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Dietlind Falk

das letzte

roman

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1. Auflage

© 2017 Dietlind Falk

ISBN 978-3-95985-083-4

Mehr über unsere Bücher und Autor_innen:

Für meine diversen Elternteile.
Für meine Freunde.
Und für Fitti
.

Inhalt

1. Doktor Mabuse

2. Brockhäuser

3. Das mit Leo

4. Das mit den Tulpen

5. Unser Haus

6. Die Wege der Tauben

7. Time Is Brain

8. Das mit den Stapeln

9. Kinder haften für ihre Eltern

10. Das mit dem Glas

11. Das mit der Quarkspeise

12. Der Manteltraum

13. Das ganz schlimme Zimmer

14. Passierte Tomaten

15. Das mit den Nebenherzen

16. Das Letzte

17. Weg

Das mit dem Dank

1.

Doktor Mabuse

Doktor Mabuse und ich kennen einander seit sechs Jahren. Ich weiß nichts über ihn, und er weiß nichts über mich. Das weiß er natürlich nicht, sein Job besteht schließlich darin, Dinge über Menschen zu wissen. Er ist mein Therapeut und selbsternannter Ersatzvater, und ganz wie ein echter Vater glaubt er, sich um mich zu kümmern, während er in Wahrheit nur Druck ausübt und in meinem Leben herumschnüffelt – und mich dazu bringt, ihn in jeglicher Hinsicht zu verabscheuen. Sorgsam hat er eine Akte über mich angelegt, mit einem blassrosa Klappdeckel aus Pappe und vorgestanzten Löchern am Rücken, von der er denkt, sie enthielte alles, was man über mich wissen müsse. Doch in Wahrheit ist seine Sprechstunde meine Schweigeminute.

Doktor Mabuse ist sehr hager, und seine Haut hat einen merkwürdigen Braunstich, sodass er mir immer vorkommt wie ein Weberknecht in Menschengestalt. Wenn er zur Begrüßung seine kalte, feuchte Hand ausstreckt, dann lasse ich mir meinen Ekel zwar nicht anmerken, wie ich mir überhaupt nie etwas anmerken lasse, aber wenn ich sie schüttle, kommt es mir innerlich vor wie eine Mutprobe, bei der ich mit spitzen Fingern eine tote Qualle anfassen muss.

Von außen müssen unsere Sitzungen wirken wie eine sehr lange, sehr langweilige Choreografie. Sie laufen immer gleich ab: Doktor Mabuse sitzt in seinem großen schwarzen Ledersessel, lehnt sich knarzend zurück und faltet die Hände über dem Bauch. Dann fängt er an, kaum merklich zu wippen, während ich angestrengt die Beine übereinanderschlage und meine Hände in die Spalte schiebe, die meine Oberschenkel dabei bilden. Doktor Mabuses Gesicht bleibt während der gesamten Sitzung ungerührt, fast als schliefe er mit offenen Augen, und nur wenn gegen Ende die Tür aufgeht und seine blöde Sprechstundenhilfe mit einer neuen Akte reingestöckelt kommt, heben sich seine Mundwinkel, weil sie jung ist und enge Blusen mit weitem Ausschnitt trägt, durch die man ihre Unterwäsche sehen kann. Beim Gehen wiegt sie ihren Oberköper theatralisch nach links und nach rechts, als sei sie gerade furchtbar eingeschnappt. Ich frage mich, ob Doktor Mabuse einen versteckten Knopf hat, mit dem er sie ruft, den er nur zu drücken braucht, damit sie wieder antanzen muss, denn dann wäre ich auch eingeschnappt. Das wäre so erniedrigend, dass ich mir an ihrer Stelle den Stöckelschuh eher mitten ins Herz hacken würde, als ihn morgens für diese Arbeit anzustreifen.

Wenn Doktor Mabuse mir eine Frage stellt, erkenne ich es zwar meist noch daran, wie sich seine Stimme am Ende der Lautkette hebt, doch bevor ich reagieren kann, wirft mein Kopfecho den Sinn seiner Worte fröhlich durcheinander und zerstreut ihn in alle vier Himmelsrichtungen. Wie die Samen einer Pusteblume zwirbeln sich die Bedeutungen einfach ins Irgendwo und sind plötzlich verschwunden. Das passiert mir andauernd, wenn mein Gehirn Gefahr wittert, die Art Lähmung, die ein Reh wohl im Angesicht der immer größer und heller werdenden Scheinwerfer empfinden muss. Dann kann ich nicht antworten, was gar nicht gut ist, denn wenn ich zu apathisch wirke, wird er mich hier in der Klinik behalten wollen, hier, im unendlichen Weiß. Im ewigen Eis. Und je größer meine Angst vor diesem Urteil wird, desto mehr wirke ich, als wäre es gerechtfertigt. Also fange ich meist an zu nicken, weil es sein kann, dass das zufälligerweise eine angemessene Reaktion ist, schließlich liegt es in der Natur von Fragen, sich häufig mit Ja oder Nein beantworten zu lassen. Und außerdem ist das doch sicherlich ein Zeichen von gesundem Optimismus, Kopfnicken.

