würde er gleich anfangen zu weinen. Ich starrte ihn an. »Ich hab doch den Test gemacht, oder?«, fragte ich mit dünner Stimme, aber natürlich hatte er keine Ahnung. Er war der Augenarzt, den wir gerade erst kennengelernt hatten, nicht der Arzt, bei dem ich mich hatte testen lassen. Er schüttelte den Kopf und räusperte sich. Später erfuhr ich, dass der pränatale Standardtest für Tay-Sachs nur die neun häufigsten Mutationen abdeckt – die eben bei aschkenasischen Juden auftreten –, dabei gibt es über hundert bekannte Mutationen. Ich hätte einen kombinierten Gen- und Enzymtest oder eine DNA-Sequenzierung verlangen müssen, doch das wusste ich nicht. Damals hieß es, die Wahrscheinlichkeit, dass ich Anlageträgerin sei, sei »astronomisch gering« und überhaupt müssten beide Eltern die Anlage haben, damit das Kind Tay-Sachs bekommt. Rick ist Jude, aber irgendwie hatten wir es für ausreichend gehalten, wenn sich einer von uns beiden testen ließ.

»Meine Mom, meine Mom«, sagte ich zu Rick, umklammerte seinen Arm und nahm ihm Ronan ab. Ich hielt meinen Sohn, streichelte ihm mit flatternden Händen über den Kopf, die Arme, die strammen Beinchen. »Kleiner Mann, kleiner Mann«, sagte ich und er strampelte und gluckste. Am liebsten hätte ich ihn verschlungen, ihn mir wieder einverleibt, in Sicherheit gebracht, doch auch in meinem Körper war er nicht in Sicherheit gewesen, nicht einmal dort. »Wo ist meine Mutter?«, schrie ich. »Ich muss meine Mutter anrufen. Wo ist das Telefon? Gib mir das Telefon.«

»Und was kann man da machen?«, fragte Rick. Er kramte in der Windeltasche nach dem Handy und schaute zwischen mir und Ronan und dem Arzt hin und her, doch ich wusste, dass man bei Tay-Sachs nichts machen kann und dass mein Leben, mein Leben als junge, hoffnungsvolle Mutter, damit zu Ende war.

Der Arzt sah uns beide an. »Nein, es tut mir sehr leid«, sagte er. »Man kann da nichts machen.«

»Sie sterben«, stammelte ich. Mir war, als löste sich mir die Haut von den Knochen. Ich drückte Ronan fester an mich. »Sie. Sterben.« Mir war übel und Ronan machte meine Umklammerung Angst. Ich lockerte meinen Griff.

»Was?«, sagte Rick. »Man kann doch bestimmt …«

»Sie sterben«, erklärte ich mit sich überschlagender Stimme und jetzt verstand Rick, dass ich Ronan meinte, dass Ronan – unser Sohn, unser Baby, unser Kind – sterben würde. Die Welt brach zusammen und wir drei – Ronan, Rick und ich – verschwanden in ihrem Schlund.

Die Schädigung der Nerven beginnt im Mutterleib und schreitet schnell voran. Es folgen Demenz, verminderte Interaktion mit der Umwelt, Krampfanfälle, Spastik und schließlich Tod. Lähmung, Erblindung, Taubheit, Abbau aller motorischen Fähigkeiten. Der Arzt zeigte uns ein laminiertes Foto mit einer normalen Netzhaut und dann eins mit roten Punkten auf der erkrankten Netzhaut, zerstörte Augen. Ein anderer Arzt kam herein und überprüfte stoisch Ronans Augen, um die Diagnose zu bestätigen. »Ja«, meinte er, »ich würde auch sagen, es ist Tay-Sachs«, und ging schnell aus dem Sprechzimmer.

Während ich mir Ronans Prognose anhörte, musste ich aus irgendeinem Grund an einen Jungen namens Ronan denken, den ich an einem warmen Regentag 1994 am Trinity College in Dublin kennengelernt hatte. Damals hatte ich beschlossen, mein Kind später Ronan zu nennen. Ich erinnerte mich an seine weiche, warme Hand in meiner und wie ihm die blonden Locken bis knapp an die Augenbrauen reichten. Jahrelang hatte ich wie ein liebeskranker Teenager »Ronan« überall hingekritzelt, immer und immer wieder, hatte die runden Buchstaben gemalt, wie man einen Zauberstein befingert. Und dann schien Emily Dickinsons Geist mir diese Zeilen ins Ohr zu flüstern: Ich spürte einen Spalt im Geist –/Als wär mein Hirn zerrissen –/Ich suchte Saum an Saum zu legen –/Doch wollten sie nicht passen –. Die Situation passte einfach nicht; sie war falsch. Mein Hirn war außer Betrieb; mein Herz stand still. Warum war ich überhaupt noch am Leben, hier in diesem Raum, mit diesem Wissen? Es war grotesk und absurd und konnte einfach nicht sein.

Als man uns Ronans Diagnose – sein Todesurteil – überbrachte, schien sich meine Welt aufzulösen, in unzählige Stücke zu zerfallen. Die Wände des Sprechzimmers schimmerten jetzt violett statt beige, zerschmolzen, zogen sich zusammen. Die Schwestern gingen wie Gespenster mit Pappbechern voll Wasser im Zimmer ein und aus und reichten auf der Handfläche kleine weißrosa Rettungsboote an Beruhigungsmitteln dar, die Erleichterung und Vergessen bringen sollten. Sie wollten uns nicht anstarren und starrten trotzdem, sie flüsterten: Nehmen Sie das! Es wird Sie beruhigen. Meine Stimme: nicht meine. Die Stühle in einem schrecklich verwirrenden Blau waren durch den Raum gewandert. Ich stand auf meinem Herzen, das gleichzeitig in meiner Nase schlug. Endlich hatte ich meine Mutter erreicht und brüllte ins Telefon, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen. Mir brannten die Haare, doch das Gesicht blieb kalt. Meine Zähne hatte ich verschluckt. Wie, man kann nichts machen? Das kann doch gar nicht sein! Man muss doch irgendwas machen können, sagte Rick. Wir mussten handeln, hätte man meinen können, aber Handeln war sinnlos.

