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Titelseite

Alle Rechte vorbehalten

Cover: JaeHee Lee

Zum Schutz der Privatsphäre handelnder Personen wurden in diesem Buch alle Namen, persönliche Merkmale jeder Art, Funktionen und teilweise auch zeitliche Abläufe geändert.

Dieses Buch entstand im Respekt vor meinen Kollegen bei Apple und dem Konzern Apple selbst, der einst technologische Revolutionen ermöglicht hatte und derzeit als Arbeitgeber die Existenzgrundlage von mehr als 100.000 Menschen bildet.

Es entstand als Inspiration für Verbesserungen im Inneren sowohl des Unternehmens Apple als auch anderer Unternehmen mit vergleichbaren Strukturen.

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ISBN 978-3-99001-227-7

Der Philosoph Immanuel Kant meinte, dass der Mensch ein Zweck an sich sei und demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden darf.

Für alle, die Menschwürde ebenso empfinden.
Für alle, denen es auch reicht.
Für uns alle.

INHALT

VORWORT

TEIL 1
ENTHUSIASMUS

TEIL II
DEMÜTIGUNG

TEIL III
HOFFNUNG

EPILOG

DANKSAGUNG

Listen –

What people do to other souls

They take their lives, destroy their goals

Their basic pride and dignity
is stripped and torn
and shown no pity

When this should be
heaven for everyone

Horch –

Was Menschen anderen Seelen antun

Sie nehmen ihr Leben, rauben ihnen die Ziele

Ihr Stolz und ihre Würde
Ist zerpflückt und zerrissen
Und niemand zeigt Erbarmen

Wo dies doch der Himmel für jeden sein sollte

Queen, Heaven for Everyone, 1988

»Bleiben Sie hungrig, bleiben Sie verrückt«

Am 12. Juni des Jahres 2005 hielt Apple-Gründer Steve Jobs vor Studenten der Stanford University eine legendäre Abschlussrede, hier im Wortlaut.

»Es ist mir eine Ehre, bei Ihrer Abschlussfeier an einer der renommiertesten Universitäten der Welt dabei sein zu dürfen. Um ehrlich zu sein, ich selbst besitze keinen Collegeabschluss – und so nah wie heute bin ich einem solchen Abschluss nie zuvor gekommen. Ich möchte Ihnen heute drei Geschichten aus meinem Leben erzählen. Das ist alles. Nichts Besonderes. Nur drei Geschichten.

Bei der ersten Geschichte geht es darum, Zusammenhänge zu erkennen.

Mein Studium am Reed College habe ich nach den ersten sechs Monaten abgebrochen. Danach blieb ich aber noch und besuchte für weitere etwa anderthalb Jahre das College immer mal wieder, bis ich das Studium endgültig abbrach. Warum habe ich das getan? Das hat schon vor meiner Geburt begonnen. Meine leibliche Mutter war eine junge, unverheiratete Studentin, die sich entschied, mich zur Adoption freizugeben. Es war ihr sehr wichtig, dass ich von Hochschulabsolventen adoptiert werden sollte – also wurden alle nötigen Vorbereitungen getroffen, damit ich bei meiner Geburt von einem Anwalt und dessen Gattin adoptiert werden konnte. Sie entschieden aber in letzter Minute, dass sie lieber ein Mädchen wollten.

Meine Eltern, die auf der Warteliste standen, erhielten also mitten in der Nacht einen Anruf: ›Wir haben hier ganz unerwartet einen neugeborenen Jungen. Wollen Sie ihn haben?‹ Sie antworteten: ›Natürlich.‹

Später fand meine leibliche Mutter heraus, dass meine Mutter keinen Collegeabschluss besaß und dass mein Vater noch nicht einmal die Highschool richtig abgeschlossen hatte. Sie weigerte sich daraufhin, die Adoptionspapiere zu unterzeichnen. Erst Monate später lenkte sie ein – weil meine Eltern ihr versprachen, dass ich später ein College besuchen würde. Das war mein Start ins Leben, und 17 Jahre später besuchte ich dann tatsächlich ein College.

Naiv, wie ich war, hatte ich mir aber ein College ausgesucht, das fast so teuer war wie Stanford. Die gesamten Ersparnisse meiner Eltern, die aus der Arbeiterschicht kamen, gingen für meine Studiengebühren drauf. Nach sechs Monaten kam ich zu dem Schluss, dass mir das nichts brachte. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anstellen wollte, und keine Ahnung, wie das College mir helfen sollte, das herauszufinden – und gleichzeitig gab ich das Geld aus, das meine Eltern ihr ganzes Leben lang zusammengespart hatten. Ich entschied mich also, mein Studium abzubrechen und darauf zu vertrauen, dass alles gut gehen würde.

Zum damaligen Zeitpunkt war das ziemlich beängstigend. Wenn ich aber jetzt zurückblicke, war es eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. Ich musste keine Pflichtfächer mehr belegen, die mich nicht interessierten, und konnte als Gasthörer die Vorlesungen besuchen, die mir viel interessanter erschienen.

Es war nicht nur romantische Studienidylle. Ich hatte kein eigenes Zimmer im Studentenwohnheim und musste bei Freunden auf dem Boden schlafen. Ich sammelte Colaflaschen und kaufte mir von dem Pfand Essen. Jeden Sonntagabend ging ich mehr als zehn Kilometer zu Fuß durch die Stadt zum Hare-Krishna-Tempel, damit ich einmal in der Woche eine ordentliche Mahlzeit bekam. Ich liebte es. Und vieles von dem, in das ich durch Zufall hineingeriet, weil ich meiner Neugier und Intuition folgte, erwies sich später als unbezahlbar. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen.

