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Susanne Gantner

Mit spitzer Nadel

Kriminalroman

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© 2017 Susanne Gantner

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7345-9066-5
Hardcover:978-3-7345-9067-2
e-Book:978-3-7345-9068-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

EINS

Er lag auf dem riesigen, mit schwarzer Seide bezogenen Bett auf dem Bauch. Sie kniete rittlings auf seinen eher schmächtigen Beinen und massierte seinen stark behaarten Rücken mit sicheren Handgriffen.

«Ja, Baby, so ist es gut», stöhnte er.

Der Moment war gekommen, auf den sie so lange gewartet hatte. Mit einem kalten Lächeln griff sie nach ihrem roten Strumpfband und holte die gut versteckte Akupunkturnadel heraus. Die Stelle musste genau getroffen werden, sonst war alles umsonst.

«Was ist?», murrte er. «Mach weiter.»

Sie zögerte nur kurz, dann stiess sie die Nadel mit aller Kraft in seinen Nacken. Ein heftiges Zittern durchlief seinen Körper, er bekam plötzlich keine Luft mehr und würgte hilflos. Mit einem speziellen Handgriff und unter Einsatz ihres ganzen Körpers konnte sie ihn auf die Seite drehen. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Da zog sie sich grinsend die rote Perücke mit den langen Mädchenzöpfen vom Kopf.

Seine Lippen formten ein unhörbares «Du?» Der Schreck war ihm anzusehen.

«Ja, ich, dein Baby. Und ich bin gekommen, um mich zu rächen für alles, was du mir angetan hast.»

Seine Muskeln verkrampften sich, er konnte sich nicht mehr rühren, verzweifelt schnappte er nach Luft. Er kämpfte um sein Leben, aber es dauerte nicht lange und sein Körper erschlaffte. Sie genoss jede Sekunde, und ein wildes Triumphgefühl stieg in ihr auf.

Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Sie holte medizinische Gummihandschuhe aus ihrer Handtasche und begann, alle Spuren zu entfernen. Besonders achtete sie auf mögliche Fingerabdrücke. Sie hatte ohnehin darauf aufgepasst, nichts anzufassen. Die Akupunkturnadel liess sich gut herausziehen und hinterliess keine Spur. Sie strich die zerwühlten Laken glatt. Es sollte ja nicht jeder erraten, was hier stattgefunden hatte: der perfekte Mord.

Entspannt schlenderte sie ins Arbeitszimmer. Es war so, wie sie erwartet hatte. Der Monitor des Computers war hell erleuchtet und zeigte ihre Kontaktanzeige. Frank hatte keine Zeit verloren, sie sofort angerufen und zu sich bestellt. In der Zwischenzeit hatte er sich an den vier Fotos aufgegeilt.

Es war ihr nicht ganz leichtgefallen, ihren gertenschlanken Körper so zu retouchieren, dass sie viel jünger aussah. Die Brüste waren noch kleiner als in Wirklichkeit, das Gesicht rundlicher, die Scham rasiert. Sie trug lange geringelte Strümpfe mit Strumpfbändern und einen Schultornister. Sonst nichts. Er konnte nicht widerstehen.

Nun war der Widerling tot, für alle Zeiten. Sie hatten kaum gesprochen. Er war nackt an der Tür erschienen, und sie hatten sich direkt ins Schlafzimmer begeben. Sie war nicht so jung, wie sie im Darknet angegeben hatte. Aber er wurde nicht argwöhnisch.

Sie löschte die Kontaktanzeige. Die Polizei könnte diese trotzdem finden, sollte sie alles genau untersuchen, aber es würde ja keine polizeiliche Untersuchung geben. Ein Arzt müsste einen Herzschlag diagnostizieren, weil sich sonst nichts finden liess. Nun brauchte sie noch die Kontakte im Computer. Wie vermutet, waren die Kollegen im Outlook verzeichnet. Sie holte einen roten Memory Stick aus ihrer Handtasche, kopierte das Verzeichnis und fuhr den PC herunter. Besser vorsichtig sein, sonst würde es vielleicht Fragen geben.