Er macht sich dann eine Notiz.

Ein paar Sachen weiß Doktor Mabuse natürlich schon über mich:

Vat. u. Brud. verstbn., traum. Angstzust. seit KH, spont. Aphasie, gel. Stupor mit dissoz. Epis. (Medik. seit 03.05.02).

Manchmal wird er wegen eines Notfalls auf der Station angepiepst, und wenn sein Kittel dann hektisch zur Tür hinausgeweht ist, drehe ich schnell die Blätter auf seinem Schreibtisch um und lese, was es Neues über mich gibt. Viel ist es nie. Laut meiner Akte bin ich eine latent dissoziative Persönlichkeit, was rein logisch bedeuten müsste, dass ich eine Persönlichkeit habe. Obwohl man mir nicht im Geringsten nachsagen kann, ich sei eitel, macht mich Doktor Mabuses Gekritzel in der Akte irgendwie wütend. Er nennt es meine Krankengeschichte, dabei ist nichts, aber auch wirklich nichts weiter entfernt von einer Geschichte als diese paar nackten, mickrigen Wortstummel in Doktor Mabuses Akte, und schon allein, um ihm dafür eins auszuwischen, dass er tatsächlich glaubt, sie würde meine Vergangenheit ausreichend dokumentieren, kommt mir während unserer Sitzungen kein Wort über die Lippen, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Und heute erst recht nicht.

Was Doktor Mabuse nicht weiß: Innerlich erzähle ich die ganze Zeit. Ich sitze vor ihm wie eine Taubstumme, als hätte jemand meine Stimmbänder gekappt, aber innerlich erzähle ich heute all das, was er nicht weiß und auch niemals erfahren wird, und zwar ohne Abkürzungen und Fachbegriffe und mit Zusammenhang. Ungefähr so:

Mein Name ist Dissoziative Persönlichkeit. Gestört bin ich selbstverständlich wegen meiner Eltern, und die waren gestört wegen ihrer Eltern. Und ein bisschen auch wegen der Welt im Allgemeinen. Eines Abends hätte mein Vater meine Mutter beinahe erwürgt, mein großer Bruder ist vor Angst aus dem Fenster gesprungen, und dann hat sich mein Vater noch eine Pulle Doppelkorn reingeknallt und ist auf den Couchtisch aus Glas gefallen und war tot. Weil er, statt sich abzustützen, die Flasche nicht losgelassen hat. Ein würdiger Säufertod. Das Ganze hat vielleicht eine Viertelstunde gedauert, ich habe in meinem rosa Plastikbett gelegen und so getan, als würde ich schlafen. Man könnte sagen, es war eine Art umgekehrter Urknall: Es macht plötzlich bumm, und alle sind weg.

Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass sich unser Nachbar Herr Abramowitsch nebenan mit einem von insgesamt fünfzigtausend geklauten Fernsehkabeln erhängt hatte. Es gab einen kurzen Artikel in der Lokalzeitung (›Todesnacht im Plattenbau‹) mit einem unscharfen Foto von unserem Balkon mit den vertrockneten Blumenkübeln drauf, und dann kam meine Mutter erst mal für ein paar Jahre in die Klapse und ich zu meiner Oma, was ziemlich genau aufs Gleiche hinauslief.

Meine Oma hatte einen Hund und Arthritis. Deshalb musste ich ihr immer bei allem Möglichen helfen, das meiste hatte mit Händen und Füßen zu tun und war rentnerbraun. Allgäuer Latschenkiefer. Gesundheitsstrümpfe an aufgequollenen, blau-weißen Beinen hochwuchten. Und alles Gekochte in Fett ertränkt. Und um so viel Ekel und Abscheu gerecht zu werden, kann man da jetzt eine richtig schöne kleine Erzählung in der Erzählung draus machen. Ein modernes Märchen. In etwa so:

Es war einmal ein graues, eckiges Bungalowhaus mit ewig geschlossenen, vergilbten Spitzenvorhängen und lieblos verwittertem Vorgarten. Darin wohnte Oma Latschenkiefer mit ihrer Witwenrente. Und dann auch mit mir. (Wer jetzt bei ›Oma‹ an eine nette alte Dame mit riesigem Süßigkeitenvorrat und morgendlichem Kinderfernsehen denkt, die andauernd »Ach nein, wie drollig!« ruft und dann schnell noch einen Kuchen backt – so war sie nicht.)

Weil Oma Latschenkiefer mit ihren knöcherigen, abstrus verformten Fingern irgendwann keine Briefe mehr schreiben konnte, übernahm ich schließlich ihre Korrespondenz, die sie stichwortartig in regelmäßigem Turnus an andere rentnerbraune, kugelrunde Hundebesitzerinnen zu schicken pflegte. Sie diktierte mir die Neuigkeiten in dem blinden Vertrauen, dass ich die Verben schon von selbst einfügen würde wie jeder andere normale Mensch (ha ha!): Babsi (ihr Dackel) gesund, Luise doch nur Pflegestufe zwei, Wetter auf Rügen auch nicht gut (dort wohnte ihre Jugendfreundin Irma), und so weiter und so weiter. Einmal kam ich auf die Idee, die Briefe im Telegrammstil zu verfassen, und setzte zwischen die Satzfetzen ein STOPP, und sie wurde so wütend, dass sie mich eine Woche lang mit Rosenkohl und Hühnerleber bestrafte. Wirklich. Und ich war so brav, dass ich das Zeug einfach still leidend und würgend in mich hineinaß, ohne einen Mucks zu machen. Ohne Oma Latschenkiefer anzusehen, habe ich Leber um Leber gegessen und mir vorgestellt, ich äße ihr Herz auf.

