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Daniel Burghardt, Markus Dederich, Nadine Dziabel, Thomas Höhne, Diana Lohwasser, Robert Stöhr, Jörg Zirfas

Vulnerabilität

Pädagogische Herausforderungen

Verlag W. Kohlhammer

 

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030175-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030176-4

epub:    ISBN 978-3-17-030177-1

mobi:    ISBN 978-3-17-030178-8

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Inhalt

 

 

  1. Einleitung
  2. 1 Das Thema Vulnerabilität in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen
  3. Medizin und Psychologie
  4. Ökologieforschung
  5. Politikwissenschaft
  6. Philosophie
  7. Theologie
  8. Pädagogik
  9. 2 Anthropologische Dimensionen
  10. Sozialität
  11. Kulturalität
  12. Korporalität
  13. Liminalität
  14. 3 Historische Überlegungen
  15. Paläoanthropologische Vorüberlegungen
  16. Der antike Kosmos
  17. Der christliche Kosmos
  18. An der Schwelle zur Neuzeit
  19. Vernunftorientierte Neuordnung
  20. Probleme einer rationalen Grundordnung
  21. Pädagogik und Vulnerabilitätsbewältigung
  22. 4 Familie und Schule
  23. Eltern und Lehrkräfte
  24. Relationen
  25. Kinder und Jugendliche
  26. Struktur
  27. 5 Heil- und Sonderpädagogik
  28. Vulnerabilität als medizinisch-psychologische Figur
  29. Vulnerabilität und Resilienz in der Heil- und Sonderpädagogik
  30. Vulnerabilität als gesellschaftsdiagnostische und gesellschaftskritische Figur
  31. Vulnerabilität als anthropologischer und ethischer Topos
  32. 6 Sozialpädagogik
  33. Theoriediskurse
  34. Vulnerabilität und Resilienz
  35. Vulnerabilität als Folge sozialer Desintegration
  36. Vulnerable Gruppen als Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit
  37. Vulnerabilitätspositionierungen
  38. Arbeitsfelder
  39. Heimerziehung
  40. Sucht- und Drogenhilfe
  41. Vulnerabilität in geschlechtsspezifischer Perspektive
  42. 7 Interkulturalität und der Umgang mit dem Fremden
  43. Vulnerabilität und die interkulturelle Pädagogik
  44. Die Vulnerabilität des Fremden
  45. ›Der Jude‹ als Fremder
  46. ›Der Flüchtling‹ als Fremder
  47. Zur Vulnerabilität des Subjekts
  48. Identität
  49. Kapitalistische Globalisierung und kulturelle Hegemonie
  50. Zur Vulneranz des Fremden
  51. Vorurteile
  52. Rassismus
  53. Zur Dialektik von Vulnerabilität und Anerkennung
  54. 8 Auf dem Weg zu einem pädagogischen Konzept der Vulnerabilität
  55. Pädagogische Kontexte: Sechs zentrale Momente
  56. Vulnerabilität als Dublette von Faktizität und Normativität
  57. Vulnerabilität als relationale Kategorie
  58. Die Negation und Hervorbringung der Vulnerabilität
  59. Vulnerantialität als Implikation von Vulnerabilität
  60. Zur Bestimmbarkeit von Vulnerabilität
  61. Vulnerabilität als Verweis auf Möglichkeitsräume
  62. Vulnerabilität als anthropologische Kategorie
  63. Der empirisch-analytische Zugang
  64. Der philosophische Zugang
  65. Literatur

 

Einleitung

 

Menschen sind vulnerable Wesen: Sie sind verletzbar und verwundbar, in manchen Situationen erweist sich ihr Leben als fragil und zerbrechlich, sie können durch ihre Lebensumstände Schaden nehmen und leiden und am Lebensende werden sie unausweichlich mit ihrer Endlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert. Da dies alle Menschen betrifft, kann Vulnerabilität als bedeutsame anthropologische Kategorie verstanden werden.

In diesem Buch wollen wir zeigen, dass Vulnerabilität als anthropologische Kategorie auch für die Pädagogik von Bedeutung ist. Wir verstehen es als einen ersten Schritt zur systematischen Rekonstruktion und Analyse der Kategorie aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive mit dem Ziel, die Bedeutung der Vulnerabilität für die pädagogische Theorie und Praxis zu erschließen. Daher ist das Buch als Einführung und breit angelegte erste Orientierung konzipiert.

Vulnerabilität systematisch für pädagogische Sachverhalte zu durchdenken, entspricht allerdings nur bedingt dem disziplinären Diskurs. Zwar sind viele pädagogische Konzepte der jüngeren Vergangenheit in der Erziehungswissenschaft – etwa die der Anerkennung, der Solidarität, der Inklusion, des pädagogischen Takts – häufig implizit auf unterschiedliche Formen der Verletzlichkeit bezogen. Dabei werden die Vulnerabilitäten der Adressaten (beispielsweise der Schülerinnen und Schüler) wie auch der pädagogisch Handelnden (beispielsweise der Lehrerinnen und Lehrer) verhandelt, erzieherische und unterrichtliche Praktiken fokussiert und institutionelle, organisatorische und gesellschaftliche Voraussetzungen, die Vulnerabilitäten unterschiedlichster Art wahrscheinlich machen, analysiert. Dennoch gibt es bislang keine systematischen Versuche, die Vulnerabilität als grundlegende pädagogische Kategorie auszuweisen.

Das liegt u. a. daran, dass die in den Erziehungswissenschaften dominierenden kategorialen Strömungen seit den späten 1990er Jahren in die entgegengesetzte Richtung weisen. Sie fokussieren ihr Interesse tendenziell einseitig auf die Stärken, die Resilienz, die Kompetenzen und Ressourcen von Individuen und setzen konzeptionell vor allem auf Selbstbestimmung und Empowerment.

Diese Einseitigkeit des Fokus ist jedoch nichts grundlegend Neues, sie hat vielmehr eine historische Dimension. Seit Beginn der Neuzeit sind Topoi wie Verletzbarkeit, Leiden, Zerbrechlichkeit, Hinfälligkeit und Endlichkeit zunehmend problematisch geworden. Sie wurden als Ausdruck eines Mangels, als nicht hinnehmbare Fehlerhaftigkeit und zu korrigierende Schwäche verstanden. Daher wurde ein ganzes Arsenal von »Anthropotechniken« (Sloterdijk 2009) entwickelt, die die Funktion hatten – und immer noch haben –, den Menschen gegen seine Verwundbarkeit zu immunisieren, Mängel zu kompensieren, Fehler zu überwinden und soziale Abhängigkeiten abzubauen. Es wurde der mehr oder weniger systematische Versuch unternommen, all jene Phänomene, die sich unter den Begriff der Vulnerabilität subsummieren lassen, durch Praktiken individueller Ermächtigung und rechtliche Maßnahmen präventiv zu vermeiden, die Wucht ihrer Auswirkungen abzumildern und Verwundbarkeiten durch technischen Fortschritt zu überwinden.