Sie zog sich wieder an, die langen geringelten Strümpfe und das dünne Hemdchen stopfte sie in ihre grosse Handtasche und zog dafür die schwarze Hose und die schwarze Jacke heraus, die sie vorher abgelegt hatte. Vor dem Badezimmerspiegel setzte sie ihre rote Perücke wieder auf, löste jedoch die Zöpfe. Es war besser, nicht aufzufallen, wenn jemand sie auf der Strasse beobachten sollte. Hier im Hause wohnte sonst niemand. Der Immobilienmakler Frank Geissmann-Müller lebte alleine in einer abgelegenen Villa am Ende einer langen Privatstrasse.

Sie liess die Haustür leise ins Schloss fallen, streifte die Gummihandschuhe ab und verschwand lautlos. Wie erwartet, wurde sie von niemandem beobachtet.

ZWEI

Es war inzwischen halb zwei Uhr nachts. Ein Streifenwagen fuhr langsam über die Zürcher Quaibrücke zum Bellevue. Der Beifahrer schaltete die Fernsprecheinrichtung ein.

«Tschau Reto», meldete er sich bei der Zentrale. «Wir haben gerade zwei völlig betrunkene Mädchen, fünfzehn und sechzehn Jahre alt, bei der Noteinrichtung «Nemo» von Pfarrer Sieber an der Militärstrasse abgeliefert. Geschwister, sie waren wegen Gewalt von Zuhause weggelaufen und lungerten verzweifelt am Sihlquai herum. Die Leute von «Nemo» werden sich um sie kümmern. Sonst keine Vorkommnisse, alles still. Eigentlich ein Wunder bei der Hitze. Hast du schon Ferien gehabt? – Erst im September, Griechenland? Super, ich war ein paar Tage am Gardasee. Kann ich dir empfehlen. Eine gute Nacht wünsche ich dir. Ich hau mich bald in die Pfanne.»

DREI

Kaum hatte sie ihre Wohnung in der Altstadt erreicht, knallte sie die Haustür zu und flüchtete ins Badezimmer. Sie riss sich schluchzend die Kleider vom Leib und knallte die rote Perücke in die Ecke. Ihr weisses Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen und den rot gemalten Augenbrauen starrte sie gespenstisch aus dem Spiegel an. Schreiend packte sie einen Waschlappen und schrubbte sich die Farbe mit viel Seife weg. Sie hatte die dichten blonden Brauen seit Monaten sorgfältig ausgezupft.

Die fehlenden Augenbrauen und die rot verheulten Augen gaben ihr den Rest. Jedes Triumphgefühl war verschwunden. Ekel schüttelte ihren ganzen Körper. Sie spürte die widerlichen feuchten Hände von Frank auf ihrem Körper, sie war wieder ein kleines, verängstigtes Mädchen.

«Mami!», heulte sie.

Aus der Erinnerung hörte sie Franks Stimme, wie früher: «Deine Mami ist jetzt nicht hier. Du weisst, sie ist in der Trachtengruppe. Du darfst ihr aber kein Sterbenswörtchen davon erzählen, was wir hier machen, sonst passiert ein fürchterliches Unglück, und unsere Familie wird für immer auseinandergerissen. Hast du vergessen, wie das ist, wenn jemand wegziehen muss? Das hast du doch mit deinem Vater schon erlebt. Oder willst du, dass auch mit deiner Mutter etwas Schreckliches passiert und sie fürchterlich leiden muss?»

Und seine Finger wanderten über ihren hilflosen Körper zwischen ihre Beine. Sie wollte das alles nicht, aber noch viel weniger wollte sie ihrer Mutter ein Leid antun.

«Ich mache das, weil ich dich so lieb habe», turtelte Frank weiter. «Das ist unser Geheimnis. Du kannst stolz darauf sein.»

