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Fußnoten

1

Dieses Beispiel bezieht sich nur auf natürliche Zahlen.

2

Médée (»Medea«) II,16.

Kontingenz der Existenz

1

Warum sind meine Kenntnisse und meine Größe beschränkt, und warum dauert mein Dasein nur annähernd hundert und nicht vielmehr tausend Jahre? Welchen Grund hat die Natur gehabt, mir ein solches Leben zu geben und diesen Lebenskreis eher als einen anderen in der Unendlichkeit auszuwählen, wo es doch für die Wahl des einen oder des anderen keinen zwingenderen Grund gegeben hat, da keiner von beiden größere Anziehungskraft besaß?

194/208

2

Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das von der vorhergehenden und der darauffolgenden Ewigkeit aufgesogen wird– memoria hospitis unius diei praetereuntis (»[und wie] man eines vergißt, der nur einen Tag Gast gewesen ist«, Weish. 5,15)–, und den kleinen Raum, den ich ausfülle und den ich noch dazu von der unendlichen Unermeßlichkeit der Räume verschlungen sehe, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, so gerate ich in Schrecken und erstaune, mich eher hier als dort zu sehen, denn es gibt keinen Grund, warum es eher hier als dort ist, warum jetzt und nicht vielmehr früher. Wer hat mich dorthin gebracht? Durch wessen Gebot und Führung sind dieser Ort und diese Zeit mir bestimmt worden?

68/205

3

Ich fühle, daß es für mich möglich ist, nicht gelebt zu haben, denn das Ich besteht in meinem Denken; also würde ich, der ich denke, nicht gelebt haben, wenn meine Mutter getötet worden wäre, bevor ich zum Leben erwacht wäre, also bin ich kein notwendiges Wesen. Ich bin auch nicht ewig oder unendlich, aber ich sehe sehr wohl, daß es in der Natur ein notwendiges, ewiges und unendliches Wesen gibt.

135/469

4

Wenn ich die Verblendung und das Elend der Menschen sehe, wenn ich bedenke, wie das ganze Weltall stumm ist und der Mensch ohne Erkenntnisvermögen sich selbst überlassen bleibt und sich in diesen Winkel des Weltalls gleichsam verirrt hat, ohne zu wissen, wer ihn dahin gebracht hat, wozu er dorthin gekommen ist, was aus ihm nach seinem Tode wird, so gerate ich, jeglicher Erkenntnis unfähig, in Schrecken wie ein Mensch, den man schlafend auf eine wüste und grauenerregende Insel gebracht hätte und der erwachte, ohne sich zurechtzufinden und ohne eine Möglichkeit, von dort wegzukommen. Und darauf erstaune ich, wie man denn angesichts eines solch elenden Zustands nicht in Verzweiflung gerät. Ich sehe andere Menschen in meiner Umgebung, die eine ähnliche Wesensart haben. Ich frage sie, ob sie besser als ich unterrichtet seien. Sie antworten mir mit nein, und darauf haben diese jämmerlichen Verirrten sich umgesehen und ein paar angenehme Dinge entdeckt, und sie haben sich ihnen ergeben und sie ins Herz geschlossen. Was nun mich betrifft, so konnte ich eine derartige Bindung nicht eingehen, und da ich bedachte, wieviel mehr äußeren Schein als etwas anderes es in dem, was ich sehe, gibt, habe ich geprüft, ob dieser Gott nicht irgendein Zeichen seiner selbst hinterlassen hätte.[…]

198/693

Mitte zwischen Alles und Nichts

5

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.

201/206

6

Jeder ist für sich selbst alles, denn bei seinem Tode ist für ihn alles tot. Und daher kommt es, daß jeder glaubt, allen alles zu sein. Man muß die Natur nicht nach uns, sondern nach ihr selbst beurteilen.

668/457

7

[…] Der Mensch soll also die ganze Natur in ihrer großen und vollkommenen Majestät betrachten, er soll seinen Blick von den niedrigen Gegenständen abwenden, die ihn umgeben. Er beschaue jenes strahlende Licht, das wie eine Ewige Lampe aufgestellt ist, um das Universum zu erhellen, die Erde erscheine ihm wie ein Punkt im Vergleich zu der weiten Kreisbahn, die dieses Gestirn durchläuft, und er erstaune darüber, daß diese weite Kreisbahn selbst nur eine sehr schwache Andeutung ist im Verhältnis zu jener, der diese anderen Gestirne, die am Firmament dahinrollen, folgen. Wenn aber unser Blick dort stehenbleibt, so soll die Phantasie darüber hinausgehen, sie wird eher der Gedankenbilder müde werden als die Natur, solche zu liefern. Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unscheinbarer Strich im weiten Kreis der Natur. Keine Idee reicht an sie heran, wir können unsere Gedankenbilder noch so sehr über die vorstellbaren Räume hinaus ausweiten, wir bringen doch nur Atome im Vergleich zu den wirklichen Dingen hervor. Es ist eine unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgendwo ist. Schließlich ist es der fühlbarste Wesenszug der Allmacht Gottes, daß unsere Phantasie bei diesem Gedanken den Boden verliert.

