Buchcover

Robert Heymann

Ein Bettler baut eine Stadt

Roman

Saga

1

Knut Storting ging müde den Broadway hinunter.

„Mord in Manhattan!Missionär Whitman erschießt ein Girl!“ Ein Zeitungsboy schreit die rotflammende Überschrift aus, springt in eine Pfütze, daß das Wasser an Knut emporspritzt.

Mit einem lauten „Halloh!“, mit hochflatternder roter Haarfahne jagt der Junge weiter. Omnibusse schwanken mit ihrer lebenden Fracht vorbei. Menschenwogen treiben dahin, die Autos bilden eine schwarze Schlange.

Knut Storting geht und geht mit großen mechanischen Schritten den endlos langen Broadway entlang von der Houston-Street fast bis Battery. Der Lärm verebbt. Das Rauschen des Hudson springt auf. In der Weststraße stehen noch einfache Häuser. Aus kleinen Läden schauen neugierige, behäbige Leute. Von den Hobokener Piers heult der Lärm des Hafens. Knut nähert sich dem Kai. Träge, mit Fracht und Nebel beladen, wälzt sich der Fluß dahin.

Der Deutsche lehnt sich über das niedrige Eisengeländer. Schaut zu, wie die Leute arbeiten. Einer nach dem anderen treten sie an den Bretterstapel heran, laden auf, soviel sie tragen können, schreiten mit ihrer Last über die schmale Planke nach dem Kahne hinüber. Wie Maschinen sind sie, kein überflüssiges Wort fällt. Nur hier und da ein kurzer Zuruf.

„Kann man bei euch nicht ankommen? Ich suche Arbeit.“

Der Mann wischt sich mit dem braunen Handrücken die Tropfen von der Stirn. „Wird nichts werden. Der Boß nimmt keinen, den er nicht kennt.“ Schwankt mit seiner Bretterladung wieder dem Kahne zu.

Die Vormittagssonne liegt in den weißen Straßen. Der Himmel steht dunstig über den Steinriesen im Hintergrund. Bald liegt der Fluß weit hinter dem Fremden. Die kleinen Gärten werden ungepflegter. Plätze, auf denen Gerümpel aller Art abgelagert ist, schieben sich dazwischen. Ein verrotteter Zaun hängt windschief und verwittert. Kein Bild, als ob in dieser Gegend Beschäftigung für einen Hungernden zu finden wäre.

Endlich! In einem chinesischen Restaurant wird ein Tellerwäscher gesucht. „Dishwasher wanted.“ –

Er hatte Glück:

Ein Raum, dessen Fenster den Blick auf den Asphalt der Straße freigab. Dann und wann huschte ein zierlicher Damenschuh mit einem durchsichtigen Strumpfansatz vorüber. Die Tellerwaschmaschinen drehten sich unablässig. Rollend kam der Fahrstuhl ununterbrochen von oben mit Bergen voll Geschirr.

Die Maschine wusch die Teller und schob sie nach einigen Umdrehungen gleich getrocknet wieder heraus. Knut nahm sie in Empfang, hielt die Maschine in Schwung und sorgte, daß das saubere Geschirr gleich wieder durch den Aufzug nach oben befördert wurde.

Drei Mann arbeiteten mit ihm schweigend und ohne Unterbrechung. In einem nebenan gelegenen Raum sang halblaut ein Mann. Dort befanden sich zwei Kupferputzer. Das waren die Männer, die die Kochtöpfe und das Küchengeschirr säubern mußten. In einer Ecke ging klappernd die Gläserwäsche vor sich. Es war ein kleines Hotel für sich hier unten, ein Reich, das den neuen Tellerwäscher in Erstaunen und Verwunderung versetzte.

*


Er wollte vergessen.

Aber er konnte es nicht. Ein Mädchengesicht stand in seiner Erinnerung immer über dem seinen. Ihre zärtlichen Augen verließen ihn nicht.

In seinem engen Zimmer studiert er täglich die Stellenangebote. Er will nicht Tellerwäscher bleiben. Er hat ein kleines Zimmer draußen am Hudson, das er mit einem Gelegenheitsarbeiter teilt.

Im angrenzenden Zimmer spielt jemand Klavier. Das macht ihn nervös. Er wirft die Zeitung hin und läuft auf und ab. Da singt eine ungeschulte, aber weiche Mädchenstimme:

„Dort, wo der Rhein mit seinen grünen Wellen –“

Knut steht mitten im Raum, horcht auf das leise Schluchzen des nie gesehenen Mädchens, sein Herz klopft bis zum Halse.