Nach einem halben Jahr hatte ich halbwegs verstanden, warum meine Mutter so war, wie sie war: Weil es in diesem Haus keine Gefühle gab. Es war taub. Wie ein für immer eingeschlafener Fuß. Da war gar nichts, nur abgestandene Luft und Ockerfarbenes. Gehäkelte Platzdeckchen wurden dort weitaus mehr geschätzt als Menschen, mehr als Kinder vor allem, sodass man sich nach kürzester Zeit wünschte, nicht mehr man selbst zu sein, sondern jemand anderes – oder besser noch, etwas anderes, eines der vielen Likörgläser vielleicht, oder die Fernsehzeitung. In diesem Haus steckte gefühlstechnisch höchstens eine ordentliche Portion altbackener Verbitterung, ansonsten herrschte gähnende Leere, und das ist sicherlich ein Grund, weshalb meine Messiemutter jetzt alles anhäuft, was sie in die Finger kriegen kann. Eine Mutter wie Oma Latschenkiefer zu haben, hätte niemand intakt überstanden, so viel ist sicher.

Ich liebe Kausalketten. Sie geben mir eine gewisse Sicherheit, einen Kontext, einen Zusammenhang im Chaos. Meine Mutter ist gestört, weil ihre Mutter eine sadistische, pedantische alte Maggi-Flasche war. Mein Vater war gestört, weil sein Vater ihn ständig grün und blau geprügelt hat, sodass er, also mein Vater, als erwachsener Mann bei jeder Gelegenheit Panikattacken bekam und nicht arbeiten konnte und sich stattdessen mit Korn in den Tag hinein- und mit Doppelkorn aus dem Tag hinausgesoffen hat. Und ganz nebenbei auch kein sehr netter Mensch geworden ist. Mein Großvater war gestört, weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg angefangen hat, und sein Vater war gestört, weil Deutschland irgendwie auch den Ersten Weltkrieg angefangen hat. So geht es weiter bis zum Anbeginn der Zeit, irgendein Krieg hat vermutlich immer angefangen, und irgendwer war danach garantiert immer gestört.

Meine Mutter war mal fast ein ganzes Jahr lang trocken und wirklich bemüht, ihr Leben besser zu machen als vorher, sich keinen neuen Alki zu suchen und vielleicht wieder irgendwas zu arbeiten und gelegentlich auch mal glücklich zu sein. Wenn sie zu Besuch kam, war sie so lieb zu Oma Latschenkiefer, ich erlebte sie als Kind, als Kind, das bloß Anerkennung und Zuneigung wollte, mehr nicht, und Oma Latschenkiefer behandelte sie immer nur grantig und kalt und war froh, wenn ihre nichtsnutzige Tochter wieder weg war. Wie eine Wand aus Stein, gegen die jemand immer wieder verzweifelt ein paar Blumen warf. Meine Mutter fing wieder an zu trinken, und alles ging wieder schief. Oder andersherum. Mit dem Trinken und dem Schiefgehen ist es vermutlich wie mit dem Huhn und dem Ei, man weiß nicht, was zuerst da war. Oma Latschenkiefer rührte jedenfalls selbstgefällig in ihrer Mehlschwitze herum und sah sich in ihrer Annahme bestätigt, ihre Tochter sei einfach zu nichts zu gebrauchen.

Eines Morgens verschlief ich, weil Oma tot im Bett lag und mich so natürlich schlecht wecken konnte. Sie war kalt und wachsweiß und kam mir eigentlich gar nicht so anders vor als zu Lebzeiten. Nur die beiden Rillen, die ihr Doppelkinn einrahmten, glänzten nicht mehr. Sofort machte ich mich daran, eine Runde Babsi gesund STOPP Oma tot STOPP aufzusetzen, dann rief ich die Polizei.

Ich kam zu einer Pflegemutter, und irgendein Amt entschied, dass es nun an der Zeit sei, mich emotional zu stärken.

Das Mädchen gibt ja keinen Ton von sich!

Von da an gingen meine Füße einmal in der Woche zu Frau Doktor Heilmann, einer Kinder- und Jugendpsychologin. Fisselige Haare und Mundgeruch. Und wenn sie sich mal schick machen wollte, trug sie so komische Oberteile mit weiten Löchern an den Schultern, wodurch sie aber eigentlich nur aussah, als würden permanent links und rechts zwei dicke Koteletts neben ihr herschweben. Das Einzige, was ich an Frau Doktor Heilmann mochte, war ihr Name. Sie muss sich vorgekommen sein wie ein Amboss, der wieder und wieder auf eine störrische Walnuss hinunterdonnert, ohne dass die Schale danach auch nur den geringsten Riss aufweist.