Dieser neuzeitliche Kampf gegen die Vulnerabilität zeigt auch eine gewisse Nähe zum Problem der Theodizee. War im christlichen Mittelalter Gott für die Vulnerabilität und das Leiden in der Welt verantwortlich, so rückte mit dem neuzeitlichen Humanismus der Mensch in diese Verantwortungsposition hinein. Dass »Gott tot ist«, wie Nietzsche behauptete, hatte nicht nur zur Konsequenz, dass der Mensch sich an seine Stelle zu setzen versuchte, sondern auch, dass er fortan selbst für die Übel der Welt verantwortlich war. Nach und nach erwachte das Bewusstsein dafür, dass Krankheiten, Leiden, Armut, Gewalt nicht als unabänderliches Schicksal hinzunehmen sind, sondern durch die Menschen bzw. die Gesellschaft zumindest mitbedingt sind und überwunden werden können.

Daher dürfte heute die Behauptung, menschliches Leiden sei einfach hinzunehmen oder gar als das Ziel oder der Sinn des Lebens zu verstehen, kaum noch Zustimmung finden. Vielmehr gilt die Unterstellung, dass Menschen Lebewesen sind, die primär nicht leiden wollen – und, wie manche hinzufügen würden, auch nicht müssen. Und mehr noch: Zumindest unter den Vorzeichen der Neuzeit scheint die Erfahrung von Verletzung, Leiden, Schmerz usw. stets mit der Forderung nach deren Aufhebung oder Überwindung gekoppelt zu sein.

Diese Beobachtung verweist auf einen ersten zentralen Befund unserer Forschungsarbeit: Viele Beschreibungen und Deutungen der Vulnerabilität haben eine normative Dimension in dem Sinn, dass sie diese als zu überwindendes Übel charakterisieren. Vulnerabilität erscheint als eine kategoriale Dublette, die Faktizität mit Normativität, Deskription mit Präskription unmittelbar verknüpft. Wer Vulnerabilitäten – gleich welcher Art – ausmacht, fordert geradezu in eins damit, diese auch ›aufzuheben‹. Nicht zufällig heißt es in Nietzsches Zarathustra: »Weh spricht: Vergeh!« Allerdings zeigt die Erfahrung, dass Strategien des ›Aufhebens‹ nicht selten ihrerseits neues Leid bzw. neue Vulnerabilität erzeugen.

Das wird gerade an zeitgenössischen Debatten deutlich, die weniger im Kontext von Überlegungen zur Theodizee, sondern vielmehr im Zusammenhang einer Konzeption der Pathodizee stehen. Schlagwortartig kann hier etwa auf René Girards Konzeption des Opfers und des Sündenbocks in seinen historischen Studien zur Gewalt, Emmanuel Lévinas’ ethische Fassung der Verantwortlichkeit angesichts der Verletzbarkeit des Antlitzes, Jacques Derridas dekonstruktive Randgänge der Grenzen des Lebens, Judith Butlers politische Theorie einer performativen Vulnerabilität, schließlich auch an die seit 1948 geführten Debatten und Neuentwicklungen im Rahmen der Menschenrechte, die das Ziel einer Welt ›ohne Furcht und Not‹ implizieren, verwiesen werden. Insofern impliziert die Neuzeit auch eine Geschichte der Vulnerabilität, die bisher allerdings bestenfalls in Ansätzen vorliegt. Diese Geschichte zeigt ein anderes Menschenbild bzw. ein anderes Subjektverständnis, das nicht um Souveränität und agency, um Integrität, Autonomie und Authentizität zentriert ist, sondern bei der Antastbarkeit, Passivität, Fragilität und Dezentriertheit ansetzt. Eine solche Geschichte hätte vor allem die konstitutive Verletzbarkeit des Leibes und die fundamentalen Vulnerabilitäten des Sozialen herauszustellen. Sie hätte aber auch zu zeigen, dass Vulnerabilität eng mit anderen Schlüsselbegriffen insbesondere der Moderne verknüpft ist, etwa der Kontingenz, Pluralität, Komplexität, Offenheit, Unvorhersehbarkeit und Flexibilität, und in der Verknüpfung mit diesen eine wichtige, zumeist aber implizit und untergründig bleibende Bedeutung hat.

Das zunehmende Vulnerabilitätsbewusstsein, das verbunden ist mit der Ambivalenz von Unsicherheit und Risiko, von Schmerz und Leiden auf der einen und von Leidensprävention und -eliminierung auf der anderen Seite, ist ein Produkt der modernen Welt. Indem viele Lebensbereiche und Gewissheiten brüchig, anfällig und fragwürdig wurden, wurde auch ein Bewusstsein für deren Kontingenz und Vulnerabilität geweckt und verfeinert. Dieses zunehmende Vulnerabilitätsbewusstsein zeigt sich etwa in der Rede von der »Kontingenzgesellschaft« (Greven) mit ihren Ambivalenzen und Unsicherheiten, von der »Risikogesellschaft« (Beck) mit ihren Freisetzungen und Unbestimmtheiten, von der »Müdigkeitsgesellschaft« (Han) mit ihren Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Borderline oder Burnout, von der »betreuten Gesellschaft« (Brumlik) mit ihren Unsicherheiten und Hilflosigkeiten, vom »konjunktivischen Existenzmodus« (Gross) mit seinen Alternativen und Zufälligkeiten oder vom »gefährdeten Leben« (Butler) mit seinen Verwundbarkeiten und seinen Verletzungen. Diese und andere Studien zeigen, dass die Vulnerabilität seit mehreren Jahrzehnten in verschiedenen Wissenschaften als relevanter Topos gesehen und durch eine entsprechende Forschung untersucht wird. Das Aufkommen eines expliziten Vulnerabilitätsdiskurses in den verschiedenen Disziplinen ist demnach eine Resonanz auf die Schattenseiten unterschiedlichster Modernisierungs- und Zivilisationsprozesse und deren Auswirkungen in verschiedenen Lebensbereichen.