Und er tat ihr fürchterlich weh. Sie weinte und schluchzte, aber für Mama wollte sie alles ertragen.

«Mami», schluchzte sie auch jetzt und brach auf dem Badezimmerboden zusammen. Ihr Herz klopfte wie verrückt, es sprang fast aus der Brust. Sie war wieder in dem kleinen Kinderzimmer mit der geblümten Tapete. Ihre Zähne klapperten, ihr war so kalt. Sie umklammerte ihre Knie und schaukelte vor und zurück. Vor und zurück, vor und zurück, immer wieder. Erst nach sehr langer Zeit konnte sie aufstehen.

Sie nahm eine heisse Dusche und verkroch sich in ihr spartanisches, weisses Bett.

VIER

Heiri Stampfli, leitender Ermittler bei der Kantonspolizei Zürich, war nach einem langen, ereignislosen Tag am Schreibtisch müde. Eine Sitzung schon am frühen Morgen und anschliessend endlose Protokolle: jeder Tatbestand musste genau festgehalten werden. Das ergab viel Papierkram.

Stampfli rieb sich die Augen. «Ich brauche wohl langsam eine Brille, ich werde nicht jünger.»

Er fuhr seinen PC herunter und beschloss, Feierabend zu machen. Es war ohnehin schon fast 18 Uhr. Er wollte wieder einmal bei seiner alten Freundin Fanny vorbeischauen. Sie hatte früher selbst angeschafft und war jetzt die gute Seele einer Bar. Wenn eines der jungen Dinger im Niederdorf einen Rat brauchte, weil ein Freier zu aufdringlich war oder ein medizinisches Problem anstand, war Fanny die richtige Adresse. Sie hatte einfach das Herz auf dem rechten Fleck, und wenn Heiri die Nase voll vom Beamtenalltag hatte, war ein Bier bei Fanny eine Wohltat. Heute blätterte sie gerade im «Blick am Abend».

«Ts, ts, der bekannte Immobilienmakler Frank Geissmann-Müller wurde tot in seinem Bett aufgefunden. Vermutlich das Herz, obwohl er bisher scheinbar kerngesund war. Wurde nur knapp 50. Der Sauhund hat nichts Anderes verdient, hat sich wohl wieder sexuell übernommen.»

«Wieso?», fragte Heiri.

«Ja, dir kann ich es ja im Vertrauen sagen. Er hat wiederholt versucht, bei uns ganz junge Mädchen im Schutzalter zu bekommen, sogenanntes «Chefifleisch». Aber bei mir bekam er sie nicht, selbst wenn er mit dem grossen Geld gewinkt hat.»

«Ach, so einer war das - dann ist es nicht wirklich schade um ihn», meinte Heiri.

Er stiess mit Fanny an und erzählte ihr von seiner Neuentdeckung, einer CD mit der Matthäuspassion von Homilius.

«Noch schöner als Bach», schwärmte er.

Der Ermittler war ein grosser Fan geistlicher Musik. Am Sonntag ging er oft ins Grossmünster, nicht, weil er eine religiöse Ader hatte, sondern weil er Orgelmusik über alles liebte. Während des Gottesdienstes döste er regelmässig ein, erwachte aber jedes Mal selig, wenn der erste Orgelton erklang.

Als er nach dem zweiten Bierchen aufstand und beschloss, nach Hause zu gehen, zog er vor Schmerzen die rechte Schulter hoch.

«Was hast du?», fragte Fanny.

«Mir tut die verdammte Schulter weh, schon seit einigen Tagen. Aber das wird schon wieder. Gute Nacht, Fanny. Es war schön, dich zu sehen.»

«Finde ich auch. Schlaf gut, Heiri.»