Am schlechtesten ging es mir eigentlich, wenn ich mich kurz vor dem Einschlafen so gewaltvoll an meinen Bruder erinnerte, wenn Bilder von ihm wie Starkstrom durch meinen Kopf flossen, dass ich nicht schlafen konnte. Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde mir auch klar, dass mein Herz nicht links sitzt, sondern mittig, unter dem Solarplexus, denn da tut es weh. Weil wenn man eine Scheißkindheit hat, so eine mit Brüllen und Schlägen und nichts zum Essen im Schrank, an der das einzig Gute ist, dass es jemanden gibt, der sie mit dir hat – dann ist es genau genommen zu viel verlangt, alleine weitermachen zu müssen, wenn der andere aus dem Fenster gesprungen ist. Dann liegt nämlich ein Teil von dir mit auf dem Asphalt und blutet.

Ich schloss die Augen und malte sein Gesicht mit dem Finger in die Luft, stundenlang, bis die Nacht vorbei war und ich schlafwandlerisch durch den nächsten Tag lebte. Irgendwann machte sich Frau Doktor Heilmann ernsthaft Sorgen um ihre schweigsamste, dürrste, blasseste Patientin mit dem leeren Blick, die jede Woche wie ein Geist in ihre Praxis levitiert kam, und sorgte dafür, dass man mir zum ersten Mal die Tabletten verschrieb, die ich seither nehme.

Und dann war plötzlich alles weg. Ich dachte an gar nichts mehr, so als hätte jemand meine Festplatte gelöscht. Mein Bruder war nur noch das Wort: ›Bruder‹. Die Bilder waren weg. Sein Gesicht kam nicht mehr, und seine Stimme rief mich nicht mehr. Alles war futsch, und ich muss gestehen, dass es angenehmer war, zur Abwechslung mal taub zu sein, als dass alles ständig wehtat. Ich ließ mich auf den Wirkstoffen treiben und akzeptierte, dass meine Vergangenheit nunmehr eine Leerstelle in meinem Kopf war. Gesprächiger machten mich die Tabletten auch nicht, aber die Zeit schob sich zwischen mich und das Entsetzen wie ein geschlossenes Fenster mit dicken Scheiben, festen Riegeln, schweren Fensterläden und Gardinen aus Brokat.

Nach zwei Jahren starb auch meine Pflegemutter, Frau Doktor Heilmann entschied, sich meiner endgültig zu entledigen, und reichte mich wie einen schwarzen Peter an Doktor Mabuse weiter. Ich war achtzehn und zog in unser Haus, zur Sonne, zur Freiheit (wenngleich mit der Auflage, nun alle paar Wochen in Doktor Mabuses Dunkelkammer vorstellig zu werden, fürs nächste Rezept). Hier lebe ich, um beim Märchen zu bleiben, mit etwas Glück bis an mein Lebensende.

Und weil sie nicht gestorben ist, so lebt sie auch noch heute.

All das weiß Doktor Mabuse wie gesagt nicht. Seit Jahren müht er sich mit seinem therapeutischen Brecheisen an meinen Schneidezähnen ab, ohne Erfolg. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre die Protagonistin in einem Hollywood-Streifen. Dann hätten Doktor Mabuse (Christoph Waltz) und ich (?) einander erst einmal argwöhnisch beäugt, mit der Zeit unsere Grenzen abgesteckt, wir wären umeinander herumgetigert, hätten aufeinander gelauert, ab und zu gefaucht und einen Buckel gemacht, und irgendwann hätte er meine harte Hülle durch seine endlose Güte und Kompetenz durchbrochen und mich nach vielen ergreifenden, intensiven Sitzungen stolz und auch ein bisschen wehmütig als selbstbewusste junge Frau in die Welt entlassen.

The End.

Doktor Mabuse heißt übrigens wirklich so. Manchmal sitzt er da in seinem eckigen Büro, hinter seinem eckigen schwarzen Schreibtisch, und seine eckigen schwarzen Lippen bewegen sich auf und ab, wie ein Automat, so als würde sein Unterkiefer irgendwann ganz unvermittelt stehen bleiben, wenn man keine Münze nachwirft. Dann denke ich darüber nach, ob er eine Wahl hatte, oder ob man mit so einem Namen zwangsweise Psychiater werden muss.

Da ist übrigens noch etwas, das Doktor Mabuse nicht weiß. Etwas, weswegen mir heute das Herz im Hals pocht, als wäre es mal eben kurz im Fahrstuhl eine Etage höhergefahren. Doktor Mabuse hat nicht die geringste Ahnung, was in den letzten Wochen alles um mich herum zusammengekracht ist. Er ahnt nicht, dass wir uns heute zum letzten Mal gegenübersitzen. Dass ich meine Tabletten nicht mehr nehme. Und um nicht vor Aufregung versehentlich vom Stuhl zu fallen, klemme ich meine Hände heute ausnahmsweise einmal nicht zwischen die Oberschenkel. Heute halte ich mich an den Armlehnen fest, als wäre das hier ein Schleudersitz.