Doch in meinem zersprungenen Hirn bastelte ich schon an einem Deal. Ich mach, was du willst, wenn du machst, dass Ronan kein Tay-Sachs mehr hat. Ich stech jemandem ein Messer ins Herz, ich bring ihn um, du brauchst es bloß zu sagen. Jesus, Zeus, Gott, G-tt, Allah, egal wer. Natürlich war es zwecklos, mit einer höheren Macht zu feilschen, an die ich schon lange nicht mehr glaubte. Zu meinem eigenen Entsetzen betete ich wie als Kind in der Kirche, wie als Studentin am Theologischen Seminar. Ich war so fassungslos, so außer mir, so absolut gefangen in meinem Wahn, dass ich einen Moment lang tatsächlich meinte, es könnte funktionieren.

»Wenn wir irgendwie helfen können«, sagte der Arzt mit bemüht fester Stimme, »sagen Sie einfach Bescheid.« Doch was konnte er – was konnten wir – tun? Nichts. Er gab uns noch jede Menge Informationen – Namen von Ärzten, Spezialisten, Genetikern – und Rick und ich hielten uns in dem überheizten, schlecht beleuchteten Raum auf unbequemen Stühlen aneinander fest und sagten immer wieder den Vornamen des anderen.

Mit Ronan im Autositz zwischen uns taumelten wir schließlich aus dem Sprechzimmer und den hell ausgeleuchteten Gang entlang, als tasteten wir uns durch einen dunklen Tunnel.

»Warum ist es hier nass?«, fragte ich Rick. Ronan gluckste und rülpste in seinem Autositz.

»Es ist nicht nass«, sagte Rick. »Das ist die Auslegware.«

»Pass auf, dass du nicht ausrutschst«, sagte ich. »Halt das Baby fest!«

»Ich hab ihn. Ich komme klar. Wirklich.«

»Alles Gute«, sagten die Schwestern mit zittriger Stimme, als wir an ihrem Tresen vorbeiliefen.

Als ich bei der Heimfahrt mein Kind auf der Rückbank festhielt, das in seinem Sitz vor sich hin kicherte und nichts von seiner furchtbaren Zukunft ahnte, dachte ich: Ich kann nicht glauben, dass mir das passiert. Ich will nicht, dass mir das passiert.

Herzschlagendes Entsetzen, zerreißende Euphorie des Nicht-wahrhabenwollens. In meiner Brust war es heiß, flüssig und laut vor Angst. Ich glühte, fühlte mich zerquetscht. Ich hab ganz sicher den Tay-Sachs-Test gemacht, sagte ich mir. Es ist ein Irrtum; was sonst? Die Autos auf der Straße waren in etwa so real wie die bei den Jetsons. Meine Eltern waren schon von Cheyenne, Wyoming, nach Santa Fe unterwegs, sieben Stunden Autofahrt. Alle zehn Minuten rief ich sie an und als sie ankamen, fiel ich meiner Mutter schluchzend in die Arme, trotz der Beruhigungsmittel zuckend und krampfend, aus der Zeit gefallen, fiebrig vor Panik und Angst. »Schwarz«, wiederholte ich immer wieder und spürte, wie es sich über mich herabsenkte. Ich legte mir die Hände über den Kopf, als würde mich das schützen. Ich rief meine engsten Freundinnen an und schrie und weinte ins Telefon. Ich bin hier, sagten sie. Ich lass das Telefon an, ich buch einen Flug, sag mir, was ich machen soll.

Ich konnte nichts essen, nichts denken und wenn ich mich bewegte, dann um im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich warf einen Stuhl gegen die Wand und trat mit dem nackten Fuß dagegen. Ich kniete mich auf den Fußboden und schlug mit dem Kopf gegen das Holz, bis Rick mich hochzog und ich den Kopf stattdessen gegen die Wand schlug. Rick und ich saßen bei Matt, dem Institutsleiter an der Kunsthochschule, an der ich Schreiben und Literatur unterrichte, aber ich erinnere mich kaum an das Gespräch, nur dass Rick ihm erklärte, warum ich meine Seminare für die nächste Zeit absagen musste. Ich hielt die Tränen zurück und dachte an Freunde, die Eltern und Kinder verloren hatten, und wieder einmal bat ich Rick um sein Handy. Ich muss sie anrufen, flehte ich und fummelte an seiner Jacke herum. Ich muss ihnen sagen, dass ich sie jetzt in ihrem Wesen verstehe, dass ich sie jetzt kenne. Und dann, irgendwann, schlief ich endlich ein.

Ronans Diagnose sprach sich herum und unser Haus auf der Sol y Luz Street in Santa Fe, der »Straße der Sonne und des Lichts«, wurde ein eigener kleiner Planet der Betriebsamkeit. Proviantkörbe wurden an die Tür geliefert, Anrufe kamen von überallher. Meine Freundin Emily in London buchte ein Ticket für ein paar Tage später. Ein nicht abreißender Strom von E-Mails ging ein und ich checkte sie zwanghaft, als ob ich mich der Realität entziehen könnte, indem ich wie ein ganz normaler Mensch E-Mails beantwortete. Ich aß ein paar Bissen von den Plunderecken, die mir meine Freunde Lisa und David aus Los Angeles geschickt hatten; stündlich rief meine Freundin Tara aus Phoenix an.