Wie wir bereits betont haben, ging und geht es in der Neuzeit aber nicht primär um die Anerkennung der Vulnerabilität, sondern um deren ›Aufhebung‹. In diesem Sinn lässt sich die Neuzeit als bis in die Gegenwart fortwirkendes Projekt zur Überwindung der unterschiedlichsten potentiellen oder tatsächlichen körperlichen, psychischen, sozialen, ökonomischen, politischen und pädagogischen Leiden durch medizinische, technische, politische, ökonomische, ökologische und pädagogische Maßnahmen beschreiben. Von geradezu emblematischer Bedeutung für dieses Projekt sind die erheblichen Anstrengungen, die die neuzeitliche Medizin unternommen hat, um eine möglichst weitgehende Schmerzfreiheit kranker (und auch gesunder) Menschen zu erreichen. Insbesondere dort, wo potentielle oder faktische Verletzungen auf menschliches Handeln oder gesellschaftlich hergestellte Lebensbedingungen zurückgeführt werden können, wird das Projekt zu deren Überwindung politisch. Wer sich als Opfer sozialer, politischer oder juristischer Verhältnisse sieht, demonstriert seine Vulnerabilität und fordert damit implizit oder ausdrücklich dazu auf, dieser ›gerecht‹ zu werden. Das Eintreten für die Rechte der Frauen und der Homosexuellen, die alten Friedens- und Ökobewegungen der 1980er Jahre liefern ebenso Hinweise für verletzte Formen der Selbstachtung wie für prekäre politische Situationen oder die Empfindlichkeit des Ökosystems.

Auf der anderen Seite aber haben viele Bemühungen, Verletzung, Schmerz und Leiden zu überwinden, entweder neue Verletzungen, neues Leiden und neuen Schmerz hervorgebracht oder neue Vulnerabilitäten geschaffen. Auch hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. So haben viele Revolutionen, die angetreten waren, mehr oder weniger große Teile einer Bevölkerung von politischer Unterdrückung und Entrechtung, Armut und Gewalt zu befreien, neue Gewaltherrschaften errichtet oder die alte Unterdrückung unter neuen Vorzeichen fortgesetzt. Ein anderes Beispiel ist die moderne Intensivmedizin, der einerseits verschiedene lebensverlängernde Maßnahmen zur Verfügung stehen, deren Anwendung aber immer wieder zu einer Verlängerung des Leidens oder zu einer (zumindest subjektiv so empfundenen) Entwürdigung sterbender Menschen führt. Allgemein formuliert: Viele politische, kulturelle und technologische Versuche, das Leben sicherer und berechenbarer zu machen und sich vorbeugend gegen Unbill und Widerfahrnisse abzusichern, waren teilweise durchaus erfolgreich, haben aber auch neue Probleme, Gefahren und Risiken hervorgebracht. Daher – auch dies ist ein zentraler Befund unserer Untersuchung – erscheint es uns als angemessen, von einer Dialektik der Vulnerabilität in der Neuzeit zu sprechen.

Die Aufhebungsstrategien von Vulnerabilität machen dreierlei sichtbar: Sie verweisen auf das, was sich als aufhebungsresistent jeglichen (bisherigen) Bemühungen entzieht, auf das Unverfügbare und Zufällige des Vulnerablen; zugleich verdeutlichen sie, dass mit den Strategien andere vulnerable Aspekte in den Blick rücken (können); und schließlich entstehen durch die Strategien selbst wiederum neue Vulnerabilitäten. Der moderne Versuch, Vulnerabilität zu minimieren bzw. aufzuheben, verweist auf die Grenzen dieses Versuchs, offenbart weitere Vulnerabilitäten und bringt – paradoxerweise – selbst neue Vulnerabilitäten hervor. Bisher haben sich faktisch alle historischen Versuche, Vulnerabilität aufzuheben oder den Menschen invulnerabel zu machen, als vergeblich erwiesen. Sollte unsere Vermutung, dass Vulnerabilität eine anthropologische Kategorie ist, tragfähig sein, dürfte sich das Projekt der Überwindung von Vulnerabilität insgesamt als illusionär erweisen.

Dass die Vulnerabilität trotz ihrer Mitthematisierung in bestimmten pädagogischen Kontexten bislang nicht zu einem zentralen Topos der Erziehungswissenschaften werden konnte, hängt, wie vorab skizziert, mit einem Grundzug der Neuzeit zusammen. Entgegen der in der Neuzeit virulenten Tendenz, Phänomene wie Verletzbarkeit, Verwundbarkeit, Abhängigkeit, Sterblichkeit und Endlichkeit als Makel oder Schwäche zu deuten, ist dieses Buch ein Versuch, die gängige Debatte durch eine gegenläufige Perspektive zu korrigieren und Vulnerabilität als eine relationale Kategorie zu entwerfen, die sozusagen die unhintergehbare Kehrseite der Debatten um Resilienz, Empowerment, Kompetenz, Integrität, Anerkennung etc. bildet. Hiermit wird die These impliziert, dass diese Debatten nicht hinreichend verstanden werden, wenn ihre Rückseite unerkannt bleibt. Und es wird darüber hinaus angenommen, dass Vulnerabilität als ein erziehungswissenschaftlicher Grundbegriff ausgewiesen werden kann, der die notwendige Bedingung der Möglichkeit für die Diskurse und Praktiken um Resilienz, Empowerment etc. ist. Mit anderen Worten: Ohne die im Hintergrund stehende Vulnerabilität würde der Fokus auf Empowerment, Resilienz etc. keinerlei Sinn ergeben. Vulnerabilität ist die andere Seite dieser Diskurse, die diese implizit immer mitbestimmt, ohne dabei gesondert ausgewiesen zu werden.

In dieser Hinsicht wird die bereits angedeutete Doppelgesichtigkeit des Begriffs der Vulnerabilität höchst bedeutsam. Zum einen liegt seine erziehungswissenschaftliche Relevanz in den durch ihn eröffneten deskriptiven und analytischen Perspektiven, zum anderen in seinem normativen und kritischen Gehalt: Die Feststellung einer Vulnerabilität impliziert immer den Appell oder die Aufforderung, eine Aufmerksamkeit für ihre Spezifität zu entwickeln, sich ihr (pädagogisch) zu stellen und das Vulnerable angemessen zu schützen. Dies wiederum impliziert, dass dem, was als zugleich vulnerabel und schützenswert ausgewiesen wird, stets auch ein gewisser Wert beigemessen wird – sonst gäbe es nichts zu berücksichtigen bzw. zu schützen. Das zeigt unsere bisherige Grundlagenforschung: In der faktischen Verwendungsweise des Vulnerabilitätsbegriffs in den unterschiedlichsten Disziplinen und Forschungszusammenhängen ist ein Umschlagen von Faktizität in Normativität angelegt.