Heimweh! Heimweh nach Deutschland!

Die Vergangenheit stürzt herauf.

Zwei Jahre Leben! – Welch ein Leben!

Deutschland! Berlin! Ly!

Wie ein Film zieht sein Leben vorüber. Frauen, Sturm und zerstörte Hoffnungen. Alles wie ein Traum.

Er sieht sich wieder in Berlin.

Eben hat Knut Storting, Dr. phil., seinen Vortrag beendet. Die Zuhörer: Studenten, die zu wenig Geld besaßen, um sich zu zerstreuen. Arbeiter, bildungshungrig oder unzufrieden. Endlich einige intellektuelle Neugierige – diese kleine Zuhörerschaft von etwa dreißig Menschen applaudierte ein wenig und entfernte sich lachend und schwatzend. Der junge Mann mit dem schlecht gestutzten Haar und dem nervösen, übernächtigen Gesicht sah ihnen schweigend nach. Hatten sie ihn verstanden? Rückkehr zur Natur! Die Zivilisation ist eine Brücke des Todes über die zersprengte Natur, über die vergewaltigte Welt. Alle Errungenschaften der Technik, laut bejubelt, sind Erscheinungen des Abstiegs, der Selbstvernichtung. Erkenntnis dieses sogenannten Fortschritts muß zur Einschränkung der Zivilisation, zu ihrer Bekämpfung führen. Es gibt keine Lösung der sozialen Frage, der Staatsformen und der Lebensprobleme mit Schema und Dogma. Es gibt nur eines: Zurück zur einfachen Lehre vom Menschenwert. Versöhnung durch Erziehung der Jugend zum Respekt vor Mensch, Tier, Leben. Abschaffung des Telephons, des Radios, der Eisenbahnen. Vegetarismus – Primitivität. – – –

Auf der Straße stehen Zuhörer in einer Gruppe beisammen. Ly von Holgen hat den Chauffeur nach Hause geschickt. Sie hört recht gut, was sie sagen: daß Stortings Vorträge so etwas wie eine bessere Witzkiste seien. Man könne sich da fabelhaft unterhalten. –

„Was willste mehr? – Ohne Eintrittskarte bei den schweren Zeiten, und dabei Kino!“ Sie fiebert. Jedes Wort des Hohns brennt in ihr. Gestern war Tante Claire, die schöne Gattin des Oberregierungsrats Rohden, zu Besuch bei Mama gewesen. „Kind“, sagte sie zu Ly, „über dich habe ich mich königlich unterhalten! Ich ritt durch den Tiergarten – da sehe ich ein Paar – dich – und einen Mann – na, einen Mann – – –“

„Wer war denn das, Ly?“ fragte die Mutter dazwischen.

Ehe eine Antwort kam, prustete Tante Claire los:

„Also, du kannst dir das einfach nicht vorstellen! Irgendein Bildungsschwarm von Ly. Graugrüner Mantel, Beinkleider fransig – ein unmöglicher heller Hut – Locken – Lo – cken! – Kinder! Ein Mann mit Locken! Aus einer Nestroy-Posse!“

Ly, Tränen in den Augen, hatte erwidert:

„Mein ehemaliger Lehrer, Mama. Dr. Storting.“ Und zu Tante Claire gewandt: „Es kann nicht jeder beim ersten Schneider arbeiten lassen – und spazieren reiten! – Mussolini hat gebettelt, ehe er – –“ Sie schluchzte.

Tante Regierungsrat sagte ein paar einlenkende Worte. Frau von Holgen zuckte die Achseln – – –

Eben kommt Knut Storting. Unrasiert – zerstreut. Ly zieht ihn schnell fort. „Begreifst du denn immer noch nicht, Knut, daß man deine Ideen nicht versteht, nicht verstehen will?“ sagt sie, während sie langsam durch eine dunkle Nebenstraße gehen. „Man macht sich ja lustig über dich!“

„Man hat sich noch über jeden Reformator lustig gemacht, ehe man ihn begriff“, antwortet Knut mit einer nervösen Handbewegung. „Ist das deine Begrüßung? – Nachdem wir uns drei Wochen nicht gesehen haben?“

Er sah ungepflegt aus, müde, verstaubt.

Diese Verwahrlosung stieß sie ab. Immer mehr drang der Verdacht in ihr durch, daß die andern recht hatten, die ihn verlachten. Sie sagt im Tone spitzen Vorwurfs, die Pflege des äußeren Menschen sei auch ein Stück Kultur.