Mit Ronan im Tragegurt machte ich einen Spaziergang und weinte hinter meiner Filmstarsonnenbrille. Ich klagte nicht mehr laut, nur nachts weinte ich mich in ein tiefes Loch, in dem ich unruhig schlief, und beim Aufwachen war mir dann, als hätte ich in einem kalten, schmalen Graben neben einer verlassenen Straße übernachtet. Jeden Morgen strahlte der Himmel höhnisch blau, die Bäume an dem Wanderweg bei unserem Haus noch kahl, alles braun. Die Welt blau-braun und doch schwarz, wie ein Bluterguss. Wir fühlten uns wie durchgeprügelt, klein. Die Welt hatte eine wilde, schreckliche neue Klarheit. Ich dachte an diese Zeilen aus Sylvia Plaths Gedicht »Ulme«: Nun breche ich in Stücke, die fliegen umher wie Keulen./Ein Wind von solcher Gewalt/Wird kein Danebenstehn dulden: ich muss kreischen. In einer Endlosschleife wiederholten sich die Verse in meinem Kopf, wie ein Mantra, wie eine Warnung von einer zukünftigen Version meiner selbst.

Meine Freundin Weber in Boston stieß im Internet auf die National Tay-Sachs and Allied Diseases Association (Nationale Vereinigung für Tay-Sachs und ähnliche Krankheiten) und meldete uns an. Dann bekam ich Anrufe von unbekannten Telefonnummern und Vorwahlen: Mütter aus Florida, New York, New Jersey, Kalifornien. Unter der Bettdecke verschanzt, schwitzend, meinen Sohn im Arm, redete ich mit ihnen, manchmal stundenlang. Sie erzählten mir, was genau Ronans Pflege beinhalten würde: Kopfstützen, Badesitze, Antiepileptika, Absauggeräte. Ich klammerte mich an die Beschreibung einer Mutter, dass Tay-Sachs wie ein »allmähliches Verblassen« sei und Ronan keine Schmerzen haben würde. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich eine so einschneidende Erfahrung – die schlimmste überhaupt – mit wildfremden Menschen zu teilen. Ich war dankbar, dass die üblichen Formalitäten hier unnötig waren. Stattdessen hieß es was willst du wissen und du bist nicht allein und ja, es besteht Hoffnung für zukünftige Kinder und etwas Schlimmeres wirst du nie durchmachen und du wirst es zwar überstehen, aber dich nie ganz davon erholen und ruf jederzeit an und frag mich, was du willst, und ich sag dir die Wahrheit und ich bin hier. Keine Plattheiten (»Was dich nicht umbringt, macht dich stärker!«), keine nervig-schmalzigen, pseudochristlichen Phrasen wie »Wenn Gott eine Tür schließt, öffnet er ein Fenster«.

Weber fragte vorsichtig an, ob ich darüber schreiben wollte. »Äh … ich weiß nicht … vielleicht«, druckste ich. »Ich richte dir ein Blog ein«, sagte sie, »dann kannst du immer noch entscheiden.« Damals dachte ich mir nichts weiter dabei. Ich redete mit den anderen Müttern, ich nahm Xanax, ich schluchzte und zerbiss mir die Lippen, die Bettwäsche, die Hände. Und irgendwann stand ich auf und fing zu meiner großen Überraschung an zu schreiben.

Liebe Leserin, lieber Leser,

als Tochter eines evangelischen Pfarrers deutscher Abstammung wuchs ich sehr unter dem Einfluss der deutschen Kultur auf. Es macht mich stolz, in geringem Maße zur literarischen Tradition Deutschlands zu gehören, von der wegweisenden und originellen Philosophie Hegels bis zu Thomas Manns Meisterwerk Der Zauberberg. Es freut mich sehr, dass Versöhne Dein Herz in Deutschland veröffentlicht wird und dass ich Ihnen Ronans Geschichte nahebringen kann.

Emily Rapp

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»Du spürst deine Verpflichtungen gegenüber einem Kind, wenn du es gesehen und im Arm gehalten hast. Jedes menschliche Antlitz ist ein an dich gerichteter Anspruch, du kannst nicht anders, du musst die Einzigartigkeit, den Mut und die Einsamkeit dessen anerkennen. Und nie trifft dies stärker zu als beim Antlitz eines Kindes. Ich betrachte dies als eine Art Vision, die so mystisch ist wie jede andere.«

Marilynne Robinson, Gilead

Was konnte ich jetzt, nach Ronans Diagnose, über meinen Sohn, über mein Muttersein schreiben? Was hatte ich in diesen wenigen Tagen von den anderen Müttern, die Kinder mit Tay-Sachs oder ähnlichen Krankheiten hatten, gelernt? Wie erzieht man ein Kind ohne Zukunft, wenn man weiß, dass man das Kind immer ein bitteres Bisschen mehr verliert? War das überhaupt Erziehung oder war es etwas anderes? Und wenn ja, was? Ich setzte mich an den Schreibtisch, wütend, dass es so wenige Informationen und Hilfsangebote für Eltern wie uns gibt. Eltern, deren größte Sorge nicht etwa ist, ob ihre Kinder in Harvard angenommen werden oder Preise für ihr Klaviervorspiel bekommen, und auch nicht, ob sie produktiv und liebenswürdig oder gut in der Schule sind, sondern wie sie es Tag für Tag bewerkstelligen sollen, das kurze Leben ihres Kindes so erfüllt wie möglich zu gestalten, zwei, drei, maximal sechs Jahre lang, je nachdem, wie schnell die Erkrankung fortschreitet und wie stark medizinisch eingegriffen wird. Was soll ich jetzt lesen?, fragte ich mich, als ich all die Erziehungsratgeber und Babybücher und Entwicklungstabellen in den Müll warf. Die Erziehungsstrategie von Eltern mit todkranken Kindern orientiert sich an der schrecklichen Realität, dass wir unsere Kinder nicht in eine strahlende und verheißungsvolle Zukunft entlassen, sondern in ein frühes Grab. Die Ziele, die wir für unsere Kinder haben, sind einfach und furchtbar und ganz und gar am Alltag ausgerichtet: Würde und maximale Beschwerdefreiheit.