Und warte.

2.

Brockhäuser

Der Anfang vom Ende fing damit an, dass ich zu meiner Mutter musste.

Bei diesem Müssen handelte es sich nicht um eine amtliche Auflage. Niemand schickte mir einen Brief, in dem stand: Sehr geehrte Frau So-und-so, es ist so weit, heute müssen Sie wieder ran. Das Müssen war in mir drin, es regte sich, wuchs, blähte sich auf, wurde schließlich unerträglich und verschwand erst wieder, wenn ich sie besucht hatte. Als hätte ich ein, zwei Wochen Freigang, und dann piepste eine imaginäre elektronische Fußschelle und rief mich wieder zu ihr. Das Müssen fing in meinem Bauch an und breitete sich dann überallhin aus, in meine Hände, meinen Hals, meinen Kopf, dann war klar, dass meine Arme die Jacke anziehen und meine Beine zur Bushaltestelle laufen würden.

Meine Mutter war immer da, wenn ich kam. Ich musste mich nicht ankündigen. Sie machte die Tür einen Spalt weit auf, sodass ich gerade hindurchpasste, und sagte: Da bist du ja. Allerdings konnte man die Tür auch gar nicht ganz öffnen, denn dahinter türmten sich die Postwurfsendungen der letzten Jahre und das, was normale Menschen als Altglas bezeichnen – bei meiner Mutter aber war es eben nur Glas.

Der erste Blick war immer der wichtigste, er sagte mir, wie sie drauf sein würde, ob sie geistig anwesend war oder nicht, besoffen oder nicht, ob sie wütend werden würde, wie groß ihre Scham in der Wohnung und meine Scham auf der Straße sein würde und so weiter. Manchmal reichte der erste Blick als Entwarnung, und mein flauer Magen beruhigte sich. An guten Tagen lächelte sie mich an und kochte Kaffee und fragte, ob ich auch gelesen hätte, Alzheimer gehöre bald der Vergangenheit an. Dann erkundigte sie sich nach meinem Leben, und es machte ihr nichts aus, wenn das einzig Erzählenswerte war, dass ich ein neues Poster aufgehängt hatte. Sie schenkte mir zum Abschied trotzdem ein altes Marzipanherz, bei dem die Schokolade schon einmal geschmolzen war. Doch manchmal wusste ich sofort, dass ich möglichst schnell würde flüchten müssen. Dass mein Tag gelaufen war und der Tag darauf auch, ich wusste nur noch nicht, wohin.

An dem Tag freute sie sich, als ich mich durch den Türspalt schob. Sie hatte sich einen grün-weißen Schal wie einen Turban um den Kopf geknotet und fand es schön. Sie zerrte eine Kiste aus einer Ecke hervor und zeigte mir eine vergilbte Brockhaus-Edition, die sie in einem Hinterhof gefunden hatte. Ich sagte, sie habe doch schon eine, und sie sah mich verständnislos an, so als müsse sie sehr geduldig mit mir sein, als sei ich erst sechs Jahre alt und verstünde einfach noch nicht sehr viel von dieser Welt. Denn meine Mutter würde sie alle mitnehmen, wenn sie sie fände, alle, sämtliche Brockhaus-Editionen von 1809 bis heute, sie würde erst ein Brockhaus-Zimmer machen und dann eine Brockhaus-Küche, sie würde so viele Brockhäuser in ihre Wohnung bringen, bis sie sich selbst förmlich aus der Wohnung hinausgestopft hätte. Sie würde einfach eines Tages nicht mehr hineinpassen, und statt ihr selbst würden dann eben uralte Lexika dort wohnen.

Sie sah sich nach etwas um, was sie mir noch zeigen konnte. Ein Jutebeutel von einem Reformhaus in Hamburg. Hamburg! Das Tor zur Welt! Sie freute sich. Wieder einzelne Schuhe, Männerschuhe zumeist. Im Flur standen drei riesige welke Palmen, von denen ich nicht wusste, wie sie die hier raufgeschleppt hatte – meistens kam sie schon aus der Puste, wenn sie ihr eigenes stattliches Gewicht die Stufen hochhievte.

Ich öffnete möglichst beiläufig die Fenster, damit sich der Geruch, der sich die letzten Wochen über angestaut hatte, ein wenig verflüchtigte. Bei diesem Geruch handelte es sich um eine eigenartige Mischung aus verrauchter, muffiger Luft, die sozusagen die Grundnote bildete, und ein paar scharfen Einzelgerüchen, die je nach Standort innerhalb der Wohnung wechselten. Die verrottenden Palmen und die alten, vergammelten Bücher rochen nach feuchtem Verlies, die Müllsackecke in der Küche stank jedes Mal anders, aber immer verfault, sie erstreckte sich mittlerweile schon um den kleinen Plastiktisch und die zwei Klappstühle herum. Alles wucherte immer weiter um alles andere herum wie ein Beet aus unnützen Gegenständen und Lebensüberresten. In der Pfandecke roch man die letzten Bierpfützen in den Flaschen, auf denen sich kreisrunde, grüngraue Schimmelteppiche bildeten wie kleine Inseln, auf denen niemand leben mochte. Und die Kippenstummel, die ja auch aufbewahrt wurden, sie füllten langsam aber sicher eine Keksdose mit Schneeflocken und Lebkuchenmännern drauf und ließen sich bestimmt noch zu irgendetwas gebrauchen, man konnte den Resttabak aus den Stummeln kratzen und neue Kippen davon drehen – all das bildete den Geruch, bildete die gesamte Luft der Wohnung, in der meine Mutter lebte. Meine Mutter lüftete nie und hielt die Fenster und Gardinen geschlossen, als hinge ihr Leben davon ab – sie tat vieles so, als hinge ihr Leben davon ab.