Er lacht bitter.

„Wenn du wüßtest! Nein, es muß sich ja alles wenden! ... So oder so. – Entweder ich dringe durch, und man hört mich, oder“, und ganz unvermittelt: „... ich habe ja nicht einmal ein Nachtquartier.“

Sie bleibt entsetzt, fassungslos stehen: „Du – hungerst wohl auch?“

Er schweigt.

Sie ist so niedergedrückt, daß sie kein Wort hervorbringen kann.

Ein Bettler!

Ein armseliger Bettler, ohne Heim, ohne Haus! Der Stolz ihrer Rasse bäumt sich dagegen auf, das Schicksal eines verlachten Narren zu teilen.

Der Fluch der Lächerlichkeit, der ihn umgab, zernagte ihre Liebe.

Sein Optimismus sah immer wieder den Sieg voraus. „Bis jetzt habe ich nur Niederlagen erlitten, Enttäuschungen um Enttäuschungen waren mir beschieden. Doch solange ich weiß, daß du zu mir hältst, Ly, gehe ich nicht unter. Ich gebe aber auch nicht nach. – Der Tag wird kommen, an dem Oberregierungsrat Rohden bei mir um eine Anstellung betteln wird, nachdem er mich jetzt auf die Straße gesetzt hat.“

Ly ist vollkommen überreizt. Sie verabschiedet sich rasch mit Ausflüchten, die ihn verwirren und zu keiner Antwort kommen lassen.

Zu Hause bestürmte sie den Vater, die geplante Abreise nach der Riviera zu beschleunigen.

Am nächsten Tag stellte sie Onkel Rohden vor, daß es ein Unrecht sei, den langjährigen Redakteur seines Verbandsblattes einfach wegzujagen.

Rohden zuckte die Achseln.

„Die Blamage wuchs ins Unerträgliche. Ich hatte Geduld genug gezeigt. Er muß eben wieder Privatlehrer werden.“

Ly sah Knut vor ihrer Abreise nicht mehr. Aus Nizza sandte sie ihm einen Brief. Entschuldigte ihre schnelle Abreise mit der Erkältung ihres Vaters und bat, Knut möchte alle seine Kraft aufbieten, sich einer neuen Laufbahn zuzuwenden, die seinem Können entspräche und ihn nicht länger außerhalb der Gesellschaft stellte.

Knut Storting schrieb Ly fast jeden Tag, denn er hielt mit der Treue des Fanatikers an der Überzeugung fest, daß sie trotz dieser plötzlichen Abreise ihm nach wie vor ergeben war.

Er wurde Schriftsteller und übersiedelte nach München. Im Süden, dachte er, kommt mir die Kraft des Siegers.

Aber der Fluch der Lächerlichkeit folgte ihm auch nach München. Er ertrug sie mit stoischer Ruhe. Er fand wenigstens seinen vorläufigen Unterhalt als Korrektor bei einem Verlag, wo man ihn halb aus Barmherzigkeit aufgenommen hatte.

In seinen freien Stunden arbeitete er ein Werk aus, in dem er seine idealen und reformatorischen Grundsätze vertrat. Einfach und zurückgezogen lebte er in dem äußeren Schwabing und arbeitete Tag und Nacht.

Obgleich ihm Ly immer seltener schrieb und ihre Briefe immer unpersönlicher wurden, klammerte er sich fester denn je an diese Liebe, die nur noch ein Phantom war.

Sein neues Werk im Verlage Schematzky erregte nach Erscheinen Aufsehen. Zum erstenmal las er in den Zeitungen Berichte, die sich nicht in ironischer Form mit ihm befaßten.

„Ich werde nun reich werden“, sagte er zu seinen Freunden.

„Mit einem Lehrstuhl als Dozent an der Universität wird es zwar nie etwas werden, das habe ich schon eingesehen. Aber mein Buch wird mir jetzt den Weg zu neuen Werken ebnen.“

Er berechnete, daß das Erträgnis einiger Auflagen hinreichen würde, ihm die Mittel zur Gründung eines Hausstandes zu verschaffen.

„Haben Sie sich auch Ihre Tantiemen gesichert?“ fragte man ihn.

„Natürlich – das heißt – Schematzky ist ein Ehrenmann! Seine Überzeugungen decken sich vollkommen mit meinen eigenen!“

Knut Storting sah kein Geld. Im Gegenteil! Schematzky wußte ihn zu überzeugen, daß zu dem gesteigerten Absatz unbedingt Reklame nötig sei, die der Verlag bei seinen großen Spesen nicht aufwenden könne.