Wie im Verlauf der einzelnen Kapitel deutlich werden wird, hat unsere breit angelegte Rezeption des Forschungsstands in verschiedenen Disziplinen aber auch zu dem Befund geführt, dass der Begriff der Vulnerabilität keineswegs einheitlich definiert und verwendet wird, sondern in verschiedenen Kontexten aufgrund unterschiedlicher theoretischer Vorannahmen, methodischer Zugänge und praktischer Hinsichten unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Er wird beispielsweise in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie bei der Untersuchung der Anfälligkeit technischer Infrastrukturen, der Analyse sozioökonomischer Ungleichheiten oder im Rahmen von gesundheitswissenschaftlichen Forschungen herangezogen. Während etwa Medizin und Psychologie Vulnerabilität primär als individuelle Disposition fassen, akzentuieren die Sozialwissenschaften (manchmal mit dem Fokus auf den Prozesscharakter, manchmal mit dem Fokus auf das Ergebnis) den Aspekt der sozialen Konstruktion von Vulnerabilität. In einigen Kontexten scheint Vulnerabilität geradezu eine Chiffre für zu kritisierende gesellschaftliche Verhältnisse oder Krisenerfahrungen zu sein. Diese Heterogenität der Vulnerabilitätsforschung hat nicht nur zu einer erheblichen Ausweitung des Begriffsumfangs, sondern auch zu einer gewissen Entspezifizierung und Verwässerung seines Bedeutungsgehalts geführt. Die Vieldeutigkeit hängt sicher auch damit zusammen, dass der Begriff durch jeweilige disziplinäre Spezifika – zentraler Forschungsgegenstand, wissenschafts- und erkenntnistheoretische Voraussetzungen, latente anthropologische Prämissen, methodologische Präferenzen, Erkenntnisinteressen usw. – konturiert wird.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Rezeption des Forschungs- und Diskussionsstands in den verschiedenen Disziplinen bzw. Forschungsfeldern mehrere Schwierigkeiten zu bewältigen hat:

1.    die Vielstimmigkeit der Diskurse;

2.    die Vieldeutigkeit der Verwendungsweisen und Bedeutungen und deren jeweilige disziplinäre Kontextabhängigkeit;

3.    schließlich die Abhängigkeit der verschiedenen Modellierungen von Erkenntnis-, Praxis- und Verwertungsinteressen.

Wie der Begriff Vulnerabilität auf Wahrnehmungen, Denk- und Handlungsweisen verweist, die auf die Einhegung oder Aufhebung von Vulnerabilität zielen, so verweist er auch auf Faktoren, die als Ursachen und Gründe für die Aktualisierung der vulnerablen Disposition sorgen können. Wir möchten in diesem Zusammenhang den Begriff der Vulnerantialität einführen. Dieser Begriff bezeichnet komplementär zum Begriff der Vulnerabilität, der die Möglichkeiten des Verletzt-Werdens umfasst, die Möglichkeiten des Verletzens, Beschädigens, Diskriminierens usw. Vulnerabilität erscheint mit Vulnerantialität verschränkt: Man kann sich nur als verletzbar wahrnehmen oder auf diese Weise gesehen werden, wenn gleichzeitig unterstellt wird, dass es auch vulnerante, d. h. verletzende Faktoren gibt, die die Vulnerabilität hervorbringen (können). Vulnerabilität als potentielle oder aktuelle Disposition ist immer von vulneranten ›Momenten‹ und ›Bedingungen‹, die sie ›auslösen‹, abhängig.

Insofern verstehen wir Vulnerantialität als eine heuristisch-analytische Kategorie, die notwendigerweise mit Vulnerabilität zusammen gedacht werden muss, ja, die ein Moment der Vulnerabilität selbst ist. Möglichkeiten des Verletzt-Werdens verweisen auf Möglichkeiten des Verletzens. Ohne diese die Vulnerantialität stets schon implizierende, wenn auch nicht immer explizit auf sie verweisende Doppelseitigkeit würde der Begriff Vulnerabilität überhaupt keinen Sinn ergeben. Wären Menschen (oder Institutionen) nicht verletzlich, könnten sie nicht diskriminiert, destabilisiert oder beschädigt werden – sie wären unverwundbar. Aufgrund dieser Verschränkung verweist jede Theorie der Vulnerabilität zugleich auf Vulnerantialität und vice versa. Hieraus folgt, dass jede erziehungswissenschaftliche Theorie der Vulnerabilität nicht nur zeigen muss, ob überhaupt, inwiefern und warum jemand vulnerabel ist und inwieweit und mit welchen Mitteln dieser Vulnerabilität pädagogisch begegnet werden kann und muss; sie muss auch klären, welche vulneranten Faktoren sich als pädagogisch bedeutsam herausstellen und sich pädagogisch bearbeiten lassen. Die von uns vorgeschlagene begriffliche Differenzierung von Vulnerabilität und Vulnerantialität mag etwas forciert oder künstlich wirken. Da es jedoch in pädagogischer Hinsicht wichtig ist, klar zwischen einer Disposition oder Möglichkeit und den Ursachen und Bedingungsfaktoren für deren Aktualisierung zu unterscheiden, erachten wir die Differenzierung aus analytisch-heuristischen Gründen für sinnvoll.

Mit Blick auf die sich in vielen Beiträgen zeigende terminologische Unklarheit wollen wir ausdrücklich hervorheben, dass sich beide Begriffe auf Potentialitäten beziehen, also auf Voraussetzungen, Möglichkeiten und Aussichten. D. h. konkret: Vulnerabilität meint nicht Verletzt- oder Beschädigt-Sein (wie so häufig in der einschlägigen Literatur, in der die Potentialität der Verletzbarkeit mit der Realität der Verletzung gleichgesetzt wird), sondern nur die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, verletzt oder beschädigt werden zu können. Umgekehrt verweist der Begriff Vulnerantialität nicht auf das Schädigen, Aggressiv- oder Gewalttätig-Sein etc., sondern auf die Möglichkeiten dazu.

Dieses Begriffsverständnis ist auch für die Pädagogik wichtig, weil es zum einen die Möglichkeit eröffnet, nach Ursachen und Voraussetzungen sowohl für spezifische Verletzbarkeiten oder Verwundbarkeiten als auch für potentiell verletzende Handlungen oder Wirkzusammenhänge zu fragen. Zum anderen ist mit ihm ein präventiver Grundzug verbunden. Das Wissen um potentiell verletzende Handlungen oder Wirkzusammenhänge ist Voraussetzung dafür, diese zu entschärfen und tatsächliche Verletzungen zu vermeiden. Darüber hinaus betont das Verständnis von Vulnerabilität als Potentialität deren Relativität und Relationalität. Vulnerabilität gibt es nicht ›an sich‹, sie ist nicht einfach da, sondern lässt sich nur in spezifischen Zusammenhängen, die mit Leiblichkeit, Sozialität und Kulturalität verknüpft sind, wahrnehmen und begreifen.

Vulnerabilität wird insofern in einem doppelten Sinne ›aktualisiert‹ – in einem ›epistemischen‹ und in einem ›ontologischen‹ Sinn. Im ersten Sinn geht es um das, was mit Blick auf Vulnerabilität sichtbar und sagbar ist; hierbei sind epistemische Erkenntnispolitiken und diskursive Formationen entscheidend, die festlegen, was unter spezifischen historischen und kulturellen Umständen als vulnerabel gelten kann. So wird etwa mit der Psychoanalyse Freuds im historischen Rückblick der pädagogische Blick auf frühkindliche und emotionale Vulnerabilitäten enorm erweitert. Mit seinem Fokus auf somatisches Leiden ohne organischen Befund entwickelte Freud nicht zuletzt eine Theorie der sozialen Vulnerabilität, welche gleichsam ›vom Seelenende‹ der Kultur nachgezeichnet wurde.