Das Reed College bot zu jener Zeit den vielleicht besten Kalligrafiestudiengang des Landes an. Weil ich keine herkömmlichen Vorlesungen besuchen musste, entschied ich mich, Kalligrafieunterricht zu nehmen. Ich lernte etwas über Schriftarten mit und ohne Serifen, wie man den Abstand zwischen unterschiedlichen Buchstabenkombinationen variiert, was großartige Typografie großartig macht. Es war wunderschön. Es hatte Geschichte und war auf eine Weise künstlerisch subtil, wie die Wissenschaft es nicht zu erfassen vermag. Ich fand es faszinierend.

Natürlich konnte ich nicht auch nur im Entferntesten davon ausgehen, dass irgendetwas davon einen praktischen Nutzen in meinem Leben haben würde. Aber als wir zehn Jahre später den ersten Macintosh-Computer entwarfen, kam alles wieder, und wir integrierten das alles in den Mac. Es war der erste Rechner mit wunderschöner Typografie. Hätte ich niemals diesen Kurs besucht, hätte der Mac niemals verschiedene Schriftarten bekommen oder solche mit proportionalen Zwischenräumen. Und da Windows Mac einfach kopiert hat, ist es wahrscheinlich, dass kein PC das hätte. Also: Hätte ich mein Studium nie abgebrochen, hätte ich nie als Gasthörer an der Kalligrafievorlesung teilgenommen, und PCs besäßen heute vielleicht nicht diese wundervolle Typografie. Natürlich war es unmöglich, während meiner Collegezeit diese Zusammenhänge zu erkennen. Aber als ich zehn Jahre später zurückblickte, waren sie deutlich sichtbar.

Noch einmal: Wenn Sie in die Zukunft blicken, können Sie nicht erkennen, wo Zusammenhänge bestehen. Das wird erst in der Rückschau möglich. Das heißt, Sie müssen darauf vertrauen, dass sich die einzelnen Mosaiksteinchen in Ihrer Zukunft zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Sie müssen auf etwas vertrauen – Ihr Bauchgefühl, das Schicksal, das Leben, Karma, egal was. Denn der Glaube daran, dass sich irgendwann die einzelnen Mosaiksteinchen zusammenfügen werden, gibt Ihnen die Zuversicht, dem Ruf Ihres Herzens zu folgen. Auch wenn der Sie abseits der ausgetretenen Wege führt – aber das macht den Unterschied.

Bei meiner zweiten Geschichte geht es um Liebe und Verlust.

Ich hatte Glück. Ich habe schon früh im Leben herausgefunden, was ich gern mache. Als ich 20 war, haben Woz (Steve Wozniak, Anm.) und ich Apple in der Garage meiner Eltern gegründet. Wir haben schwer gearbeitet, und in zehn Jahren war Apple nur von uns beiden in einer Garage zu einem zwei Milliarden Dollar schweren Unternehmen mit 4000 Mitarbeitern gewachsen. Wir hatten gerade unser Glanzstück, den Macintosh, auf den Markt gebracht, und ich war gerade 30 geworden, da wurde ich gefeuert. Wie kann man aus einem Unternehmen gefeuert werden, das man gegründet hat? Nun ja, als Apple immer größer wurde, stellten wir jemanden an, von dem wir dachten, er habe großes Talent und könne das Unternehmen mit mir zusammen führen. Im ersten Jahr ging auch alles gut. Doch dann begannen unsere Vorstellungen von der Zukunft immer stärker voneinander abzuweichen – und schließlich kam es zum Streit. Bei diesem Streit ergriff das Board für ihn Partei.

Ich stand mit 30 auf der Straße, und alle Welt bekam es mit. Das, worum sich während meines gesamten Erwachsenenlebens alles gedreht hatte, war weg. Es hat mich umgehauen. Monatelang wusste ich wirklich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte das Gefühl, die vorige Generation Unternehmer im Stich gelassen zu haben, den Staffelstab bei der Übergabe fallen gelassen zu haben. Ich traf mich mit David Packard (einem der Gründer von Hewlett-Packard) und Bob Noyce (einer der Gründer von Intel) und versuchte, mich dafür zu entschuldigen, dass ich so viel Mist gebaut hatte. Ich dachte sogar daran, aus dem Silicon Valley zu fliehen.

Doch mit der Zeit wurde mir ganz allmählich etwas bewusst. Das, was ich tat, machte ich immer noch gern. Das bei Apple Vorgefallene hatte daran nicht das Geringste geändert. Ich war zurückgewiesen worden, aber ich liebte es immer noch. Also beschloss ich, wieder von vorn anzufangen.

Damals konnte ich es noch nicht ahnen, aber von Apple gefeuert zu werden war das Beste, was mir je passiert ist. Die Schwere des Erfolgs wurde ersetzt durch die Leichtigkeit, wieder Anfänger zu sein, sich der Dinge weniger sicher zu sein. Ich war frei, einen der kreativsten Abschnitte meines Lebens zu erleben.

In den folgenden fünf Jahren gründete ich ein Unternehmen mit dem Namen Next, ein weiteres mit dem Namen Pixar und verliebte mich in eine wunderbare Frau, die meine Ehefrau wurde. Pixar schuf mit »Toy Story« den weltweit ersten computeranimierten Kinofilm und ist heute das erfolgreichste Animationsstudio der Welt.

Wie das Leben so spielt, kaufte Apple Next – und ich kehrte zu Apple zurück. Die Technik, die wir bei Next entwickelt hatten, ist Kern von Apples jetziger Renaissance. Und Laurene und ich haben eine wunderbare Familie.

Ich bin mir sicher, das alles wäre nicht geschehen, wäre ich nicht bei Apple gefeuert worden. Es war bitter, aber ich hatte es wohl nötig. Manchmal zieht einem das Leben eins mit dem Knüppel über den Schädel. Man darf nur nicht den Glauben verlieren.