FÜNF

Es war Sonntag. Stampfli wachte auf, als ein Hund auf der Strasse kurz bellte. Ein Blick auf seinen altmodischen Wecker zeigte, dass es erst 6.23 Uhr war. Mein Gott, da konnte man einmal ausschlafen und wurde von so einem blöden Vieh geweckt. Seit er bei einem Überwachungseinsatz von einem riesigen Dobermann gebissen worden war, mochte Stampfli keine Hunde mehr. Diese sabbernden Heuler, einfach eklig!

Er versuchte noch einmal einzuschlafen, jedoch vergeblich. Es wäre gestern vermutlich besser gewesen, wieder ein Bier bei Fanny zu trinken, anstatt sinnlos am Fernseher herum zu zappen und sich die scheusslichen Dokumentarsendungen aus den verschiedenen Krisengebieten anzusehen. Komisch, dass ihn das so bewegte, kam er doch bei seiner Arbeit mit viel Elend und Verbrechen in Kontakt, aber so war er nun einmal: eigentlich viel zu weich für einen Kriminalpolizisten.

Er duschte kalt und putzte sich die Zähne. Spontan beschloss er, sich heute wenigstens ein gutes Frühstück zu leisten, wenn er schon so früh geweckt worden war. Er bestrich drei Scheiben Toast mit viel Butter und Konfitüre. Dazu briet er sich Spiegeleier. Natürlich war dies Unsinn bei seinem hohen Cholesterinspiegel und dem Altersdiabetes. Aber er liebte nun einmal fette Speisen. Mit Widerwillen schluckte er die vom Arzt verordneten Tabletten. Er ging zum Kühlschrank und holte sich Orangensaft. Ein angeschnittener Fleischkäse lag da verlockend zwischen einer Gurke und einem Naturjoghurt.

Der geht kaputt, wenn ich ihn heute nicht esse – ich kann ja morgen wieder fasten, wenn ich arbeiten muss, tröstete sich Stampfli und machte sich an die Vertilgung der Köstlichkeiten. Dazu holte er sich die «SonntagsZeitung», die wie jeden Sonntagmorgen vor der Wohnungstür lag.

Auch bei dieser Zeitung arbeitete man schnell. Ein langer Nachruf auf den bekannten Immobilienmakler Frank Geissmann-Müller war im lokalen Teil platziert. Eigentlich interessierte sich Stampfli nicht fürs Immobiliengeschäft, aber weil Fanny vor zwei Tagen so abschätzig über diesen Mann gesprochen hatte, machte sich Heiri an die Lektüre.

Der Verstorbene war ein typischer Karrieremann, der buchstäblich über Leichen ging, wenn nur der Profit stimmte. Er hatte vor allem alte Mehrfamilienhäuser gekauft, die dort zum Teil bereits seit über zwanzig Jahren wohnenden Rentner vertrieben und die Bauten anschliessend renoviert, so dass er sie wieder teuer vermieten oder verkaufen konnte. Ein spektakulärer Selbstmord eines solchen betroffenen Rentners war vor zwei Jahren durch die Presse gegangen. Geissmann-Müller hatte einmal klein angefangen, zusammen mit dem ebenfalls renommierten Architekten Thomas Fischer und sowie Simon Gfeller, von dem man inzwischen nichts mehr hörte. Der Artikel zeigte auch ein Foto der drei Männer. Sie hielten sich lachend umschlungen. Stampfli betrachtete das Bild aufmerksam. Irgendwie seltsam. Ein Triumvirat.

Jetzt fange ich an zu spinnen, sinnierte Stampfli.

Es wurde heiss im Wohnzimmer. Ein schwüler Sonntagmorgen im August. Stampfli beschloss, in der Limmat schwimmen zu gehen, trotz seiner immer noch schmerzenden Schulter. Er zog die Badehose an und stellte sich vor den Schlafzimmerspiegel. Wenn er den Bauch einzog, sah er nicht einmal so schlecht aus für seine 55 Jahre. Er hatte muskulöse Oberarme und stramme Beine. Dichte, an den Schläfen bereits ergraute Locken umrahmten ein eher rundes Gesicht mit einer grossen, markanten Nase. Die ausgeprägten Lachfalten um seine Augen hingegen passten nicht unbedingt zum erwarteten Erscheinungsbild eines Polizisten. Es fiel ihm schwer, den Bauch so lange einzuziehen. Als er wieder richtig einatmete, war der Fettansatz gut sichtbar.