In einem ›ontologischen‹ Sinn wird Vulnerabilität insofern aktualisiert, als spezifische Umstände und (Schlüssel-)Ereignisse die humanen Verletzbarkeiten zu Tage treten lassen. Wer Schmerzen erlebt, gefoltert wird, an einem Trauma leidet oder Missachtung und Diskriminierung ausgesetzt ist, der erfährt seine Form der Vulnerabilität unter je spezifischen Konstellationen und Kontexten. Im ontologischen Sinne geht es mithin um eine Phänomenologie der Vulnerabilität, um konkrete (individuelle wie kollektive) Erfahrungen von Verletzlichkeit in physischer, psychischer oder sozialer Hinsicht.

Vulnerabilität konsequent als Möglichkeit zu verstehen, bedeutet mithin, sie nicht nur als eine Möglichkeit der Erkenntnis zu verstehen, die erst unter bestimmten Umständen als wirklich verstanden werden kann, sondern auch als eine Möglichkeit der Erfahrung, die erst unter bestimmten, sich realisierenden Bedingungen wirklich werden kann. Diese beiden Fokussierungen führen dann auch zu pädagogischen Fragen nach den Möglichkeiten einer pädagogischen Prävention, die einerseits analytisch-epistemische Fähigkeiten der Wahrnehmung von Vulnerabilität braucht und die andererseits Strategien und Praktiken benötigt, um den auslösenden Bedingungen von Vulnerabilität (und von Vulnerantialität) zuvorzukommen.

Das vorab erläuterte Begriffsverständnis hat eine weitere Implikation, nämlich dass Vulnerabilität als kontingent zu begreifen ist. Damit ist mehreres gemeint: Zunächst, dass ihr Umschlag von der Möglichkeit in die Wirklichkeit der Verletzung selbst nicht notwendigerweise, sondern nur möglicherweise erfolgt. Selbst wenn alle Bedingungen für die Aktualisierung von Vulnerabilität gegeben sind, kann die Verletzung beispielsweise aufgrund einer ausgeprägten Resilienz des betroffenen Individuums, glücklicher Umstände oder gut funktionierender Schutzfaktoren ausbleiben. Aber auch die umgekehrte Relation ist kontingent: Da etwa faktisch eingetretene psychische Verletzungen in vielen Fällen nicht monokausal erklärt werden können, hängt das Schließen von Verletzungen auf die Bedingungen der Möglichkeiten von Verletzung von Erkenntnis-, Bewertungs- und Entscheidungsprozessen, ja, von Erkenntnispolitiken ab, die Vulnerabilität erst zugänglich machen. Dass Vulnerabilität selbst kontingent wird, heißt, sie zu einem problematischen Ort zu machen: Aussagen darüber, wer wie, wieweit und wodurch als vulnerabel zu gelten hat und insofern verletzbar ist, ist einer kontingenten Ordnungslogik von diskursiven und nicht-diskursiven Elementen, von Interessen und Machtkonstellationen anheim gegeben.

Diese Sichtweise führt u. a. zu der Einsicht, dass nicht alle Menschen gleichermaßen vulnerabel sind. Insofern kann zwischen unterschiedlich gelagerten Vulnerabilitäten unterschieden werden: Kinder, kranke, alte und behinderte Menschen sowie Migranten und aktuell Flüchtlinge erscheinen auf den ersten Blick vulnerabler als erwachsene, junge, gesunde und nicht behinderte Menschen (und ›Einheimische‹). Doch was sagt dieser erste Blick schon aus: Auch Erwachsene können krank werden, junge Menschen unter Liebeskummer leiden, Gesunde in einen Unfall verwickelt und nicht behinderte Menschen arbeitslos werden. In diesem Sinne erscheint Vulnerabilität wie ein Widerfahrnis, dem die Menschen auch bei anscheinend optimalen Bedingungen von Resilienz und Empowerment ›ausgesetzt‹ sind. Vulnerabilität erscheint als die latent ›dunkle‹, pathische Seite, die sich immer dann in Erinnerung ruft, wenn Verletzungen und Schädigungen aller Art eingetreten sind. Vulnerabilität lauert wie ein Schatten in der hell ausgeleuchteten und restlos aufgeklärten Moderne.

Anders und mit Blick auf den Begriff der Möglichkeiten formuliert, können im Kontext von Vulnerabilität in einem weiteren Schritt zwei Möglichkeitsbegriffe unterschieden werden, nämlich Möglichkeit als subjektive (Nicht-) Kompetenz oder eigenes (Erleiden-)Können und Möglichkeit als objektives Widerfahrnis oder fremdes Unverfügbares. Auch diese Unterscheidung ist letztlich eine heuristisch-analytische, die auf zwei Seiten einer Medaille verweist: Denn das Widerfahrnis ist ja etwas, das mir widerfährt – würde es mich nicht betreffen, wäre es kein Widerfahrnis; und es kann mich nur betreffen, weil in mir die Möglichkeit des Getroffen-Werdens angelegt ist. Man könnte sagen, dass der Blickwinkel sich ändert: Vulnerabilität wäre insofern von einem (universellen) anthropologischen und dennoch subjektiven respektive individuellen (Un-) Vermögen und gleichzeitig von einem konstellativen, objektiven, nur begrenzt beeinflussbaren Zusammenhang von Erschütterungen in den Blick zu nehmen. Komplementär wäre auch noch ein dritter (dekonstruktiver) Möglichkeitsbegriff zu bedenken, der die Unmöglichkeiten von Möglichkeiten in den Blick nimmt. Diese Perspektive bringt die Grenzen der Vulnerabilität in den Blick, indem sie etwa nachzeichnet, wie ihre diskursiven Bestimmungen und ihre ›blinden Flecke‹ sich historisch entwickelt haben und welche Ordnungen und Praktiken sich der Vulnerabilität verdanken – und welche in keinen Zusammenhang mit ihr gebracht wurden. In dieser dekonstruktiven Lesart geht es also um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Möglichkeitsbegriffs ›Vulnerabilität‹.

Vor dem Hintergrund dieser drei Möglichkeitsperspektiven lässt sich holzschnittartig für die Gegenwart festhalten, dass der moderne (pädagogische) Diskurs etwa mit der Fokussierung auf Resilienz und Empowerment als Versuch verstanden werden kann, die objektiven Widerfahrnisse und das Nicht-Bestimmbare und Unverfügbare von Vulnerabilität als durch das handlungsmächtige Subjekt handhabbar und bewältigbar erscheinen zu lassen – vorausgesetzt natürlich, es verfügt über die dazu notwendigen Kompetenzen. Hierbei kommt das moderne Bedürfnis zum Ausdruck, Autor und Gestalter seines eigenen Lebens zu sein, zum Verwirklicher seiner selbst zu werden – ein Bedürfnis, das die inneren und äußeren Unveränderlichkeiten und Leidensmöglichkeiten, die Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten zu wenig in den Blick nimmt.