Das ganz schlimme Zimmer, in das ich nie einen Fuß setzte, roch man auch, obwohl die Tür verschlossen war.

Paradoxerweise war meine Mutter innerhalb ihrer Haufen und Stapel auf ihre Art äußerst penibel, was Ordnung und sogar Sauberkeit anging. In ihrer Wohnung gab es keine Käfer, Schaben oder Mehlwürmer, die hinter den Bildern an der Wand und in der Kühlschrankdichtung herumwuselten. Sie machte regelmäßig sauber, so gut es ging, bestand auf Untersetzern für Gläser und Flaschen und ärgerte sich furchtbar, wenn ich aus Versehen einen Stapel umwarf oder irgendetwas gedankenversunken von A nach B räumte, weil sie es dann angeblich nie wieder fand. Es konnte sein, dass man mit einer unbedachten Bewegung etwas umstieß – und somit zunichtemachte –, woran sie tagelang gearbeitet, gebastelt, herumsortiert hatte, und dann konnte es wiederum sein, dass sie einen solchen Tobsuchtsanfall bekam, als hätte man ihr geradewegs ins Gesicht gespuckt. Alles, was sie besaß, war ihr nicht nur wichtig – es war erstens ein Teil von ihr, eine beinahe körperliche Erweiterung ihrer selbst, und zweitens hatte sie eine klare Vorstellung davon, wozu sie es demnächst gebrauchen würde. Sobald sie etwas in den Händen hielt, hatte sie es auch schon emotional aufgeladen, es in die eigene Zukunft, das eigene Überleben mit eingebaut: Bei allem war es besser, es zu haben, als es nicht zu haben. Dinge wurden binnen Sekunden lebensnotwendig, und selbst die Müllsäcke in der Küche blieben ewig liegen, da ja vielleicht jemand mit Hund vorbeikommen könnte, und dann würde sich der Hund sicher über ein paar Essensreste freuen. Oder der alte Joghurtbecher könnte zum Wassernapf umfunktioniert werden, oder vielleicht konnte man die überstehenden Plastikschnüre des Sacks später noch abschneiden, um damit eine Tüte Tiefkühlgemüse zuzuknoten. Dass meine Mutter, abgesehen von ihrem einzigen Freund und Saufkumpanen Hilmar und mir, niemals Besuch bekam, ja sogar niemanden in die Wohnung gelassen hätte, selbst wenn jemand sie hätte besuchen wollen, spielte dabei keine Rolle.

Auch nicht, dass weder Hilmar noch ich einen Hund besaßen.

Ich hatte früh gelernt, dass das Verhalten meiner Mutter mit Logik ungefähr so viel zu tun hatte wie Liebeskummer mit dem Satz des Pythagoras.

Der Müll machte mir am meisten Sorgen, denn natürlich hatte ich Angst davor, dass das alles mit der Zeit schlimmer werden würde und die Würmer irgendwann kämen. Bei jedem Besuch leierte ich meiner Mutter ein paar Säcke aus den Rippen, die ich nach langer Diskussion unten in die Tonne werfen durfte, nachdem ich sie davon überzeugt hatte, dass jeder normale Hund an dem verfaulten Inhalt krepieren würde und sich eine Müslischale doch ebenso gut zum Wassernapf eignete wie ein leerer Joghurtbecher. Beim Müll hatte meine Mutter mit viel Geduld ein Einsehen, und manchmal glaube ich sogar, sie war dankbar dafür, wenn ich die stinkenden Tüten über die Schwelle aus der Wohnung hinaustrug, da sie es nie gekonnt hätte. Für sie selbst war die Wohnung eine Einbahnstraße, es gab nur eine Richtung, und was einmal hineingebracht worden war, blieb, wenn es nach ihr ging, für immer dort. Hinsehen konnte sie allerdings nicht – war der Müllmoment gekommen, ging sie ins Badezimmer und tat so, als wäre nichts, und ich nahm so viele Säcke, wie ich mit ausgestreckten Armen tragen konnte, und schaffte sie weg.