Ich werde jeden Tag einen Kilometer schwimmen gehen und weniger essen, nahm er sich wohl zum hundertsten Mal vor und machte sich auf die Socken.

SECHS

Sie erwachte am Sonntagmorgen in ihrer Altstadtwohnung und fühlte sich vollkommen gerädert. Sie hatte schlecht geschlafen und war immer wieder aus schlimmen Alpträumen, die von Frank handelten, aufgewacht. Nun setzte sie sich entschlossen auf.

Sie hatte erst einen Teil ihres Racheaktes hinter sich. Fast ein ganzes Jahr war vergangen, bis Frank ihre Kontaktanzeige im Darknet entdeckt und sich bei ihr gemeldet hatte. Die nächsten beiden Opfer konnte sie nun direkt anschreiben, weil sie ihre Mailadressen aus dem Computer bei Frank kannte. Sie machte sich gleich an die Arbeit und suchte ein Internetcafé auf. Energisch verschickte sie Fotos mit anzüglichem Text an die beiden Freunde Franks, die sich am «Spiel» beteiligt hatten, als sie älter wurde. Sie hatte sich damals heftig gewehrt, aber nachgegeben, als Thomas damit drohte, entsprechende Bilder von ihr in der Schule zu verbreiten. Als sie an ihren grössten Peiniger dachte, schüttelte es sie vor Entsetzen. Thomas war für sie der Teufel in Person. Sie erbat eine Antwort per SMS.

SIEBEN

Architekt Thomas Fischer sass auf der Terrasse seines Lieblingsrestaurants «Chez Fritz» in Kilchberg am Zürichsee, vor sich ein leckerer Teller mit Eglifilets und Salzkartoffeln, dazu eine Flasche Räuschling. Auf dem Stuhl neben ihm lag seine rote Sporttasche, Thomas kam direkt vom Fitnessstudio.

Gestern hatte er wieder einen grossen Abschluss getätigt, eine Überbauung in Zürich-Höngg. Der finanzkräftige Kunde wollte die Pläne unbedingt am Sonntag besprechen. Es war spät geworden. Sie waren im Calypso Nightclub im Niederdorf gelandet und hatten viel zu viel getrunken. Thomas brummte der Schädel immer noch trotz Aufenthalt im Fitnessclub. Vielleicht half der Räuschling, die Schleier in seinem Kopf zu vertreiben. Unbedingt musste eine «crème brûlée» zum Dessert her und ein oder zwei Grappa. Thomas trank oft und gerne, das sah man an seinen, für sein Alter früh erschlafften, geröteten Gesichtszügen. Da konnte sogar der Fitnessclub keine Abhilfe schaffen. Rote Äderchen rund um die knollige Nase erzählten vom heimlichen Laster des erfolgreichen Architekten.

Nach dem herrlichen Dessert, das er geniesserisch herunterlöffelte, wurden es nicht nur zwei, sondern drei Gläschen Grappa. Er zog mit schlechtem Gewissen einen Laptop aus der Sporttasche. Er hatte seine Mails seit gestern Morgen nicht mehr abgerufen. Zuerst die Besprechung mit dem Kunden gestern, später waren sie versackt, und heute Morgen fühlte er sich zu mies für Neuigkeiten. Seit er vom plötzlichen Tod seines Freundes Frank in der Zeitung gelesen hatte, war Thomas ohnehin nicht guter Laune. Sie hatten viele Jahre lang ihre Freizeit gemeinsam verbracht, waren zusammen segeln gegangen, hatten aber auch private «Herrenabende» zu dritt veranstaltet, zusammen mit Simon Gfeller, diesem Idioten, der nichts Besseres zu tun wusste, als aus dem Nähkästchen zu plaudern.