Ich bin überzeugt, dass meine Liebe zu meiner Arbeit mein einziger Antrieb war. Man muss finden, was man liebt – das gilt für die Arbeit wie fürs Privatleben. Ihre Arbeit wird einen großen Teil Ihres Lebens einnehmen. Und die einzige Möglichkeit, Zufriedenheit zu erlangen, besteht darin, das zu tun, was man selbst für großartige Arbeit hält. Und der einzige Weg, großartige Arbeit zu leisten, besteht darin, zu lieben, was man tut. Haben Sie das noch nicht gefunden, dann suchen Sie weiter, lassen Sie nicht locker. Wie bei allen Herzensangelegenheiten werden Sie wissen, wenn Sie das Richtige gefunden haben. Und wie jede gute Beziehung wird auch diese im Laufe der Jahre immer besser. Suchen Sie weiter. Finden Sie sich nicht mit weniger ab.

Bei meiner dritten Geschichte geht es um den Tod.

Als ich 17 war, las ich irgendwo ein Zitat, das ungefähr so lautete: ›Lebt man jeden Tag, als wär’s der letzte, liegt man eines Tages damit richtig.‹ Das ist hängen geblieben. Seitdem frage ich jeden Morgen mein Spiegelbild: ›Wenn heute der letzte Tag meines Lebens ist, würde ich dann gern das tun, was ich heute tun werde?‹ Und wenn die Antwort an zu vielen Tagen hintereinander Nein lautet, weiß ich, dass ich etwas ändern muss.

Mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich bald sterbe, ist mein wichtigstes Hilfsmittel, um weitreichende Entscheidungen zu treffen. Fast alles – alle Erwartungen von außen, aller Stolz, alle Angst vor Peinlichkeit oder Versagen – das alles fällt im Angesicht des Todes einfach ab. Nur das, was wirklich zählt, bleibt. Sich daran zu erinnern, dass man eines Tages sterben wird, ist in meinen Augen der beste Weg, um nicht zu denken, man hätte etwas zu verlieren. Man ist bereits nackt. Es gibt keinen Grund, nicht dem Ruf des Herzens zu folgen.

Vor etwa einem Jahr wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Morgens um halb acht wurde die Aufnahme gemacht, und sie zeigte deutlich einen Tumor auf meiner Bauchspeicheldrüse. Ich wusste nicht einmal, was die Bauchspeicheldrüse war. Die Ärzte erklärten mir, dass diese Art von Krebs mit ziemlicher Sicherheit unheilbar sei, und ich sollte mich darauf einstellen, dass ich nur noch drei bis sechs Monate zu leben hätte.

Mein Arzt riet mir, nach Hause zu gehen und meine Sachen in Ordnung zu bringen. In der Sprache der Ärzte heißt das: Bereiten Sie sich aufs Sterben vor. Es bedeutet: Versuchen Sie Ihren Kindern in wenigen Monaten all das zu sagen, von dem Sie dachten, Sie hätten die nächsten zehn Jahre dafür Zeit. Es bedeutet: Sehen Sie zu, dass alles unter Dach und Fach ist, damit es für Ihre Familie so einfach wie möglich wird. Es bedeutet: Nehmen Sie Abschied.

Ich trug diese Diagnose den ganzen Tag mit mir herum. Später am Abend wurde eine Biopsie gemacht. Dabei wurde mir ein Endoskop in den Rachen durch den Magen in meine Eingeweide gesteckt, eine Nadel in meine Bauchspeicheldrüse gestoßen und einige Tumorzellen entnommen. Meine Frau erzählte mir später, dass der Arzt, als er die Zellen unterm Mikroskop betrachtete, zu weinen begann. Es stellte sich nämlich heraus, dass es sich um eine sehr seltene Art Krebs handelte, die operativ behandelt werden kann. Ich wurde operiert, und mir geht es heute gut.

So direkt hatte ich dem Tod noch nie ins Gesicht gesehen, und ich hoffe, das war’s jetzt auch für die nächsten paar Jahrzehnte. Nun, da ich das durchgestanden habe, kann ich Ihnen das mit etwas mehr Gewissheit sagen als zu der Zeit, da der Tod noch ein nützliches, aber rein geistiges Konzept war.

Niemand will sterben. Sogar die Menschen, die in den Himmel kommen wollen, wollen dafür nicht sterben. Und doch ist der Tod das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entronnen. Und so soll es auch sein: Denn der Tod ist wohl die mit Abstand beste Erfindung des Lebens. Er ist der Katalysator des Wandels. Er räumt das Alte weg, damit Platz für Neues geschaffen wird.

Jetzt sind Sie das Neue. Doch eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft werden Sie das Alte sein und aus dem Weg geräumt werden. Bitte entschuldigen Sie, dass ich so dramatisch werde, aber es ist so. Ihre Zeit ist begrenzt, verschwenden Sie sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben. Lassen Sie sich nicht von Dogmen gefangen nehmen – das würde bedeuten, mit dem zu leben, was andere Leute erdacht haben. Lassen Sie nicht zu, dass der Lärm, den die Meinungen anderer erzeugen, Ihre innere Stimme, die Stimme Ihres Herzens, Ihre Intuition überdröhnt.

In meiner Jugend gab es eine wunderbare Publikation mit dem Titel ›The Whole Earth Catalogue‹, eine der Bibeln meiner Generation. Geschaffen wurde sie von einem gewissen Stuart Brand, unweit von hier in Menlo Park. Er erweckte sie mit seinem Gefühl für Poesie zum Leben. Es waren die späten 60er, PCs gab es noch nicht. Das heißt, alles wurde mit Schreibmaschine, Schere und Polaroid-Kameras hergestellt. Es war eine broschierte Art Google 35 Jahre vor Google. Es war idealistisch, strömte über vor lauter großartigen Ideen.