Als wir an diesem Tag rausgingen, fing mich auf dem Flur wieder einmal die scheußliche Nachbarin ab, eine Frau wie eine Zitronenpresse, mit falschen Fingernägeln und aufgebauschten Haaren und Bauch-weg-Unterwäsche. Wahrscheinlich verbrachte sie ihre Tage vor dem Türspion, um auf mich zu warten, sie zog mich unwirsch am Oberarm in eine Ecke und begann ihren Beschwerdevortrag über meine Mutter. Sie tat nur so, als würde sie flüstern, eigentlich wollte sie, dass meine Mutter alles hörte und sich schämte. Also dieser Gestank, und der Krach, da wolle man in Ruhe Tagesschau gucken, und dann rumple es nebenan andauernd, sie, die Nachbarin, habe ja auch Mitleid, aber genug sei genug, eine von Rumpeln zerhackte Tagesschau, wo käme man denn da hin? Ich stand da und konnte mich nicht bewegen. Wie ein williger Staubsauger sog ich ihre ganzen Beschwerden in mich auf, dabei wollte ich ihr einfach nur eine Ohrfeige geben.

»Es tut mir leid. Auf Wiedersehen.«

»Wiedersehen.«

Sie würde niemals verstehen, dass das, was sie für die Lösung hält, das Aufräumen, meiner Mutter mehr Angst macht als der Gedanke, irgendwann nicht mehr in die eigene Wohnung zu passen. Dass sie dann das einzig Gute in ihrem Leben hergeben müsste, und wer will das schon? Meine Mutter mag ja geisteskrank wirken, aber in dieser Hinsicht ist sie doch wie jeder andere Mensch, in diesem Festhalten, geradezu beängstigend normal ist sie gerade in diesem einen Punkt.

Draußen war alles so wie immer, es schien sogar die Sonne. Erst jetzt sah ich, dass der Schal, den meine Mutter um den Kopf trug, ein Fan-Schal von Werder Bremen war. Er hatte in einem Baum gehangen, hatte sie gesagt. Die Leute guckten, aber ich war schon ganz klein, winzig, ich verschwand in der frischen Luft, sogar durch die Poller auf der Straße konnte ich hindurchgehen wie eine Erscheinung. Wie der Geist einer treuen Tochter, die tat, was sie konnte. Auch, als ihre Mutter einen Socken aufhob, der am Straßenrand lag. Als sie ihren vom hohen Polyesteranteil knisternden Pullover auszog und ihr schwerer, weißer Bauch unter dem T-Shirt heraushing. Sie lächelte. Sie schloss die Augen und reckte ihr Gesicht in die Sonnenstrahlen. Ich war froh, dass sie in diesem Moment vermutlich glücklich war, sogar meine Hand drückte sie einmal kurz mit rauen Fingern. Ich dachte noch, dass ich ihr Creme mitbringen würde, beim nächsten Mal, denn zu diesem Zeitpunkt, auf der Parkbank in der Sonne, hatte ich nicht den geringsten Schimmer, dass meine Mutter schon bald ganz andere Dinge brauchen würde als irgendeine fetthaltige Handcreme.

Zum Schluss gingen wir noch zum China-Mann. Das bisschen Geld, was meiner Mutter übrig blieb, nachdem Bier und Likör gekauft waren, investierte sie hauptsächlich in Bami Goreng, Frühlingsrollen und endlose Minitöpfchen Sambal Oelek. Auch die kleinen Plastikfische, in denen die Sojasoße zum Mitnehmen verkauft wurde, sammelte sie natürlich. Lustiges Spielzeug für die Badewanne, theoretisch. Ihre Badewanne hatte ich zum letzten Mal vor drei Jahren freigeräumt, als sie eine Entzündung am Fuß gehabt hatte, die regelmäßig ausgewaschen werden musste. Manchmal wusste ich nicht, ob ihr das Essen wirklich so gut schmeckte, oder ob es ihr in Wahrheit um die ganzen Essstäbchen und Plastikfische ging, die zusammen mit den Boxen in die Tüte gepackt wurden.

Obwohl meine Mutter den China-Imbiss über alles liebte, verhielt sie sich jedes Mal unmöglich dort. Sie stand in der klebrigen Fritteusenluft und meckerte: »Letztes Mal war kein Ei in meinen Nudeln! Eine Frechheit war das, Bratnudeln ohne Ei, wo gibt’s denn so was? Und das Hühnchen war nicht gar, da können Leute dran sterben, wisst ihr das nicht? Wisst ihr nicht, ne. Hab ich mir gedacht.« Sie schüttelte den Kopf. »Also seht zu, dass diesmal Ei drin ist, sonst komm ich hier nie wieder hin!« Ich dachte kurz, wenn die Köche schlau sind, lassen sie das Ei diesmal absichtlich weg. Meine Mutter wiederholte ihre Beschwerde noch dreimal, mit leicht veränderter Wortwahl und immer mehr Schimpfwörtern. Zum Glück standen die Köche mit dem Rücken zu uns, hantierten stoisch mit ihren Silberkellen über den zischenden Woks herum, und ich betete inständig, dass sie kein Deutsch verständen.