Es war absolut deprimierend. Die Mütter, mit denen ich telefonierte, sprachen ganz offen über die Schrecken, die mir bevorstanden. Doch ich sollte lernen, dass es auch eine gewisse Weisheit mit sich brachte, Ronans Mutter zu sein, ein besonderes Wissen – so erzwungen und unwillkommen es auch war – um die menschliche Erfahrung, zu der die Realität des Todes dazugehört, auch wenn sie in den meisten Erziehungsratgebern und -webseiten nicht auftaucht. Eltern von sterbenden Kindern lernen aus eigenem schweren Erleben, durch das Prisma von höllischer Trauer und Hilflosigkeit und inniger, zugewandter Liebe, was Kindererziehung bedeutet. Diese Frauen hatten nicht nur gelernt, Mutter zu sein. Sie hatten auch gelernt, Mensch zu sein.

Doch Kindererziehung um ihrer selbst willen, der tiefen Menschlichkeit des Aktes an sich, widersprach allem, was in den vielen Zeitschriften stand, die ich als Schwangere und dann als frisch gebackene Mutter verschlungen hatte. Aus der grundlegenden Aufgabe der Kindererziehung »Tu, was du kannst, damit dein Kind am Leben bleibt«, bis ins 19. Jahrhundert wichtigstes Ziel aller Eltern, war diese Herausforderung geworden: »Gib deinem Kind von Anfang an das Rüstzeug (hier ist es und diese Studien hier beweisen, dass die teuren Kinderwagen, Spezialfläschchen, die Kleidung aus Biobaumwolle, die Nachhilfelehrer, beliebten Programme und so weiter die besten sind), damit es in die beste Vorschule, Schule, Highschool, Universität kommt, was dann wiederum den besten Partner, Lebenslauf, Job, Sparvertrag, das beste Leben garantiert.« Diese enormen Anstrengungen basieren auf der unausgesprochenen – und falschen – Annahme, das Schicksal eines Kindes läge ganz in der Hand der Eltern. Mütter und Väter im viktorianischen London hatten da ganz andere Sorgen: simple Dinge wie Sauberkeit und dass sich die Kinder auf den schmutzigen, von Menschen wimmelnden Straßen nicht mit gefährlichen Krankheiten ansteckten. Für viele Eltern in vielen Teilen der Welt sind das auch heute noch sehr reale Probleme.

Erziehungsratschläge sind, das liegt in der Natur der Sache, zukunftsorientiert. Also mied ich die Elternzeitschriften beim Kinderarzt mit ihren Artikeln über die Stimulierung der Sinneswahrnehmung und der sprachlichen Entwicklung des Kindes; über den Umgang mit Schreibabys; die Regeln für Spielverabredungen; von dieser oder jener Promi-Mutter beworbene Konfektionslinien.

Zukunft, Zukunft, Zukunft. Kurz bevor ich anfing, Elternzeitschriften zu boykottieren, stieß ich in einer davon auf diesen »Persönlichkeitstest« für Leute meines Alters, mit meinem Bildungsniveau und in meiner »Lebensphase«:

Was ist heutzutage für Eltern die größte Herausforderung?


~ Internet- und Handygebrauch überwachen

~ Freunde der Kinder mit einem laxeren Elternhaus

~ Den Kindern helfen, mit den vielen Tests und dem Druck in der Schule fertigzuwerden

~ Kinder werden heutzutage zu früh erwachsen!

Und hier einige mögliche Optionen für Eltern eines Kindes mit Tay-Sachs oder einer anderen unheilbaren Krankheit:


~ Beim Aufwachen am Morgen die nächste Phase der Krankheit fürchten (Lähmung, Erblindung, Taubheit, Spastik, Krampfanfälle, Tod)

~ Erkennen, wer deine wahren Freunde sind und wie unangenehm den Leuten Krankheit ist

~ KRANKENVERSICHERUNG

~ Kinder mit Tay-Sachs werden nie erwachsen!

Allerdings war mein Alltag mit Ronan in den Monaten nach der Diagnose, nachdem der erste Schock gewichen war, sehr friedlich. Ein normaler Tag bestand aus Schmusen, Füttern, Nickerchen; Ronan hatte Wassertherapie und Akupunktur und wenn er schlief, arbeitete ich. Abends gab es sein Babyessen (Erbsen!), Baden-Flasche-Bett und dann Abendessen für die Erwachsenen (aus dem Schnellimbiss). Gar nicht so untypisch für eine Familie, die den Spagat zwischen einem vollen Terminkalender und dem typischen Babytag probiert. Wir wollten das Beste für unser Kind, gaben ihm frische Lebensmittel zu essen, putzten ihm die Zähne, achteten darauf, dass es sauber und warm angezogen und gut ausgeruht war und … gesund?

Das nicht. Der furchtbare Haken an dieser Heimidylle einer privilegierten Mittelklassefamilie war nämlich der: Wie sehr Rick und ich uns auch bemühten – Ronan würde nur für den Moment etwas davon haben. Wir sagten ihm, dass wir ihn lieb hatten, auch wenn er die Worte nicht verstand. Ich ermunterte ihn zu tun, was er konnte, obwohl er kein Ego und keinen Ehrgeiz hatte. Babys sind keine Investitionen, die Zinsen abwerfen, sie sind keine Aktien oder Wertpapiere oder diversifizierten Portfolios, die man »in diesen Krisenzeiten« neu ordnen müsste. Sie sind Menschen und wie alle Menschen können und werden sie irgendwann sterben.