Wenn der Mensch zu sich selbst zurückgekehrt ist, soll er bedenken, was er ist im Vergleich zu dem, was ist, er soll sich als ein Verirrter betrachten, und er soll von dieser kleinen Kerkerzelle aus, wo er seine Heimstatt gefunden hat– ich meine das Universum–, es lernen, die Erde, die Königreiche, die Städte, die Häuser und sich selbst nach ihrem richtigen Wert zu schätzen.

Was ist denn ein Mensch im Unendlichen?

Um ihm aber ein anderes, ebenso erstaunliches Wunder vorzuführen, soll er die kleinsten ihm bekannten Dinge untersuchen, damit eine Milbe ihm an ihrem winzigen Körper noch unvergleichlich winzigere Teile zeige, Beine mit Gelenken, Adern in ihren Beinen, Blut in ihren Adern, Säfte in diesem Blut, Tropfen in diesen Säften, Dämpfe in diesen Tropfen, so daß er, wenn er auch diese letzten Dinge noch teilt, seine Kräfte bei diesen Vorstellungen erschöpft und der letzte Gegenstand, zu dem er gelangen kann, nun jener unserer Darlegung sei. Er wird vielleicht denken, dies sei die äußerste Kleinheit in der Natur.

Ich will ihn darin einen neuen Abgrund erblicken lassen. Ich will ihm nicht allein das sichtbare Universum schildern, sondern auch die Unermeßlichkeit, die man sich bei der Natur im geschlossenen Raum dieses verkleinerten Atoms vorstellen kann, er soll dort unendlich viele Welten erblicken, von denen jede einzelne ihr Firmament, ihre Planeten, ihre Erde hat, die es im gleichen Verhältnis wie bei der sichtbaren Welt gibt, auf dieser Erde nun Tiere und schließlich auch Milben, an denen er wiederfinden wird, was die oben genannten ersten aufgewiesen haben, und er wird außerdem an diesen zweiten das gleiche entdecken, und so geht es ohne Ende und Unterlaß weiter, daß er die Fassung angesichts dieser Wunder verlieren wird, die in ihrer Kleinheit ebenso erstaunlich sind wie die anderen durch ihre Ausdehnung, denn wer wird sich nicht verwundern, daß unser Körper, der gerade eben noch nicht wahrnehmbar war in dem Universum, das wiederum im Kreis des gesamten Alls nicht wahrnehmbar war, daß also dieser unser Körper nun ein Koloß, eine Welt oder vielmehr ein All ist im Hinblick auf das Nichts, zu dem man nie ganz vordringen kann. Wer sich auf diese Art betrachtet, wird über sich selbst erschrecken, und da er sich von der Masse getragen meint, die ihm die Natur zwischen diesen beiden Abgründen des Unendlichen und des Nichts verliehen hat, wird er beim Anblick dieser Wunder erzittern, und ich glaube, wenn seine Neugier sich in Bewunderung verwandelt, wird er eher bereit sein, sie schweigend zu betrachten, als sie voll Anmaßung zu erforschen.

Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts, ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu erfassen; das Ende der Dinge und ihre Anfänge sind ihm in einem undurchdringlichen Geheimnis unerbittlich verborgen.

Er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, dem er entrissen wurde, und das Unendliche, das ihn verschlingt.

Was kann er also anderes wahrnehmen als ein äußerliches Bild von der Mitte der Dinge, während er auf ewig verzweifelt, ihren Anfang oder ihr Ende zu erkennen. Alle Dinge sind aus dem Nichts hervorgegangen und werden bis ins Unendliche weitergetragen. Wer vermag diesen erstaunlichen Schritten zu folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie. Keinem anderen ist es möglich.

Da die Menschen diese Unendlichkeiten nicht betrachtet haben, haben sie sich in ihrer Vermessenheit der Erforschung der Natur zugewandt, als hätten sie irgendein Verhältnis zu ihr.

Seltsam ist, daß sie die Anfänge der Dinge verstehen und davon ausgehend so weit gelangen wollten, alles zu erkennen, wobei sie eine Anmaßung zeigen, die ebenso unendlich wie ihr Gegenstand ist. Denn es besteht kein Zweifel, daß man diese Absicht nicht ohne Anmaßung oder ohne eine der Natur gleiche unendliche Fassungskraft hegen kann.

Wenn man Wissen erworben hat, versteht man, daß, weil die Natur ihr Bild und das ihres Schöpfers allen Dingen aufgeprägt hat, sie fast alle an ihrer doppelten Unendlichkeit teilhaben. So sehen wir, daß alle Wissenschaften unendlich in der Ausdehnung ihrer Forschungen sind, denn wer zweifelt daran, daß zum Beispiel die Geometrie eine unendliche Zahl von unendlich vielen Lehrsätzen darzulegen hat. Sie sind ebenso unendlich in der Vielzahl und Gedankenfeinheit ihrer Prinzipien, denn wer sieht nicht, daß diejenigen, die man als die letzten vorbringt, durch sich selbst nicht bestehen können und auf andere gestützt sind, die, weil sie wieder andere als Stütze haben, niemals ein letztes zulassen.

Wir aber stellen letzte auf, die sich der Vernunft zeigen, wie man auch bei den materiellen Dingen verfährt, wo wir einen unteilbaren Punkt jenen nennen, über den hinaus unsere Sinne nichts mehr wahrnehmen, obgleich er seiner Natur wegen unendlich teilbar ist.