Knut gab seine geringen Ersparnisse und machte zum ersten Mal in seinem Leben Schulden.

Wenige Wochen später war der Verleger verschwunden. Was er an Außenständen hatte eintreiben können, hatte er mitgenommen.

Das war ein harter Schlag für Knut, denn der Ungar hatte einen Teil der Auflage des Buches, ebenso wie andere Werke, verschleudert, ehe er geflüchtet war.

Die Angelegenheit sollte aber noch ein weit schlimmeres Nachspiel haben.

Schematzky hatte ihm zu einigen Darlehen verholfen. Knut hatte ihm Blankowechsel gegeben, die der Ungar mit weit höheren Summen ausfüllte, als Knut in seiner Lage bezahlen konnte.

Er verkehrte damals mit einigen Studenten, die von Hause aus reich waren.

Deren Unterschriften hatte. Schematzky als Bürgen auf die Wechsel gesetzt.

Beim Fälligkeitstermin stellte sich die Fälschung heraus, ohne daß sich der Verdacht zunächst auf Schematzky richtete. Knut Storting wurde der Fälschung bezichtigt. Da er sich vor dem Untersuchungsrichter ungeschickt verteidigte und auch noch bestrebt war, den flüchtigen Schematzky nach Möglichkeit zu schonen, so wurde die Untersuchungshaft über ihn verhängt. –

Er ging in seiner Zelle auf und nieder, auf und nieder.

Vier kahle Wände.

In dem engen Gitterfenster ein fahles Halbdunkel. An besonders hellen Tagen, wenn die Sonne sogar in diesen düsteren Gefängnishof ihren Weg findet, ein blauer Fetzen des Himmels.

Da saß er auf dem Rand seiner Pritsche und dachte nach.

Oder besser, er dachte an nichts. Er empfand nur:

Warum muß ich hier sitzen? Warum tut man mir diese ungeheuere Marter an, mir, dem die Freiheit das allerhöchste Gut auf Erden ist?

Die Stunde stand still mitten im Räderwerk der Zeit.

Erst erfaßte ihn qualvolle Verzweiflung. Dann, als die Tage in bleierner Schwerfälligkeit dahingingen, begann er sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen.

Er huldigte den Grundsätzen Spinozas: in der Natur gibt es nichts Zufälliges. Alles ist vielmehr aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu sein und zu wirken.

Wenn ich also dieses Leid und diese Demütigung unschuldig auf mich nehmen muß, dachte er, so muß doch irgendeine andere geheimnisvolle Schuld gegen mich oder andere auf mir lasten, daß ich diese Prüfung bestehen muß. – Da kam er dann, als er sich mehr und mehr Lys Worte in die Erinnerung zurückrief, ja, als sie erst eigentlich in ihm zu klingen begannen, zu der Einsicht, die sie ihm so oft gepredigt: daß er in dem ewigen Suchen nach Dingen, die nicht waren, sich selber ganz verloren hatte. Daß er wohl in der Welt gelebt, aber keine Fühlung zu ihr gefunden hatte. Darum mußte wohl, früher oder später, dieses Leid über ihn kommen und ihm die Augen öffnen.

Ly hatte es ihm immer prophezeit.

Allmählich wurde er ruhiger. Was Monate und Jahre nicht vermocht, das vollbrachten jetzt Stunden. Eine neue Erkenntnis seines inneren und äußeren Lebens brach sich in ihm Bahn. Er versuchte mit der Elastizität der Jugend allmählich wieder ins rechte Gleis zu kommen. Den verlorenen Weg ins Leben zu finden.

Er begriff wie nie zuvor den Segen der Arbeit. Einer praktischen und gesunden Tätigkeit, an die er, wenn er seine Fähigkeiten überdachte, wirklich fruchtbare Erwartungen knüpfen durfte.

Er fühlte sich jetzt stark genug, alle Hindernisse zu überwinden.

In dem Maße, wie er seines neuen Erfolges sicher wurde, der ihm das Recht gab, Ly zu sich zu rufen, wuchs seine Zärtlichkeit für sie.

Im Bewußtsein seiner völligen Unschuld nahm er es als selbstverständlich an, daß ihre Treue durch nichts erschüttert werden konnte.