Früher hatte ich das anders gesehen. Während der Schwangerschaft und in Ronans ersten neun Lebensmonaten hatte ich mir ehrgeizige Ziele gesteckt, die, so hoffte ich, seine Entwicklung entscheidend voranbringen würden: Ich wollte verschiedene Sprachen mit ihm sprechen (Sprachentwicklung); ihn in den Arm nehmen, wenn er weinte (Bindung ist im ersten Lebensjahr besonders wichtig); für seine gesunde Gehirnentwicklung ausschließlich stillen (dazu ergriff ich außergewöhnliche und oft teure und schmerzhafte Maßnahmen). Wie sein Vater würde er in Rekordzeit Kreuzworträtsel lösen können. Wie ich wäre er ein experimentierfreudiger Esser und waghalsiger Sportler. Er wäre witzig und doch besonnen, loyal, fair und klug. Ich würde ihm Skifahren beibringen und Lesen und wie man mit einem Mini-Budget reist. Vielleicht würde er irgendetwas Weltbewegendes erfinden, Raumschiffe bauen oder als Modedesigner Kleidung aus recyceltem Abfall herstellen. Er wäre großzügig und gut aussehend. Die Frauen oder auch Männer würden sich um ihn reißen. Wunderkindträume waren mir beileibe nicht fremd.

Doch egal, was ich für Ronan tat – ob Biokost oder nicht, Stoff- oder Wegwerfwindeln, Attachment Parenting oder Schlaftraining, Muttermilch oder Flaschennahrung –, all diese Entscheidungen, die mir in seinen ersten Lebensmonaten so wichtig waren, er würde sterben. Und damit Schluss. Oder etwa nicht? Bei meinen Grübeleien in den frühen Morgen- und späten Abendstunden wurde mir irgendwann klar: Das Leben meines Sohnes würde zwar zu Ende gehen, aber das, was ich von ihm lernen konnte, war so magisch und mythisch wie eine Schöpfungsgeschichte. Wenn man sich das ganze Leben seines Kindes auf dessen Tod vorbereitet und damit lebt, dann braucht es eine besondere Entschlossenheit, eine besondere Denkweise, eine ganz andere Spezies.

Welche Kreatur symbolisiert diese moderne Liebesgeschichte, an der Ronan und Rick und ich und andere teilhatten, deren Wurzeln aber so uralt und rätselhaft waren wie das Tay-Sachs-Gen selbst? Was steht für uns, für uns Eltern, die wir lernen, mit Absauggeräten, Kathetern und Magensonden zu hantieren, Sauerstoffgeräte zu bedienen, uns bei der Versicherung durch schräge Telefonmenüs zu kämpfen und mit Vorurteilen umzugehen, damit sich unsere Kinder wohlfühlen, geliebt werden und so lange wie möglich auf der Welt bleiben? Wer sind diese Mütter, die in Supermärkten auf alle möglichen dreisten Fragen antworten (»Was hat denn Ihr Baby?« oder »Wie können Sie Ihr Kind so herumschleppen, man sieht doch, dass es völlig übermüdet ist?«) und sich mit ungefragten Kommentaren, die von Grausamkeit und Ignoranz zeugen, herumschlagen müssen (»Ich hoffe, Sie haben sich sterilisieren lassen« oder »Warum haben Sie keinen Test gemacht, wenn Sie wussten, dass es genetisch ist?« oder »Ich wusste gar nicht, dass Sie Jüdin sind«)?

Das Wort »Drache« geht auf das griechische Verb für »scharf blicken« zurück. Drachen sind mythische und sagenhafte Fabelwesen, Kreaturen mit den magischen Kräften des Einhorns, aber aus derberem, weniger ätherischem Stoff gemacht.

Wenn Mütter und Väter die Eigenschaften eines Drachen annehmen, das wurde mir klar, dann betrachten sie das Elternsein als ihre einzige Aufgabe; und doch richteten sich keine der Elternratgeber und -webseiten an uns. Erziehungsbücher handeln davon, was zu tun ist, wenn die Kinder heranwachsen, Unfug anstellen, das letzte Wort haben wollen, erfolgreich sind, Drogen nehmen, Lernschwierigkeiten haben. Natürlich richten sich Erziehungsratgeber an Eltern von Kindern, die leben, aber auch Dracheneltern wissen so einiges über Kindererziehung. Wie das kommt? Weil wir den Begriff für uns neu definieren müssen: Erziehung ohne einen Gedanken an die gefürchtete Zukunft, wenn das Kind nicht mehr da ist, Elternsein ohne Netz und doppelten Boden.

»Du bist bestimmt stolz auf dein Kind« gehört zu den Dingen, die Eltern einander gern sagen. Ja, meine Eltern sind stolz auf mich. Doch wenn ich an Ronan dachte, fragte ich mich: Unter welchen Umständen wäre es angemessen oder akzeptabel gewesen, wenn sie nicht so stolz gewesen wären? Wenn ich ihnen nie Anlass gegeben hätte, stolz auf mich zu sein – hätten die Leute dann vermieden, mit ihnen über mich zu sprechen? Wenn ich nun eine Bank ausgeraubt oder betrunken jemanden überfahren hätte, würde man dann so tun, als gäbe es mich nicht? Ich war stolz auf Ronan, aber nicht, weil er etwas Besonderes leistete oder in Zukunft etwas Besonderes leisten würde. Leicht fiel mir das nicht. Ich stand wirklich nicht über solchen Kleinkariertheiten.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich ohne Ronans tödliche Diagnose diese alten Geschichten heute immer noch durch meinen ahnungslosen Sohn ausleben würde. Erst durch diese Erfahrung verstand ich, dass der Löwenanteil der angesagten Erziehungsratgeber voll und ganz auf das Erstreben und Erreichen irgendwelcher hohlen Erfolgsstandards abzielt, und trotzdem war ich nicht immun dagegen, mich nach solchen bedeutungslosen Etappensiegen zu sehnen. Doch ich hatte den Eindruck, dass »auf unsere Kinder stolz sein« auch bedeutet, dass diese sich dessen wert erweisen, dass sie sich all die Aufmerksamkeit und Privilegien, die man ihnen schenkt, auch verdienen müssen. Nun mag man Drachen mit mittelalterlichen Mythen und uralten Legenden assoziieren, aber mir kam eher diese sehr moderne Erziehungspraxis vor wie aus dem finstersten Mittelalter – strafend, berechnend, grausam.