Thomas öffnete seine Mails. Werbung von Chateau-Direct und Delinat, den Weinhändlern. Er löschte die Mails. Der Keller war im Moment mehr als voll. Die nächste Nachricht war eine Kontaktanzeige mit dem Titel «Warum nicht?». Sein hervorragendes Virenprogramm war eingeschaltet, aber Vorsicht wäre dennoch angebracht gewesen. Weil sein Hirn aber schon wieder vom Alkohol umnebelt war, klickte Thomas sorglos auf die Meldung und öffnete sie.

Er wurde kreidebleich und sah sich vorsichtig um. Hatte jemand vom Nebentisch Einsicht auf seinen Bildschirm? Nein, das war Gott sei Dank nicht der Fall. Er war so erschrocken, weil er zuerst dachte, es handle sich um eine Nachricht von Frank. Aber Frank war ja tot, vor vier Tagen in seinem Bett gestorben, vermutlich an einem Herzanfall. Die Fotos zeigten alle ein nacktes, minderjähriges Mädchen mit roten Zöpfen und langen, geringelten Strümpfen, welche von Strumpfbändern gehalten wurden. Sonst war ein Schultornister die einzige Bekleidung. Thomas leckte sich die Lippen und schloss die Mail. Er würde sich das zu Hause in aller Ruhe ansehen. Er bestellte nochmals einen Grappa beim Kellner, der ihm einen seltsamen Blick zuwarf. Hatte er etwas bemerkt? Das konnte nicht sein - oder doch? Nein! Aber das war schon der vierte Grappa. Thomas musste vorsichtiger sein. Er stürzte das Getränk herunter und verlangte die Rechnung.

Er hatte es eilig. Er wollte nach Hause.

ACHT

Sie kam hundemüde heim. Der Tag war sehr anstrengend gewesen. Es blieb keine Zeit für ein Mittagessen. Aber das war nicht aussergewöhnlich. Sie hatte ohnehin nie richtig Hunger. Mehr aus Vernunft denn aus Lust ging sie zum Kühlschrank und holte sich eine kleine Portion Hüttenkäse. Dazu trank sie ein Glas Wasser. Sie hatte vor einigen Tagen wunderschöne Gala-Äpfel gekauft, die jetzt in einer edlen grünen Glasschale auf dem Esstisch standen und vermutlich in einer Woche im Abfall landen würden. Sie konnte nicht essen. Erschöpft warf sie sich auf das weisse Sofa, zog die Schuhe aus und legte die schmerzenden Füsse hoch. In ihr war eine grosse Leere. Sie fiel in einen totenähnlichen Schlaf. Als sie nach einer Stunde erwachte, beschloss sie, wenigstens ihre SMS zu lesen. Das Handy hatte sie zusammen mit drei weiteren in Österreich gekauft, weil dort prepaid Handys nicht registriert wurden. Damit konnte die Polizei sie nicht orten, solange sie das Gerät nur kurz einschaltete, um ihre SMS herunterzuladen.

Eine Nachricht war von Thomas: «Komm her. Jetzt gleich. Hier meine Adresse!» Mit zitternden Händen antwortete sie: «Ja. Alles okay. Bis bald.» Sie schaltete das Handy sofort wieder aus und entsorgte es im Abfall. Sie würde es nie mehr benutzen.

Heftig atmend stürzte sie ins Badezimmer. Nach der schnellen Dusche stülpte sie die rote Perücke über die kurzen blonden Haare und malte die roten Augenbrauen. Die geringelten Strümpfe, die Strumpfbänder und das Hemdchen hatte sie inzwischen gewaschen. Im Nu war sie angezogen. Die Akupunkturnadel verschwand unsichtbar im rechten Strumpfband, der Schultornister in einer Einkaufstüte. Sie zog die lange schwarze Hose und die schwarze Jacke über und war bereit, bereit für einen weiteren perfekten Mord.

NEUN