Dieses Buch will in einem ersten systematischen Zugang die Thematik der Vulnerabilität für die Pädagogik erschließen. Dies erfolgt in zwei Schritten: In einem ersten, systematisch-historischen Überblick sollen wichtige Grundbegrifflichkeiten einer pädagogischen Theorie der Vulnerabilität zunächst über die für den pädagogischen Diskurs wichtigen Disziplinen gewonnen werden. Die leitende Frage dabei ist: Gibt es in den verschiedenen Disziplinen einen Bedeutungskern, und was bedeutet er für die Erziehungswissenschaft? Es wird sich zeigen, dass Vulnerabilität ohne eine anthropologische Betrachtungsweise nicht sinnvoll gedacht werden kann. Daher werden in einem zweiten Schritt zentrale anthropologische Kategorien wie Leiblichkeit, Sozialität, Kulturalität und Liminalität daraufhin befragt, ob und wie sie für ein pädagogisches Verständnis von Vulnerabilität bedeutsam sind und fruchtbar gemacht werden können. Als anthropologische These lässt sich festhalten, dass Menschen vulnerable Wesen sind, weil sie leiblich, sozial, kulturell und reflexiv verfasste Lebewesen sind. Als solche Lebewesen entwerfen sie Ordnungssysteme, die die Vulnerabilität in unterschiedlichster Art und Weise thematisieren und bearbeitbar machen. Historisch kann nachgezeichnet werden, dass etwa die ideelle, philosophische Kulturgeschichte des Menschen als eine Geschichte der Denk- und Ordnungssysteme potentieller Verletzungen und deren Bewältigung gelesen werden kann. Diese Perspektive nimmt das den systematisch-historischen Teil abschließende dritte Kapitel ein.

Der zweite Teil des Buchs rekonstruiert bedeutsame pädagogische Felder mit Blick auf Vulnerabilität. Die jeweils unterschiedlich gelagerten Forschungen in den Bereichen der Familien- und Schulpädagogik, der Sonder- und Sozialpädagogik sowie der interkulturellen Pädagogik verlangen für eine pädagogische Theorie der Vulnerabilität ebenso eine differenzierende wie eine integrierende Lesart. Denn die unterschiedlichen empirischen, theoretischen, pragmatischen und institutionellen Gegebenheiten – sowie auch deren Verflechtungen mit anderen Teilsystemen der Gesellschaft, etwa der Wissenschaft, der Ökonomie, der Technik oder der Politik – erschweren es zunächst, einen ›Kern‹ des pädagogischen Vulnerabilitätsdenkens zu identifizieren. Aber auch hier verfolgen wir das Ziel, von den verschiedenen pädagogischen Teildisziplinen ausgehend einen Bedeutungskern zu rekonstruieren. Dieser soll dann in seiner Bedeutung zumindest ansatzweise für verschiedene pädagogische Praktiken (Erziehung, Hilfe, Förderung etc.), Zielstellungen (Autonomie, Anerkennung, Inklusion etc.) und professionelle Einstellungen (Empathie, Verantwortung, Selbstkritik etc.) diskutiert werden. Insofern geht es um die Rezeption und Aufarbeitung wichtiger teildisziplinärer Diskurse der Erziehungswissenschaft; des Weiteren geht es um eine Suche nach Konvergenzen, Verbindungslinien und Familienähnlichkeiten, die die einzelnen Diskurse verbinden, aber auch um die Analyse von Diskontinuitäten und Brüchen in diesen Diskursen. Und schließlich geht es zentral um die Herausarbeitung des pädagogischen Gehalts einer Theorie der Vulnerabilität. An dieser Stelle ist anzumerken, dass wir aufgrund der Heterogenität der jeweiligen disziplinären Diskurse und der zumindest in Teilen divergierenden Problemakzentuierungen darauf verzichtet haben, diesen Kapiteln ein einheitliches Gliederungsschema zugrunde zu legen.

Die oben angesprochene Theorie soll in einem abschließenden Kapitel in Umrissen skizziert werden. Dabei greift unser vorläufiges Fazit einerseits die um die Anthropologie zentrierten Überlegungen zur Vulnerabilität im systematisch-historischen Teil auf, um diese dann mit den Rekonstruktionen des zweiten, dezidiert pädagogischen Teils zu verschränken.

In den abschließenden Reflexionen soll dann die grundlegende Bedeutung einer anthropologischen Betrachtung der Vulnerabilität herausgearbeitet werden. Nun soll allerdings mit der hier vorgelegten ersten Skizze, Vulnerabilität als eine grundlegende anthropologische Kategorie auszuweisen, nicht zugleich der Versuch einhergehen, eine Pädagogik der Vulnerabilität zu entwerfen. Wenn es denn plausibel erscheint, Vulnerabilität als eine basale anthropologische Kategorie zu verstehen, dann kommt auch die Pädagogik nicht umhin, sich mit dieser Kategorie auseinanderzusetzen. Es ist allerdings vermessen, mit ihr die Grundlagen eines pädagogischen Systems gewinnen zu wollen, das die Erziehungsziele ebenso definiert wie die Erziehungsmittel, die Erziehungsmöglichkeiten und die Erziehungserfolge. Aber es ist nicht vermessen, Vulnerabilität als ein anthropologisches Regulativ zu verstehen, an dem sich auch pädagogische Theorie und Praxis immer wieder messen lassen muss. Anders formuliert scheint die Kategorie der Vulnerabilität geeignet, für die Pädagogik geeignete normative Implikationen einer anthropologischen Betrachtung zu liefern. Das erscheint auch dringend nötig, wie Überlegungen der Kritischen Theorie verdeutlichen.

Mit der Kritischen Theorie wäre Vulnerabilität im Prozess der bürgerlichen Subjektwerdung qua fortschreitender Naturbeherrschung selbst mitangelegt. Mythos und Aufklärung bilden ineinander verschränkte Formen von Verletzbarkeiten aus, wie Horkheimer und Adorno an prominenter Stelle ausführen:

»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt« (Horkheimer/Adorno 1968, S. 47).