Auf der letzten Ausgabe Mitte der 70er-Jahre, damals war ich in Ihrem Alter, war das Foto einer Landstraße im Morgengrauen – die Art Straße, auf der man, wenn einen die Abenteuerlust überkommt, vielleicht per Anhalter eine Mitfahrgelegenheit sucht. Unter dem Foto standen die Worte: ›Bleibt hungrig, bleibt verrückt.‹ Das war ihre Botschaft zum Abschied.

Ich habe mir das auch immer für mich selbst gewünscht. Und nun, da dieser Abschluss für Sie ein Neubeginn ist, wünsche ich Ihnen: Bleiben Sie hungrig, bleiben Sie verrückt.

Ich danke Ihnen. Vielen Dank an alle.«

Steve Jobs (1955–2011)

Vorwort

Wenn ich von unerträglichen, menschenverachtenden Zuständen bei asiatischen Firmen lese, nehme ich das mit einer gewissen Betroffenheit zur Kenntnis, die aber nicht lange währt. Schließlich haben die Asiaten ein eigenartiges Gesamtverständnis, von allem quasi. Sie essen auch Katzen und Hunde, nur als Beispiel. Wenn Menschenrechtsaktivisten in Asien ausufernde Überstunden, Vertragsverletzungen, Billiglöhne, Arbeit von Minderjährigen und Misshandlung durch Vorgesetzte beklagen, hat das wohl auch mit den anderen Allgemeinzuständen dort zu tun. Bei denen gehören manche Dinge, die bei uns seltsam sind oder auch verachtenswert, eben dazu.

Außerdem geht mich das nichts an. Ich bin definitiv nicht zuständig. In Wirklichkeit auch dann nicht, wenn in solchen Berichten eine Firma vorkommt, die Kleider näht, die ich kaufe, oder die als Zulieferer mit dem Bau des Smartphones betraut ist, das ich verwende. Erstens kaufen doch irgendwie alle solche Kleider und alle verwenden solche Smartphones, außerdem muss ich auch sehen, wo ich bleibe. Ich muss auf meine Ausgaben achten. Wenn bei den Asiaten, die für leistbare Produkte sorgen, etwas nicht stimmt, dann lösen sie ihre Probleme am besten selbst. Wozu haben die ihre Politiker.

Wenn ich von einer Selbstmordwelle bei einer Firma in Frankreich lese, ist das ein bisschen etwas anderes. Immerhin ist Frankreich ein zivilisiertes Land. Die Franzosen kochen zwar Frösche, aber was soll’s, ein bisschen seltsam ist ja jeder. Wahrscheinlich hat jeder Europäer schon einmal einen Franzosen kennengelernt, sich einen französischen Film angesehen oder einen französischen Wein getrunken. Ich will es so sagen: Irgendwie sind uns die Franzosen einfach näher als irgendwelche Asiaten.

Ganz ehrlich gesagt sind aber zum Beispiel die Mitarbeiter der France Télécom, unter denen es eine Selbstmordwelle mit mehr als zwanzig Toten gab, schon auch irgendwie selber schuld. Warum haben die keinen richtigen Job und arbeiten in einem Callcenter? Und wenn ihnen dort alles zu viel ist, warum kündigen sie dann nicht einfach?

Jene, die es nicht aushalten, den ganzen Tag mit Kunden zu telefonieren, können sich ja weiterbilden. Dann bekommen sie bestimmt einen besseren Job. Für die Ambitionierten wird es ja wohl nicht so schwer sein, etwas anderes zu finden.

Ja und mein Gott, Anrufer in einem Callcenter sind wahrscheinlich auch einmal schlecht drauf, das ist dann Teil des Jobs. Wenn so ein Anrufer die Artikel über die Selbstmordwelle gelesen hat und sagt »bringen Sie sich doch auch um«, gehört das irgendwie dazu. Das Berufsleben ist eben so. Das ist jedenfalls noch lange kein Grund, sich aus dem Bürofenster zu stürzen oder sich daheim aufzuhängen und der Nachwelt dann noch einen Brief zu hinterlassen, in dem steht, dass die Firma an allem schuld ist.

Was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Solche Dinge mögen schlimm sein, aber jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, und in Wirklichkeit haben wir alle unsere Schwierigkeiten im Berufsleben, müssen wir alle unsere Kämpfe ausfechten, ich sowieso. Die Berichte über schwierige oder sogar richtig schlimme Arbeitssituationen gehen mich deshalb in Wirklichkeit auch dann nichts an, wenn sie aus Frankreich oder so kommen, und selbst wenn, ich könnte trotzdem nichts daran ändern.

Ganz ehrlich: Denken Sie manchmal so, zumindest ein bisschen? Ich traue mich, das zu fragen, weil ich selbst einmal so gedacht habe.

Ich bin in diese Art zu Denken hineingerutscht, obwohl ich eigentlich nicht dafür prädestiniert war. Zu Schulzeiten bezeichnete mich einmal ein Lehrer mit gutem Grund als »Geist, der stets verneint«, frei nach Goethe, der das in »Faust« seinen Mephisto über sich selbst sagen lässt. Ich habe immer alles hinterfragt und mir nie etwas gefallen lassen. Doch irgendwann war auch ich Opfer wirtschaftlicher Notwendigkeiten oder habe mich zumindest als solches gefühlt und damit vieles ignoriert oder gerechtfertigt, vor anderen und vor mir selbst.

Bis in mir die Erkenntnis reifte, dass schlechte Behandlung von Mitarbeitern keine Bedingung für Wirtschaftlichkeit ist. Vielleicht für Ausbeutung, die von Gier getrieben ist, aber definitiv nicht für Wirtschaftlichkeit.

Ich bin inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem die Conclusio aus all dem, das ich in den vergangenen drei Jahren bei meinem Job in der Europa-Zentrale von Apple im irischen Cork erlebt und gesehen habe, schlicht lautet: Mir reicht es. So, wie es läuft, ist es falsch, und falsch bleibt falsch, auch wenn es zum Standard und zum System geworden ist.