In Wahrheit war die Nachricht von der Verhaftung Dr. Knut Stortings, die durch alle Zeitungen ging, für Ly der letzte beschämende Rest einer unglückseligen Verirrung. Knut war ihr bereits ein Fremder geworden. Sie bemitleidete ihn, machte sich aber kaum einmal klar, ob er schuldig oder unschuldig sein mochte.

Ja, diese Katastrophe erfüllte sie mit einer gewissen Befriedigung. Sie gab ihr nun vor dem eigenen Gewissen das Recht, die letzte künstlich gepflegte Verbindung mit Knut abzubrechen.

Den ungarischen Behörden, die auf das energische Drängen der deutschen Gerichte hin sich lebhaft bemühten, des flüchtigen Buchhändlers Schematzky habhaft zu werden, war es endlich gelungen, ihn zu fassen.

Nun näherte sich die Voruntersuchung gegen Knut Storting rasch ihrem Ende. Der Untersuchungsrichter sah ein, daß er voreilig gehandelt hatte. Es war jetzt klar, daß Schematzky allein die Fälschung der Unterschriften auf den verschiedenen Wechseln vorgenommen hatte. Als er sich zu einem Geständnis bequemte, wurde Knut Storting aus der Haft entlassen. Der Untersuchungsrichter bat ihn zu sich und drückte ihm sein Bedauern über den Mißgriff aus. „Wir sind eben auch nur willenlose Diener unserer Pflicht“, sagte er.

Knut, der in der Zeit der Untersuchungshaft um Jahre gealtert war, unterbrach den Beamten mit dem ihm eigenen Lächeln: „Schweigen wir darüber! – Wer von uns Menschen irrt nicht? Und schließlich hat jedes Unrecht seine besondere Bedeutung, denn wir sind alle Werkzeuge einer höheren logischen Macht. Dieses mir scheinbar zugefügte Unrecht war ein notwendiges Glied meiner inneren Entwicklung.“

Der Beamte sah den jungen Philologen verwirrt an. Er hatte heftige Vorwürfe erwartet.

„Ich werde Ihnen ein Taxi holen lassen. Wollen Sie inzwischen die Zeitung lesen?“

Er reichte Storting die Augsburger Abendzeitung und machte sich wieder über seine Arbeit.

Knut dankte.

Plötzlich fuhr er mit einem dumpfen Aufschrei in die Höhe. Seine Hände krampften sich um das Schreibpult des Richters, daß die Eichenbretter knarrten. Eine fahle Blässe überzog sein Gesicht.

„Was ist Ihnen?“ fragte der Beamte erschrocken und wollte um Wasser klingeln, aber Storting fiel ihm in den Arm. Dann sank er kraftlos auf seinen Sessel zurück.

„Es ist schon vorüber.“

„Ein Unwohlsein? Glauben Sie, daß Sie gesundheitlich gelitten haben?“

„Nein! Durchaus nicht! Ich las nur – eine Notiz!“ Seine Augen verschleiern sich. Er preßt plötzlich die Hand mit einer zuckenden Bewegung gegen den Mund, als wollte er einen Aufschrei unterdrücken. Nur ein dumpfes Stöhnen quillt zwischen den halbgeöffneten Lippen hervor.

„Was ist eine unschuldig erduldete Untersuchungshaft, was sind Täuschungen des Lebens gegen das?“

„Was meinen Sie?“

Er hört den Richter nicht, murmelt nur so vor sich hin, als wollte er die Qual durch den Klang ihres Namens noch verschärfen.

„Ly! Ly von Holgen, Legationsrat Graf Seefeld in Rom. Verlobte!“

Dem Richter dämmert leises Verständnis auf.

„Sie kannten die Dame?“

Knut schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

„Ich kannte sie? Sie war meine Braut!“ Leiser fuhr er fort: „Braut – was bedeutet das? Das ist ein Schall, ein Wort, ein Nichts! Mir war sie das Ziel, und ein Ziel müssen wir alle haben, ob es nun ein elendes Ziel ist, ein Phantom, ein häßliches oder ein niedriges Ziel – ohne Ziel können wir nicht leben! Ohne Ziel kommen wir nicht vorwärts.“

Der Beamte stand betroffen vor diesem Ausbruch. Er atmete auf, als der Gerichtsdiener eintrat und meldete, daß das Auto warte.

„Sie können nach Hause fahren, Herr Dr. Storting!“

Der sah ihn mit irren Augen an, dann lachte er kurz:

„Ich kann nach Hause fahren! Leben Sie wohl!“

Nun – dann bezahlten ihm mitleidige Freunde die Überfahrt nach Amerika.