Es war nämlich so, dass meine Mutter eigentlich zwei Menschen war. Das machte das Ganze mit ihr auch so kompliziert. Die meiste Zeit war sie mürrisch und dickköpfig, kam ganz nach Oma Latschenkiefer und gab mir und der Welt das Gefühl, lästige Störfaktoren zu sein, die ab und an bei ihr eindrangen, um ihr das Leben schwer zu machen. Das war so, weil sie sich schämte, und deshalb keifte sie auch so viel: Angriff war die beste Verteidigung. Und das war auch ein Grund, warum sie ihren Krempel jedem Menschen vorzog, sogar mir, denn alte Socken gaben keine Widerworte und zeichneten sich im Gegensatz zu Töchtern insgesamt nicht dadurch aus, Probleme zu machen. Wäre meine Mutter ausschließlich so, wäre es leicht gewesen, mit ihr zu brechen und sie auf nimmer Wiedersehen zwischen ihren Stapeln sitzen zu lassen, denn über die Jahre machten die Konflikte mit ihr mürbe und fühlten sich irgendwann so an, als würde einem nach und nach in kleinen Fetzen die Haut abgezogen.

Aber es gab eben auch noch eine andere Seite an meiner Mutter, die ab und an durchkam wie ein unerwarteter Sonnenstrahl am wolkenverhangenen Himmel, der einen daran erinnerte, dass es da tatsächlich eine Sonne gab, mit Wärme und Licht und allem, nur sah man sie eben viel zu selten. Meine Mutter konnte manchmal sehr fürsorglich sein, und friedfertig, und hatte entwaffnende Gedanken über die Welt. Wenn sie bei einem unserer Spaziergänge in einem Sperrmüllhaufen oder irgendwo sonst ein altes Kissen oder ein Sitzpolster fand, nahm sie es mit und legte es auf die Holzbank im Wartehäuschen der Straßenbahn, damit man es beim Warten bequemer hatte. Die Leute fanden die alten, fleckigen Kissen sicher eklig und warfen sie wieder in den Müll, und dann wusste ich nicht, wer bekloppter war: die Leute oder meine Mutter. Wenn sie irgendwo ein Fahrrad ohne Sattel herumstehen sah, konnte es durchaus sein, dass sie in ihre Wohnung zurückfuhr, um einen zu holen. Ganz früher, als ich noch klein war, hatte sie sich manchmal nachts zu mir ins Bett geschlichen, nachdem mein Vater und sie sich genug angebrüllt hatten, sie hatte sich ganz fest an mich gedrückt und mir den Kopf gestreichelt, und nachdem sie dann selbst eingeschlafen war, lag ich die ganze Nacht in ihrer schaurig-wohligen Nähe wach und wagte nicht, mich zu bewegen, damit sie ja nicht aufwachte und wieder ging. An guten Tagen strich sie mir ganz sanft über die Wange und sagte »Du bist so groß geworden«, oder sie schenkte mir irgendetwas, von dem sie meinte, ich könne es gebrauchen – ein viel zu kleines T-Shirt oder einen ausgetrockneten Stift –, und nach diesen spärlichen Momenten war ich so süchtig, ich zehrte so sehr von ihnen, dass ich wie ein Junky selbst dann noch zu ihr kommen würde, wenn es nur noch darum ginge, ihre Fußnägel zu schneiden und ihr den Hintern abzuwischen.

Zurück in ihrer Wohnung machte sich meine Mutter daran, die Behälter auszuwickeln und aufzuklappen, als handle es sich um etwas lieblos eingepackte Weihnachtsgeschenke. Mit den Stäbchen konnte sie nicht essen, doch statt sie wegzuschmeißen, bewahrte sie sie eben auf. Sie hatte schon so viele davon, dass sie sich für ein paar Monate in irgendeiner Garage hätte einschließen können, um damit die Chinesische Mauer nachzubauen oder etwas ähnlich Absurdes, ich stellte mir den Artikel in der örtlichen Umsonstzeitung vor: ›15 284 Stäbchen: Arbeitslose Frau baut Weltwunder nach‹, darunter ein Foto von meiner stolzen Mutter mit fettigen Haaren und zu enger Hose.

Zufrieden sog sie gerade die ersten Nudeln in den Mund.

Mein Blick war auf einen sauber aussehenden Brief auf der Fensterbank gefallen, der sich durch sein klares Weiß deutlich vom Rest der Wohnung absetzte. Noch in Gedanken an Woks und Stäbchen und Plastikfische nahm ich ihn in die Hand und las:

Aufgrund von Eigenbedarf sehe ich mich dazu gezwungen, Ihnen zum 1.10. das Mietobjekt zu kündigen.

Darunter eine ellenlange Erklärung über irgendeinen Stiefsohn, der anscheinend unbedingt ab nächstem Monat in dieser Wohnung wohnen musste. Paragraphen und Amtszeichen. Eine krakelige Unterschrift und dicke blaue Stempel einer Anwaltskanzlei.

»Was ist das?«, fragte ich und wedelte mit dem Brief.

Meine Mutter hob den Blick.

»Was?«

»Das Schreiben von deinem Vermieter.«

Sie kräuselte die Augenbrauen und lehnte sich ein wenig vor, als wüsste sie nicht, wovon ich spreche. Ich hielt ihr das Schreiben hin.

»Ach, das?« Sie winkte ab. »Der spinnt.«