Warum fragt man Mütter von todkranken Kindern in Erziehungsfragen so selten um Rat?

Kurz gesagt: Die Leute haben Angst vor Drachen. Unsere Trauer ist eine Urerfahrung, sie ist sperrig und peinlich. Wenn man mit Eltern von normal entwickelten Kindern über Lebensendpflege für das Baby spricht, dann ist das, als würde man beim Abendessen mit Freunden oder auf dem Spielplatz Feuer speien. Niemand will sehen, was für uns ganz klar ist. Niemand will die Wahrheit wissen, über seine Kinder, über sich selbst: dass nichts davon für immer ist.

Drachen stammen von Schlangen und Dinosauriern ab, in einigen Kulturen haben sie Flügel, in anderen sind sie reptilienartig. Wir haben die unterbewertete Fähigkeit, die Leute mit ihren tiefsten Ängsten zu konfrontieren. Unsere Schuppen sind wie Spiegel und wir überbringen schreckliche Nachrichten. Wir sagen Katastrophen voraus. Wir passen nicht in normal große Zimmer. Wir wehklagen. Wir versammeln uns in unterirdischen Höhlen. Wir fliegen laut und ungelenk, in übel riechenden, treuen Schwärmen. Was wir erlebt haben, ist grässlich und es geht um unglaublich viel. Und das noch: Im Hier und Heute und vor allem hier in unserer Kultur erwartet man von Eltern, dass sie übermenschlich sind, und so will vielleicht niemand hören, was wir über die menschliche Erfahrung gelernt haben, die immer mit demselben Ergebnis endet: dem Tod.

»Hic sunt dracones« (»Hier sind Drachen«), so beschrifteten die Kartografen des Altertums neue Territorien, die unbekannt waren und deshalb als gefährlich galten. Auf mittelalterlichen Landkarten kennzeichnete man diese weißen Flecken mit Drachen als Warnung. Drachenmütter navigieren voller Angst in den unbekannten Gewässern der Kindererziehung, doch sie haben keine andere Wahl.

Wir heulen und bellen und brüllen, aber manchmal tanzen wir auch, wie der Drache, den ich im Sommer 1997 durch die dampfenden Straßen von Hongkong tanzen sah. Wir hüten unsere Kinder vorsichtig, argwöhnisch, aufmerksam und schnauben sanft unseren heißen Atem über sie, wie jene Drachen, die einst ihre Schätze bewachten. Wir lachen, weinen, singen, betrinken uns, leben. Erinnern Sie sich noch an Paff, den Zauberdrachen, und Jackie Paper? Wir tollen im Nebel herum. Wir sind zart und liebevoll und gütig. Drachen leben ewig, aber Jungen und Mädchen nicht. Wir Drachenmütter wissen das nur allzu gut, denn obwohl wir nicht ewig leben, so werden wir doch für den Rest des Lebens ein riesiges Loch im Herzen tragen. Dazu braucht es barbarische Kraft (und damit meine ich nicht die Art Kraft, die dazu befähigt, Beziehungen spielen zu lassen, zu hetzen, alles im Griff haben zu wollen, anzutreiben) und ein unfassbares Maß an Demut und Humor. Kraft in Kombination mit offener Verletzlichkeit: der ultimative Ausdruck von Stärke.

Ich interessierte mich nicht für Musikunterricht und Schwimmkurse, weil ich nicht die Hoffnung hatte, Ronan würde irgendein wunderbares Talent entwickeln, das ihn – und damit auch mich – von anderen abhob. Ich heischte nicht nach Lob und Anerkennung dafür, dass ich so eine besonders tolle Mutter war. Vielmehr wollte ich Ronan Erlebnisse verschaffen, die ihn glücklich machten. Ich beschützte ihn, so gut ich konnte. Ich putzte ihm die Zähne, damit sie nicht schlecht wurden, obwohl er nie feste Nahrung zu sich nahm. Ich fütterte ihn, hielt ihn im Arm, wiegte ihn in den Schlaf. Ich musste mich immer wieder erinnern, auch wenn ich vergessen wollte.

Vor allem lehrte Ronan mich, dass Kinder nicht dazu da sind, ihren Eltern Ehre zu erweisen; Eltern sind dazu da, ihren Kindern Ehre zu erweisen. Meine Zeit mit Ronan war kurz und schön und durchwirkt mit Licht, Lachen und einer Liebe, die mir durch Mark und Bein ging. Es war ein magisches Leben, oh ja, ganz ohne Ziele, ohne Preise, die zu gewinnen, ohne Ergebnisse, die zu erzielen waren. Von solchen Erwartungen war Ronan schrecklich frei und es war eine schmerzhafte, brutale und vor allem echte Freiheit. Ronan war zwar mein Kind, aber er gehörte mir nicht. Hier ging es nicht um Besitz. Ein Kind ist kein Sofa.