Vor diesem Hintergrund gerät das Verhältnis von Anthropologie und Vulnerabilität in einen gesellschaftskritischen Blickwinkel. Folgen wir der Kritik Horkheimers an der philosophischen Anthropologie, so strebt diese vor allem danach, Geschichtliches zu Übergeschichtlichem zu stilisieren. Anthropologie steht damit unter dem Ideologieverdacht, eine affirmative Wissenschaft zu sein, die den Versuch darstellt, »eine Norm zu finden, die dem Individuum in der Welt, so wie sie jetzt ist, Sinn verleihen soll« (Horkheimer 1935, S. 5). Die universelle Rede von einem Wesen des Menschen verschleiert nach Horkheimers Analyse die Geschichtlichkeit und Überwindbarkeit einer inhumanen und vulnerablen Einrichtung der Gesellschaft. Die anthropologische Behauptung der Gleichheit aller Menschen gerät damit in Widerspruch zu einem dialektischen Gang der Geschichte. Oder in den Worten Adornos: »Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung« (Adorno 2003a, S. 452). Umgekehrt läuft auch eine postmoderne anthropologische Verabsolutierung der Unbestimmtheit, Offenheit und Unergründlichkeit des Menschen Gefahr, diesen als soziales Wesen mit basalen Bedürfnissen, Ängsten und veränderbaren Ungleichheiten zu negieren (vgl. dazu Weiß 2004).

So reicht, wie die Kritische Theorie zu Recht moniert, der legitimatorische Rekurs auf den anthropologischen Gedanken des homo absconditus allein nicht aus, um eine pädagogische und ethische Theorie und Praxis legitimieren zu können, denn: »Dass sich nicht sagen lässt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie, sondern ein Veto gegen jegliche« (Adorno 2003a, S. 130).

Adorno verweist darauf, dass eine solche historische Anthropologie der Offenheit keine Möglichkeiten enthalte, die an den Menschen begangenen »Verstümmelungen«, »Entmenschlichungen« und Verletzungen kritisierbar zu machen, da sie sich lediglich in »Abstraktionen« verliere (ebd.). In diesem Sinne bemerkte auch Max Horkheimer, dass die Anthropologie immer in der Gefahr schwebe, zu viel oder zu wenig über den Menschen zu sagen und insofern dazu neige, »eine Wesensbestimmung des Menschen aufzusuchen, welche die Nacht der Urgeschichte und das Ende der Menschheit überwölbt, und sich der eminent anthropologischen Frage zu entheben, wie eine Wirklichkeit, die als unmenschlich erscheint, weil alle menschlichen Fähigkeiten, die wir lieben, in ihr verkommen und ersticken, zu überwinden sei« (Horkheimer 1988, S. 259).

Vor diesem Hintergrund müssen sich anthropologische Reflexionen in einem ›Zwischen‹ situieren: Sind sie zu konkret, so legen sie den Menschen auf ein bestimmtes Sein fest; sind sie hingegen zu offen, so erscheint alles menschenmöglich – und Grausamkeiten aller Art lassen sich mit dem Hinweis auf die humane Nicht-Festgelegtheit legitimieren. Aus anthropologischer Perspektive, so unsere Vermutung, entzieht sich der negativ konnotierte Begriff der Vulnerabilität sowohl den zu konkreten wie zu offenen ›Rahmungen‹ des Menschen. Und er entzieht sich zudem den affirmativen als auch den differenztheoretischen Fallstricken, den Menschen auf spezifische Eigenschaften festzulegen oder ihn lediglich durch eine Vielzahl von Perspektiven unterschiedlich in den Blick zu bekommen. Der von uns als anthropologische Kategorie konzipierte Begriff der Vulnerabilität verweist einerseits auf eine Grundkonstante des Menschen. Andererseits geht er davon aus, dass der Mensch sich seiner eigenen Vulnerabilität und Vulnerantialität in pädagogischen und außerpädagogischen Zusammenhängen bewusst werden muss, um sich kritisch mit der Sozialität und Kultur auseinandersetzen zu können. Vulnerabilität als anthropologische Kategorie beharrt auf dem Versuch der Bestimmbarkeit des Menschen und ›aktualisiert‹ diese zugleich vor einem historischen und pädagogisch veränderbaren Hintergrund. In diesem Sinne wäre der Versuch, eine pädagogisch-anthropologische Konzeption der Vulnerabilität zu entwickeln, ein implizit negativ konnotiertes und notwendig normatives Unternehmen. Sie bezieht insofern eine angreifbare, man könnte auch sagen: vulnerable Position.

Noch ein Wort zur Entstehungsgeschichte dieses Buches: Dieses Buch ist kein Sammelband, sondern eine gemeinsame Monographie. Zwar zeichnen alle Autorinnen und Autoren für jeweils ein Kapitel verantwortlich, doch der wechselseitige Abstimmungs- und gegenseitige Korrektur- und Ergänzungsprozess, der über mehrere Semester hinweg stattgefunden hat, hat das Werk wirklich zu einem gemeinsamen Projekt, das Buch zu einem gemeinsam verfassten Text werden lassen. Das ist nicht selbstverständlich, bedenkt man, dass die Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen disziplinären Zusammenhängen der Erziehungswissenschaft stammen, nämlich aus der Allgemeinen Pädagogik und aus der Heil- und Sonderpädagogik. Wir hoffen nun, dass das gemeinsam vorgelegte Resultat auch bei den Leserinnen und Lesern den geschlossenen und stringenten Eindruck macht, den es in unserer Arbeitsgruppe hinterlassen hat. Und da wir die Thematik der Vulnerabilität für die Pädagogik für einerseits sehr bedeutsam halten und andererseits der Meinung sind, diese Thematik mit diesem Buch nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht zu haben, werden wir uns in unserem nächsten Projekt mit den Theorien und Modellen der Vulnerabilität in pädagogischer Perspektive noch einmal eingehender beschäftigen.

Bedanken möchten wir uns bei zwei Mitgliedern aus unserem gemeinsamen Arbeitskreis, die in diesem Buch nicht vertreten sind, obwohl sie an vielen Diskussionen über Vulnerabilität teilgenommen haben: Svenja Meuser und Juliane Noack Napoles.

 

1          Das Thema Vulnerabilität in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen

 

 

Der Begriff Vulnerabilität ist vielseitig und bezeichnet vor dem Hintergrund unterschiedlicher Disziplinen teilweise stark voneinander abweichende Phänomene. Vulnerabilität meint im Wesentlichen den Grad der Risiko- bzw. Schadensanfälligkeit oder auch -ausgesetztheit von Personen, Personengruppen, Gesellschaften, Infrastrukturen, Systemen und (Lebens-)Räumen und wird auf verschiedene Kontexte – soziale, politische, ökonomische, geographische, klimatische oder seit kurzem auch pädagogische usw. – angewandt (vgl. Weichselgartner 2001).