Ich werde in diesem Buch keine kriminellen Praktiken aufdecken, keine Kinderarbeit zum Beispiel, ich werde keine Verantwortlichen für Selbstmorde benennen und an den Pranger stellen und keine Schuld zuweisen. Ich werde vielmehr zeigen, dass falsch auch Dinge sein können, die formal korrekt sind. Weil sie etwas mit den Seelen der Menschen machen, das nicht gut ist. Weil sie Menschen ihrer Leben und Ziele berauben, ihren Stolz und ihre Würde zerpflücken und zerreißen, und niemand Erbarmen zeigt, wo diese Welt doch für jeden der Himmel sein sollte, wie die Popgruppe Queen in ihrem Song Heaven for Everyone sang, den ich eingangs zitiert habe. Und weil das alles genau das Gegenteil von hungrig und verrückt bleiben fördert, also von jener Lebenshaltung, die Apple-Gründer Steve Jobs damals in Stanford den Studenten ans Herz legte.

Sie können über mein Buch also denken, wie Sie wollen. Ich habe es jedenfalls in der Hoffnung geschrieben, die Welt damit ein bisschen besser zu machen.

Daniela Kickl, Februar 2017

TEIL 1
ENTHUSIASMUS

Eine Begeisterung oder Schwärmerei für etwas, eine gesteigerte Freude an bestimmten Themen oder Handlungen, ein extremes Engagement für eine Sache oder ein mehr als durchschnittliches, intensives Interesse auf einem speziellen Gebiet.

Dienstag, 10. Juni 2008, Wien

In meiner Wohnung in Wien rieseln die Abendnachrichten über mich hinweg. Die Zeit im Bild im ORF gehört zu meinem Tagesablauf wie das Aufstehen am Morgen. Von Überschwemmungen im Mittleren Westen der USA berichtet sie heute. Die niederländische Fußballnationalmannschaft siegte über den amtierenden Weltmeister Italien mit 3:0. Ich sitze am Sofa und beschäftige mich beim Fernsehen mit meinem neuen Diensthandy.

Das Ding ist eher hässlich, aber funktionell. Der fernöstliche Hersteller ist kein renommierter. No Name nennt sich das, doch es ist mein erstes Diensthandy, mit dem ich ins Internet kann.

Ich nutze das Handy vor allem für dienstliche E-Mails. Fragen beantworten, Anweisungen geben. Das ist praktisch, denn ich habe in der entspannten Atmosphäre daheim bessere Ideen als im stressigen Arbeitsalltag, und außerdem: Was erledigt ist, ist erledigt.

Ich leite bei der Stadt Wien ein Team von SAP-Beratern. Wir warten und erweitern SAP-Applikationen, also Software, die bei der Abwicklung von Verwaltungsprozessen in anderen Magistratsabteilungen im Einsatz ist.

Meine ersten Erfahrungen als Führungskraft sammelte ich bereits mit 23 bei der international tätigen Firma Teleperformance. Die definierte Aufgabe des österreichischen Ablegers dieses französischen Unternehmens war »die Unterstützung der Klienten bei aktiven Marketingmaßnahmen«. Das bedeutete, dass wir deren Kunden anrufen und ihnen etwas verkaufen mussten.

Ich war, zu meinem eigenen Erstaunen, gut darin, und so kam es, dass ich nach etwa drei Monaten am Telefon zum Teamleader aufstieg. Weil ich meine Aufgaben gut erledigt hatte und wohl auch, weil ich schon immer eine extrovertierte und lustige Person war, die für gute Stimmung sorgen kann.

Damals wurde mir klar, dass der Erfolg meiner Mitarbeiter stark von ihrer Zufriedenheit am Arbeitsplatz abhängt.

Beinahe noch wichtiger war meine Erkenntnis, dass jeder Mensch anders ist. Das klingt vielleicht banal, aber die Konsequenz daraus ist nicht mehr ganz so banal. Ich musste mir, um auch als Teamleader erfolgreich zu sein, für jeden Mitarbeiter überlegen, wie ich für ihn oder sie das Arbeitsleben besser und angenehmer gestalten konnte, wie ich für jedes Team-Mitglied ein Wohlfühl-Maximum erzielen konnte.

Für manche im Team bedeutete Wohlfühlen, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Andere tauschten sich gerne und bei jeder Gelegenheit über ihr Privatleben aus oder waren mit seichten Witzchen zur rechten Zeit in gute Stimmung zu bringen. Was immer meine Mitarbeiter wollten, ich bot es ihnen im Rahmen meiner Möglichkeiten.

Mein No-Name-Handy funktioniert gut. Es hat einen Stift, mit dessen Hilfe ich auf der virtuellen Tastatur herumdrücke. Für mich ist es ein Fortschritt, dass es keine echte Tastatur hat wie beispielsweise ein Blackberry.

Ich nütze mein Diensthandy manchmal auch privat. Es ist einfach zu verführerisch, mich jederzeit mit meinen Freunden über E-Mails austauschen oder die neusten Nachrichten abrufen zu können. Ich erstelle gerne selbst Klingeltöne oder durchforste die Einstellungen, und manchmal spiele ich auch. Vor allem Spiele, in denen ich gegen meine Freunde antreten kann, Scrabble zum Beispiel.

»In San Francisco fand gestern die WWDC 2008 statt«, sagt die Fernsehsprecherin. »Apple-Gründer Steve Jobs präsentierte im Moscone Center das neue iPhone 3G. Die verbesserte Technologie, neue Funktionen und die Benutzerfreundlichkeit ließen die Apple-Anhänger jubeln.«

Ich sehe auf. Das könnte interessant sein, denke ich. Ich weiß, dass Apple im vergangenen Jahr sein erstes iPhone auf den Markt gebracht hat. Es war dramaturgisch perfekt in Szene gesetzt, als Steve Job seine Gäste fragte, was sie sich unter »a phone, an iPod, and an internet communications device« vorstellen würden.