»Lohnte« sich all die Fürsorge, die ich Ronan angedeihen ließ? Er würde nie mit seinem Harvard-Diplom in der Hand zu mir gelaufen kommen. Er würde beim Hochschuleingangstest nie die Höchstpunktzahl erzielen. Er würde nie »Mama« sagen. Er wusste nichts von 9/11 und anderen Katastrophen, die sich in der Welt ereigneten. Er würde nie in den Krieg ziehen. Er kannte keinerlei Bosheit. Das war meine Rolle als Drachenmutter, wie auch die aller anderen: mein Kind vor Boshaftigkeit und, so gut es ging, vor Leiden zu bewahren. Und schließlich das Allerschwerste, das die meisten Eltern zum Glück nie tun müssen: ihn sterben zu lassen.

Agonie ist eine Erfahrung, die sich nicht so leicht beschreiben lässt. Wie konnte ich Ronans Geschichte schreiben? Wie sollte ich Ordnung in das Chaos bringen und zugrunde liegende Bedeutungsmuster in einer Situation finden, die von außen betrachtet in sich geschlossen und unwiderlegbar bedeutungslos erschien? Dem konnte ich gar nicht gerecht werden. Was ich auch erzählte, war belanglos. Was konnte ich schon schreiben? Selbst mit dem Bild des Drachen im Kopf empfand ich nur Leere, das schon vertraute Schwarz und den Wunsch, aus meiner Haut zu kriechen. Ich saß vor dem Computer und tippte immer wieder Ronans Namen, während ich mit einem Ohr lauschte, ob er sich in seinem Bettchen bewegte. Aber: Ich bin Schriftstellerin. Ich schreibe. Und genau wie ich mich mein ganzes Leben lang durch jede Erfahrung – ob entzückend oder entsetzlich – hindurchgeschrieben hatte, begann ich die täglichen Ereignisse im kurzen Leben meines Sohnes zu dokumentieren. Und als ich einmal damit angefangen hatte, wollte ich – konnte ich – nicht mehr aufhören.

Ronan wurde im März 2010 geboren. Seine ersten Nächte verbrachte er eingewickelt wie ein Burrito in einem durchsichtigen Plastikbettchen neben meinem Bett im Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles. Damals, lange vor dem Horror, der mit seiner fortschreitenden Krankheit kam, machte Ronan mich glücklich und auch danach machte er mich jeden Tag glücklich: sein rundes Gesicht mit den grün-goldbraun-gelben Augen, seine perfekten kleinen Zehen, seine dicken Fesseln, seine spitzen Tänzerfüße, seine endlos langen, blassen Wimpern, seine klebrig-schweißigen Hände, seine langen zufriedenen Seufzer, der sanfte Schwung seiner Nase, sein Oh-nein-das-ist-bestimmt-eklig-Gesicht beim ersten Löffel mit fester Nahrung, auch wenn es ihm schmeckte (Avocado), das wellige Entenschwänzchen in seinem Nacken, das sich beim ersten Anflug von Luftfeuchtigkeit kräuselte, wie er sich auf meinem Schoß manchmal plötzlich zu mir umdrehte und mich anlächelte, als hätte er gerade erst bemerkt – Ach! Da bist du ja! –, dass ich angekommen war. Ich liebte seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck, sein misslauniges Starren, seine perfekt getimten Seufzer. Ich liebte es, wenn er die Hand hochhielt und sich mit den Fingern selbst zuwinkte, verwundert, als wollte er fragen: Sind das wirklich meine? Ich liebte es, wie sein weicher Körper im Therapiebecken trieb, ein winziger Nix, der seine nassen Locken wie Tang hinter sich herzog. Und später, als er mehr in sich zurückgezogen war, liebte ich das Blinzeln seiner Augen bei Licht, obwohl er nicht mehr sehen konnte, und das plötzliche Krähen und Zappeln, wenn er neben mir auf der Couch saß und Opernmusik hörte, wenn wir nebeneinander schliefen, seine Stirn an meine gepresst. Ich liebte sein nasses Gesicht in der Badewanne, wie seine Füße in das warme Wasser hingen, seine weiche und makellose Haut. Dieses Glücksgefühl beinhaltete zugleich das Wissen, dass jedes Lächeln das letzte sein konnte und dass er schon vor seiner letzten großen Regression unwiederbringlich und auf herzzerreißende Weise verloren war. Diese Augenblicke unsäglicher Trauer – dieses Gefühl, geplagt zu sein, durchlöchert, geschlagen – bargen auch Momente strahlenden, überbordenden und jeglicher Logik entbehrenden Glücks, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Im einen Moment war da eine unbezwingbar hohe Mauer aus Glück, im nächsten war mir, als fiele ich in einen bodenlosen Abgrund der Traurigkeit. Das eine war nicht ohne das andere zu haben, das verstand ich; diese große Fähigkeit zur Liebe und zum Glücklichsein barg in sich das Risiko, dass einem dieses Glück genommen wird – ein Balancieren am Rande des Verlusts.

Wir wissen, dass die Menschen, die wir lieben, sich verändern und dass sie sterben werden. Diese Gewissheit voll und ganz zu akzeptieren, fällt besonders schwer, wenn man ein krankes Baby im Arm hält, noch dazu, wenn es das eigene Baby ist. Es war eine tägliche Herausforderung, als versuchte man jeden Tag aus dem Gefängnis zu fliehen, wohl wissend, dass es zwecklos ist.