Je nach Kontextualisierung erhält der Vulnerabilitätsbegriff einen anderen Bedeutungsschwerpunkt. Seit einiger Zeit taucht der Begriff der Vulnerabilität mit zunehmender Häufigkeit in verschiedenen disziplinären Zusammenhängen auf, wird allerdings durch z. T. höchst unterschiedliche Indikatoren determiniert und mit Hilfe verschiedenster Untersuchungsmethoden erhoben (vgl. Bender/Schaller 2014, S. 96f.). Das verbindende und auch »nützlichste Element des Vulnerabilitätskonzeptes ist die Vorstellung, dass eine Gefahr nicht unmittelbar in ein Risiko übersetzt werden kann. Vielmehr beschreibt die Vulnerabilität das Maß der Verwundbarkeit in Bezug auf eine gegebene Gefahr« (ebd., S. 97). Die jeweilige Verletzbarkeit setzt sich aus nachteilig wirkenden Faktoren und vorteilhaften Anteilen zusammen. Neben einer (potentiellen oder tatsächlichen) Anfälligkeit beinhaltet das Konzept der Vulnerabilität zugleich stets verfügbare Bewältigungs- und/oder Anpassungsstrategien: Risiken und Ressourcen bilden die Komponenten von Vulnerabilität.

Im internationalen Vulnerabilitätsdiskurs wird ein enger Zusammenhang von Öko- und Sozialsystemen angenommen (vgl. Bürkner 2010, S. 8). Aus der Ökologieforschung gewonnene Erkenntnisse zur Vulnerabilität werden mit Ergebnissen anderer Disziplinen, z. B. der Soziologie, verknüpft und Vulnerabilität als »Interaktion von Mensch und Natur« (ebd., S. 7) bzw. »gesellschaftliche Produktion« (ebd., S. 8) betrachtet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beispielsweise nimmt entsprechend politische, ökonomische und soziale Ursachen für eine erhöhte Vulnerabilität im Zusammenhang mit Naturkatastrophen und anderen Bedrohungen in den Blick (vgl. WHO 2012b, o. S.). Im deutschsprachigen Raum sind seit den 1980er Jahren die klassischen Referenzfelder der Vulnerabilitätsforschung ebenfalls die Ökologie, jedoch ohne eine »tief reichende gesellschaftstheoretische Verankerung« (Bürkner 2010, S. 10), und die Psychologie als Teilbereich der Medizin. Dort hat der Vulnerabilitätsbegriff auch seinen Ursprung und bezeichnet die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers und der Psyche. Ausgehend von diesen Feldern hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff in angrenzenden Disziplinen etabliert. Über den Bereich der Psychologie und Medizin (1) sowie der Ökologieforschung (2) hinaus gewinnt er nunmehr in verschiedenen Feldern der Politik und Politikwissenschaften (3) an Bedeutung, bildet eine in Philosophie (4) und Theologie (5) vieldiskutierte Kategorie und ist relevant für (sozial-)pädagogische Arbeitsfelder (6).

Je nach Disziplin oder in der jeweiligen Disziplin eingenommener Perspektive kann Vulnerabilität einerseits gegenständlich-konkret gefasst werden und verweist dabei auf physische und psychische Verletzbarkeit, andererseits kann sie als Modell oder gedankliches Konstrukt dienen, um latente oder symbolische Verwundbarkeiten zu beschreiben. Eine weitere Differenzierung zeigt sich in der Bewertung von Vulnerabilität. Während sie innerhalb einiger Disziplinen, z. B. der Ökologieforschung, als negative und daher zu überwindende Eigenschaft betrachtet wird, sehen wieder andere Disziplinen, z. B. die Theologie, sie als neutrales bis positives und daher anzunehmendes oder gar wertzuschätzendes Attribut. Erkennbar wird bereits an dieser Stelle die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Vulnerabilität, um die Mannigfaltigkeit des Begriffs und seiner Verwendung erfassen zu können. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle ein Überblick über das Thema Vulnerabilität in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erfolgen, um die Hintergründe und Sinnzusammenhänge des Vulnerabilitätsbegriffs aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und so Gemeinsamkeiten der Diskurse, die das Feld der Vulnerabilitätsforschung konturieren, herauszuarbeiten. Dies soll ein umfassendes und tiefergehendes Verständnis von Vulnerabilität ermöglichen sowie Zusammenhänge mit dem pädagogischen Diskurs aufzeigen.

Medizin und Psychologie

Der begriffliche Ursprung von Vulnerabilität wird in der Medizin verortet. Bereits im 19. Jahrhundert ist der Vulnerabilitätsbegriff in Deutschland in medizinischen Lehrbüchern zu finden. Vulnerabilität wird dabei jedoch noch nicht einheitlich gefasst und u. a. als Bezeichnung für die Empfindlichkeit von Nerven und Gefäßen verwendet, als Begriff, der die Anlage für Lungenschwindsucht anzeigt sowie zur Beschreibung von Krankheits- und Schadensanfälligkeit des Körpers allgemein (vgl. Albrecht et al. 2012, S. 11f.). Laut Duden wird der Vulnerabilitätsbegriff in der Medizin auch heute noch besonders häufig verwendet und bezeichnet die Verwundbarkeit »von Organen oder Gefäßen, die nahe an der Körperoberfläche liegen« oder auch die Störanfälligkeit innerhalb physiologischer Prozesse (vgl. Duden 2013, o. S.). In der Kardiologie wird ein Zeitraum im Herzzyklus, in dem die Anfälligkeit für Herzflimmern erhöht ist, als vulnerable Phase bezeichnet (vgl. Roche Lexikon Medizin 2003). Was auch immer genau unter medizinischer Vulnerabilität verstanden wird, in erster Linie wird sie innerhalb der Medizin als substantiell – konkret sichtbar und gegenständlich – aufgefasst.

Vulnerabilität spielt allerdings auch als medizinisches Erklärungsmodell, das nicht auf direkte physische Verwundungen verweist, eine Rolle, beispielsweise in der Stressforschung und der psychosomatischen Medizin. Dort dient sie als »Konstrukt, mit dem individuelle Dispositionen erkannt werden können, die zu Krankheiten führen« (Dorsch Lexikon der Psychologie 2015, o. S.). In der Stressforschung wird Vulnerabilität als Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten verstanden, die sich aber als solche erst in Kombination mit äußeren Stressfaktoren manifestieren:

»Diathese-Stress-Modelle, auch Vulnerabilitäts-Stress-Modelle genannt, betrachten Krankheit als das Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen einer Person und äußeren Belastungsfaktoren. Unter Diathese versteht man all die Faktoren einer Person, die sie für eine bestimmte Krankheit besonders anfällig machen – anlagebedingt oder erworben« (Franke 2012, S. 158).

Anwendung finden Diathese-Stress-Modelle beispielsweise in der Allergologie oder zur Erklärung von Psychopathologien sowie ferner in der Verhaltensforschung und Psychosomatik, »da sie es ermöglichen, die besondere Bedeutung krankheitsauslösender Ereignisse angemessen zu berücksichtigen« (ebd., S. 161).

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