Seine Auftritte gefielen mir, wie so vielen anderen auch, schon immer. Ich mag Steve Jobs. Er ist immer so authentisch, so leidenschaftlich, einfach nur genial und dabei sympathisch. Das erste iPhone gefällt mir auch, aber es ist mir zu teuer und ich finde es zu langsam.

Ich sehe mir den Bericht nun aufmerksam an und bin hingerissen. Das ist es, was ich brauche. Dieses neue iPhone 3G hat eine UMTS-Verbindung, ist also schnell. Es stellt alle möglichen Programme im sogenannten AppStore zur Verfügung, auch von Drittanbietern, und dreht es ein Nutzer, zum Beispiel beim Schreiben einer E-Mail, dann dreht sich die Darstellung am Bildschirm inklusive Tastatur mit. Es ist noch immer teuer, aber etwas günstiger als das iPhone 1. Wozu gehe ich arbeiten, wenn nicht auch, um mir ab und zu ein schönes Spielzeug zu leisten?

Apple stand immer für besondere Qualität in schönem Design. Ich bekam das schon während meiner Informatikausbildung Anfang der 1990er-Jahre mit, als ich mich mit den Macs vertraut machte. Die meiste Zeit verbrachten wir vor Windows-Rechnern, auf denen wir Programmiersprachen wie Pascal oder Assembler lernten. Die Zeiten auf den Macs waren selten, dafür umso wertvoller. Ihr Betriebssystem war damals mit dem von Microsoft nicht zu vergleichen. Es war ästhetischer und anspruchsvoller. Wir benutzten die Macs vor allem für Grafikanwendungen. Es gab von Windows nichts Vergleichbares. Das war es, was sich in mir verfestigt hatte: Apple steht für beste Qualität und hohen Anspruch an sich selbst. Apple und ich, fand ich immer, verstehen einander.

Was für ein schöneres Geschenk könnte ich mir also machen, als dieses iPhone 3G?

Dienstag, 15. Juli 2008, Wien

»Hast du es schon gehört, Daniela?«, fragt mich mein Kollege Tobias, mit dem ich mir ein Bürozimmer teile. »Der Kollege von der SAP-Basis hat schon das neue iPhone.«

»Das ist typisch, der hat ja immer alles als Erster«, sagte ich.

Ich mache mich unverzüglich auf den Weg, um mir das Teil anzusehen. Ich kenne den Kollegen zwar kaum, aber er ist ein netter Typ, und er gefällt mir angesichts der Tatsache, dass ich verheiratet und Mutter bin, beinahe zu gut. Er sieht nicht nur super aus, er ist auch intelligent und gebildet und dabei nie überheblich. Überheblich sind ohnedies meist diejenigen, die bedingt gut aussehen und über Halb- oder Nischenwissen verfügen und sich deshalb für die Größten halten.

In freudiger Erwartung mache ich mich auf den Weg zur Tür, als ich sehe, wie sich diese öffnet. Da ist er, der Mann mit dem iPhone, als hätte er geahnt, dass ich ihn sehen will. »Du hast wirklich schon das neue iPhone?«, frage ich ihn, und meine leichte Unfreundlichkeit dabei ist eine reine Präventivmaßnahme. Schließlich soll er nicht unbedingt wissen, wie ich über ihn denke.

»Willst du es sehen?«, fragt er.

Ich schmelze dahin. Er ist immer so freundlich und so besonnen.

Tobias steht unversehens zwischen uns. Er will das Handy auch sehen.

Der SAP-Basis-Kollege ziert sich noch ein bisschen, dann hält er uns das funkelnagelneue Ding, bei dem noch die Folie am Display klebt, hin.

Ach, wie schön das ist!

Er führt uns ein paar Funktionen vor.

In echt ist das Handy noch viel toller als in der Präsentation von Steve Jobs. Er gibt es mir sogar in die Hand. Das iPhone hat die optimale Größe, ist leicht und hat eine wunderschöne Form. Die Rückseite ziert dezent, aber gut sichtbar, das Apple-Logo, der angebissene Apfel. »Darf ich ein paar Sachen ausprobieren?«, frage ich vorsichtig.

Mit seiner Erlaubnis drücke ich beinahe alles, das sich drücken lässt. Da gibt es die Uhr, die nicht nur die Zeit anzeigt, sondern auch über eine Stoppuhr und einen Wecker verfügt. Es gibt einen Kalender mit unglaublich vielen verschiedenen Funktionen und die 3-Megapixel-Kamera, die gestochen scharfe Bilder macht.

Am meisten interessieren mich die Einstellungen. Wie ich es seit jeher von Apple gewohnt bin, sind alle Funktionen übersichtlich dargestellt. Ich teste auch die Beschleunigungssensoren. Die sollen dafür verantwortlich sein, dass das iPhone merkt, ob ich es gerade vertikal oder horizontal halte. Ich öffne dazu Safari, den Apple-eigenen Internetbrowser, und rufe www.apple.at auf.

Dann drehe ich das iPhone. Tatsächlich. Es ist so wie in der Präsentation von Steve Jobs. Die Seite dreht sich mit, ohne Verzögerung.

Tobias sieht mir über die Schulter. »Na echt net schlecht«, sagt er. »Ich glaube, das werde ich mir auch zulegen müssen.«

Schweren Herzens gebe ich das iPhone zurück. Ganz kurz berühren sich unsere Hände. Liegt es am iPhone oder am Kollegen, dass mir ein Schauer über den ganzen Körper läuft?