Ich bin in meinem Leben schon viele Dinge gewesen – Schriftstellerin, Ehefrau, Freundin, Lehrerin, Geliebte, Schwester, Nichte, Tochter, Skeptikerin, Ex-Christin, Wandertheologin –, doch seit dem zehnten Januar 2011 bin ich vor allem eins: Ronans Mutter. Je mehr ich über ihn schrieb, desto klarer wurde mir: Wenn ich nicht von meiner Trauer erdrückt werden wollte, musste ich mich der Diagnose stellen und meine Welt groß machen, seine Geschichte bekannt machen. Ronans Mythos ist eine Geschichte vom Lieben und vom Loslassen. Es geht um Kunst, Literatur und Filme, Theologie, Philosophie und Tiere. Es geht um die Freude und den Preis der Weigerung, wegzusehen, in den Abgrund zu springen und darin herumzustrampeln, es geht darum, wie man im Leben vorwärts geht, selbst wenn es kein Anzeichen gibt, dass sich etwas ändert oder bessert oder gelöst wird.

Akira Kurosawa sagte einmal: »Künstler zu sein, heißt niemals die Augen abzuwenden, vor nichts den Blick zu verschließen.« Gelesen habe ich diesen Satz in Robert Olen Butlers Buch über die Kunst des Romanschreibens From Where You Dream (Von wo du träumst), am Tag vor Ronans Diagnose auf dem Flug von Los Angeles nach Santa Fe, als es mir noch wichtig war, ein Leben für die Kunst zu führen – was in den Tagen danach nicht mehr wichtig war und dann wichtiger wurde als je zuvor. Am »Diagnose-Tag« fiel mir Kurosawas Ausspruch wieder ein, als wir mit den Ärzten und Spezialisten über Ronans Prognose sprachen, während sie an ihm herumzupften und –piekten, ihn untersuchten und ihm zum Blutabnehmen wie aus Gemeinheit einen Heiligenschein aus Gummiband über die Stirn spannten. »Prognose«, ein Wort wie aus Metall gestanzt, aus Eisen, ein Wort mit scharfen Kanten.

Am zehnten Januar hatten Rick und ich noch keine Ahnung, was genau uns bevorstand, außer dass es die schwerste Prüfung unseres Lebens werden würde. Tay-Sachs ist unheilbar und mit der Biologie lässt sich schlecht streiten. Wir erfuhren, dass unser Sohn innerhalb eines Jahres allmählich in einen vegetativen Zustand verfallen würde und dass sich dieser langsame Verfall bis zu seinem wahrscheinlichen Tod noch vor seinem dritten Geburtstag fortsetzen würde. Er würde langsam erblinden. Er würde nie sprechen oder laufen lernen, er würde die Kontrolle über seinen Kopf verlieren und nie einen anderen Körperteil kontrollieren können. Wir wussten, es würde uns wehtun, wenn er sich immer mehr in sich kehrte, sich veränderte, immer weniger Kontakt mit uns suchte, doch als seine Eltern waren wir entschlossen, jeden verbleibenden Moment seines Lebens einen Moment voller Liebe werden zu lassen.

So tragisch die Situation nach außen hin schien, innen drin war unser Leben oft voller Glück, trotz der tagtäglichen, sehr realen Angst vor dem, was passieren würde, wenn sich die Krankheit in seinem Gehirn ausbreitete und sich sein Körper nach und nach abschaltete. Morgens hoben wir Ronan aus seinem Bettchen und küssten ihn. Ein Moment der Freude. Wir lachten. Wir lebten. Ich ging mit ihm wandern, rieb seine pummligen Füßchen in Erde und hob sein Gesicht in den nach Wacholder duftenden Wind. Wir nahmen ihn mit auf Autofahrten, auf Partys, in Cafés und Restaurants. Er war unser Begleiter, unser Kind, unser Ein und Alles.

3

»Es ist der Teil der Reise, wo das Treppenhaus enger wird und man sich seitwärts vorbeischlängeln muss.«

Tony Hoagland, »LIEBE«

Als ich ein Kind war, stand im Foyer des Denver Children’s Hospital ein riesiges Puppenhaus. Mein Puppenhaus zu Hause hatte weiße Wände und gebrechliche Möbel, aber in dem hier waren die Zimmer aufwendig gestaltet. Die rote Tapete im Wohnzimmer war zartgold gestreift. Winzige Leuchter glimmten an den Decken. Das rosa Himmelbett im Schlafzimmer sah aus wie ein Bonbon und im Babyzimmer stand ein weißer Stubenwagen vor dem Fenster. Ich überlegte mir, dass die Türen sogar hoch genug für mich wären und ich hätte hineingehen können – doch das Haus stand hinter Glas. Es war einladend, perfekt, aber unerreichbar.

Ich war oft als Patientin dort. Wegen meiner Fehlbildung hatte man mir mit vier das linke Bein amputiert und das erforderte endlose Röntgenaufnahmen, Prothesenanproben, Sprechstunden beim orthopädischen Chirurgen. Nach diesen demütigenden und manchmal auch schmerzhaften Terminen bestand ich darauf, dass mich meine Mutter eine Weile mit dem Puppenhaus allein ließ. Ich lief um das Haus herum und mein Spiegelbild glitt auf dem beschmierten Glas durch die wunderschön hergerichteten Räume. Wäre ich doch nur klein genug, um mich im Wohnzimmer mit dem ovalen Spiegel und den polierten Lampen auf die schimmernd gemusterten Chaiselongues zu lümmeln oder mich zum Abendessen an den Tisch mit den silbernen Gabeln und glänzenden, weißen Tellern zu setzen! Über die Feiertage (die ich wegen weiterer Operationen auch oft im Krankenhaus verbrachte) glitzerte in der Ecke ein künstlicher Weihnachtsbaum mit Popcorn-Girlanden, paillettenbesetzten Ornamenten und darunter lagen stapelweise winzige eingepackte Geschenke. Das Leben im Puppenhaus war alles, was das Leben im Krankhaus nicht wahr: warm beleuchtet, perfekt und vertraut, bequem und ohne Behandlungen. Irgendwann, dachte ich mir damals, wohne ich in so einem Haus und dann ist die Welt endlich in Ordnung.