Mittwoch, 25. Juni 2014, Ringaskiddy

Mein iPhone klingelt. Ich laufe hinaus in den Garten. Im Haus selbst ist der Empfang nicht gut. Es ist sonnig und warm. Ich weiß gar nicht, warum diese Iren so über das Wetter jammern. Seitdem wir am 31. Mai hier in Ringaskiddy von der Fähre gefahren sind, war es immer schön. Es hat in den vergangenen knapp vier Wochen kein einziges Mal geregnet.

Der Anrufer ist ein freundlicher Herr von Apple. Er ist von der HR-Abteilung. HR steht für Human Resources. Die HR-Abteilung ist das, was ich aus Österreich unter dem Begriff Personalabteilung kenne.

Ich habe mich noch nicht an den irischen Akzent gewöhnt. Außerdem spricht der Mann sehr schnell. Wenn ich die wenigen Wortfetzen, die ich verstehe, richtig interpretiere, fange ich nächste Woche am Montag an. Gut, das wusste ich ja schon. Aber am Dienstag habe ich offenbar gleich mal frei. Warum genau, das verstehe ich nicht so ganz. Ist auch nicht wichtig, denn frei ist frei. Das war es wahrscheinlich, was er mir mitteilen wollte. Dass er mich und meine Familie im Namen von Apple herzlich in Irland begrüße, sagt er noch.

Meine Familie hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Mein Arbeitskollege von der SAP-Basis ist jetzt der Mann an meiner Seite, mein Sweetheart. Mein Sohn hat einen kleinen Bruder bekommen, Sweetheart junior sozusagen.

Wir alle sind stolz darauf, dass gerade ein Lebenstraum für mich in Erfüllung geht. Bei Apple zu arbeiten kam mir immer in den Sinn, wenn ich über ebendiesen meines Lebens nachdachte. Teil einer Firma zu sein, hinter der jemand vom Format eines Steve Jobs steht, oder besser gesagt stand. Dass er inzwischen verstorben ist, ändert nichts. Er ist jetzt ein Mythos und so glänzt die Leidenschaft, die er immer gezeigt hat, vielleicht sogar noch mehr. Ich werde jedenfalls etwas Sinnvolles tun, Teil von etwas sein, das die Welt in einen anderen, in einen besseren Ort verwandelt.

Ich hatte mir noch im Jahr 2008 auch mein erstes iPhone gekauft. Als jemand, der ohnehin gerne und viel Zeit vor Computern verbringt, war mir bald jede noch so kleine Funktion vertraut, und ich liebte es von Anfang an. Es ist simpel in der Handhabung, weil es unglaublich gut durchdacht ist. Dennoch erweist es sich bei intensiverer Beschäftigung damit als komplex. Es ist voller Möglichkeiten, und ich habe sie alle entdeckt.

Dass meine neue Stelle eine Übersiedlung nach Irland erforderte, hat niemanden in der Familie gestört. Ganz im Gegenteil. Sweetheart sieht Chancen für sich, weil Apple hier nicht das einzige IT-Unternehmen ist. Zudem hat er ein IT-Projekt, an dem er selbständig arbeitet und ist überhaupt von abenteuerlustiger Natur.

Mein älterer Sohn ist mit der deutschen Rechtschreibung nie richtig warm geworden, dafür brillierte er in der Schule in Englisch. Englisch ist seine eigentliche Sprache.

Der Kleine ist ohnehin von allem begeistert, das nach Abenteuer riecht, und so haben wir die Mission »Mami arbeitet jetzt bei Apple« gestartet.

Meine Söhne finden es richtig cool, dass Mami ab nächster Woche für die Firma arbeiten darf, die das iPhone herstellt. In unserer kleinen Siedlung hier in Ringaskiddy erzählen sie das allen ihren neuen Freunden.

Nach unserer Ankunft zogen wir zunächst in eine Pension namens Kinlay House. Bei zähen Preisverhandlungen, die ich per E-Mail von Wien aus führte, hatte sie sich als die billigste und am besten gelegene Wohnmöglichkeit in Cork City, dem Standort der Apple-Europa-Zentrale, entpuppt. Außerdem hatte sie uns Apple in seinem Ratgeber für den Umzug empfohlen.

Erreichbar über enge Zufahrtsstraßen liegt das Kinlay House am Hügel von Cork, gleich neben dem Butter-Museum und der Kirche, deren vier Turmuhren nie funktionieren und die einen verrosteten Wetterfisch oben auf der Spitze trägt.

Bei unserer Ankunft fanden wir nicht gleich einen Parkplatz, weshalb ich zunächst allein hineinging. In dem kleinen Foyer mit dem abgetretenen Spannteppich begrüßte mich ein junger Ire, der aus einem verglasten Kobel lugte. Ich sah ihm an, dass er in seinem Leben noch auf bessere Jobs als diesen hoffte.

Mit meinem Empfehlungsschreiben von Apple in der Hand, das mir einen zusätzlichen Rabatt garantierte, baute ich mich freudestrahlend vor ihm auf. Ich nannte ihm meinen Namen, meine Buchungsnummer und überreichte ihm eine Kopie des Schreibens von Apple, damit es später bei der Abrechnung keine Missverständnisse geben würde.

Er drückte mir den Schlüssel für das Zimmer 212 in die Hand und erklärte mir, dass ich über die Stiegen hinauf in den zweiten Stock müsse. Bezahlen musste ich nichts, auch keine Kreditkarte hinterlegen. Abgerechnet werde am Ende, sagte der junge Mann, was mir entgegenkam, da ich nicht wusste, wie lange wir bleiben würden.

Ich ging wieder hinaus, um nach meiner Familie zu sehen. Die Kinder waren schon ausgestiegen und bewunderten den kleinen Park gegenüber vom Kinlay House. Sweetheart hatte wie immer die Situation im Griff und war gerade dabei, die beiden wuchtigen Reisekoffer mit unseren wichtigsten Sachen aus dem Auto zu hieven.

Als er in der Pension den Aufzug suchte, schüttelte ich den Kopf.

»Was, ich muss das ganze Zeugs nach oben schleppen?«, sagte er.

»Was meint Papi mit Zeugs?«, fragte Sweetheart junior neugierig.

Wir hatten schon vor unserer Ankunft gewusst, dass uns allen zusammen nur ein einziges Zimmer zur Verfügung stehen würde. Dieses Zimmer hatten wir uns allerdings anders vorgestellt. Nachdem wir es über die engen Stiegen im Gänsemarsch nach oben geschafft hatten, ließ sich die Tür von 212 nur mit roher Gewalt öffnen. Vor uns tat sich ein Raum mit neun Quadratmetern, einem Waschbecken neben der Tür und einem einzigen abgewetzten Sessel auf. »Mami, ich will hier nicht wohnen, hier stinkt es«, sagte Sweetheart junior. Jedes Mal, wenn wir in den nächsten fünf Tagen das Zimmer betraten, hörte ich diesen Satz, abwechselnd von ihm und von seinem Bruder.

Dank meiner Planung in Österreich wurden es wenigstens nicht mehr als fünf Tage. Ich wusste bereits, dass in Irland alle Mietwohnungen und -häuser voll möbliert sind. Was für uns praktisch war. Nach nur drei Besichtigungen entschieden wir uns für das Haus in Ringaskiddy, einem kleinen Ort direkt am Meer, der 25 Minuten Autofahrt von Cork entfernt liegt.

Das Haus hat ausreichend Platz für uns vier. Im Erdgeschoss befinden sich ein Wohnzimmer und eine große Wohnküche. Im ersten Stock gibt es zwei Kinderzimmer und ein Badezimmer mit Toilette und Badewanne. Unser Elternschlafzimmer verfügt über ein en-suite-Badezimmer mit eigener Toilette und Dusche. Das Einzige, woran ich mich noch gewöhnen muss, ist die electric shower darin. Denn der Stromkasten, mit dem sie warmes Wasser erzeugt, hängt direkt unter dem Wasserstrahl. Meine Physik-Professorin am Gymnasium in Wien hat es nie geschafft, uns auch nur einen Hauch von Begeisterung für ihr Fach zu vermitteln, aber eines weiß ich genau: Strom und Wasser passen nicht zusammen. Zum Glück gibt es das zweite Badezimmer mit der Badewanne.

Unser Haus steht in einer Siedlung mit vielen Kindern. Es gibt Schulen, die wir zu Fuß in zehn Minuten erreichen können. Unsere Nachbarn sind freundlich und hilfsbereit. Unseren Garten erreichen wir durch das Esszimmer. Er ist mit etwa siebzig Quadratmetern groß genug zum Ballspielen und Ausruhen, aber klein genug, um wenig Arbeit zu machen.

Genau in diesem Garten stehe ich, als ich nach dem Gespräch mit dem Herrn von Apple auf die rote Taste meines iPhone drücke und es einstecke. Vier Tage noch, denke ich, dann geht’s los.

Freitag, 27. Juni, Cork City

Das letzte Wochenende vor meinem Arbeitsbeginn hat begonnen. Es ist wieder ausnehmend warm. Die ganze Familie macht sich auf den Weg nach Cork City, um eine zukünftige Arbeitskollegin zu treffen.

Der Weg in die Stadt ist wunderschön. Als Österreicherin, die Berge gewohnt ist, fasziniert mich das Meer, während mich Berge eher langweilen. Irland ist also perfekt für mich, denn die höchste Erhebung, der Carrantuohill, misst nur wenig mehr als tausend Meter. Ein besserer Hügel also.

Viele Irland-Klischees stimmen. Die Wiesen sind saftig grün, die Menschen sind hilfsbereit und lustig, und irgendwann, denke ich, werde ich ihren eigenartigen Akzent auch noch zu verstehen beginnen.

Cork, Hauptstadt des gleichnamigen County Cork, ist nach Dublin die zweitgrößte Stadt Irlands und die Metropole hier im Süden. Mit knapp 120.000 Einwohnern erscheint sie mir als Wienerin dennoch wie ein besseres Dorf mit vielen bunten kleinen Häusern und einem schönen Fluss, der sich mittendurch schlängelt. Am River Lee, den Möwen umflattern, verkehren Forschungs-, Fracht- und Kreuzfahrtschiffe. Unweit von Cork mündet er in die keltische See.

Unsere Route führt uns den River Lee entlang zum Fitzgerald Park, in dem wir uns mit Bernadette verabredet haben. Ich bin froh, sie über Facebook kennengelernt zu haben. Sie kommt ursprünglich aus Deutschland, hat aber zuvor in Belfast gearbeitet. Sie fängt auch am Montag bei Apple an, genau wie ich.

Nach Jahren der Kommunikation im Internet habe ich mir die Fähigkeit angeeignet, Menschen auch ohne persönliche Treffen einschätzen zu können. Ich bin dabei auch schon zu mancher Fehleinschätzung gelangt, aber im Großen und Ganzen klappt es. Bernadette finde ich richtig nett.

Facebook ist eine wunderbare Erfindung, vor allem wenn Menschen einen expliziten gemeinsamen Nenner haben. Es gibt eine Gruppe für Apple-Mitarbeiter in Cork und eine eigene Gruppe für Deutschsprachige. Wer sich in diesen Gruppen herumtreibt oder auch nur aufmerksam die Posts der anderen liest, weiß schon mehr.

Ich nutze Facebook gerne, um über andere Menschen etwas zu erfahren. Von mir selbst gebe ich dabei wenig preis. Mein Profilbild zeigt ein Kindheitsfoto und mein Name ist abgeändert. Aktiv bin ich eher von der unverfänglichen, aber psychohygienisch durchaus wertvollen Lustige-Sachen-teilen-Fraktion. Auch Bernadette führt auf Facebook einen anderen Namen und benützt ein verschwommenes Profilbild.