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Taschenbuch 035

© Saphir im Stahl

Titelbild: Alexandra Knickel

eISBN: 978-3-943948-83-7

Jutta Ehmke

Twilight Zoo

Zeitreise-Krimi

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Inhalt

Montag, 14. Mai 2007

Samstag, 08. April 1989

Montag, 14. Mai 2007 bis Donnerstag 14. Juni 2007

Abreisezeit: Donnerstag, 14. Juni 2007 Ankunftszeit: Samstag, 08. April 1989 (1)

Samstag, 08. April 1989 (2)

Mittwoch, 11. November 1987

Samstag, 08. April 1989 (3)

Samstag, 08. April 1989 (4)

Sonntag, 09. April 1989 (1)

Sonntag, 09. April 1989 (2)

Montag, 10. April 1989

Dienstag, 11. April 1989 (1)

Dienstag, 11. April 1989 (2)

Donnerstag, 13. April 1989

Donnerstag, 13. April 1989 (2)

Freitag, 14. April 1989 (1)

Freitag 14. April 1989 (2)

Freitag 14. April 1989 (3)

Freitag 14. April 1989 (4)

Samstag, 15. April 1989 (1)

Samstag, 15. April 1989 (2)

Samstag, 15. April 1989 (3)

Sonntag, 16. April 1989

Montag, 17. April 1989

Dienstag, 18. April 1989

Mittwoch, 19. April 1989 Ankunft: Freitag, 15. Juni 2007

Samstag, 16. Juni 2007

Sonntag, 11. November 2007

Donnerstag, 25. Oktober 2018

Autoreninfo

Montag, 14. Mai 2007

Der Fahrer wechselt keinen Ton mit mir, als wäre ein einfaches „Guten Morgen, Frau Liebknecht“ bereits Hochverrat. Ich halte mein Köfferchen fest und starre aus dem Fenster. Das Eisentor gleitet zur Seite, jetzt sind wir auf Militärgelände. Steine trommeln von unten gegen die Karosserie, wir werden durchgerüttelt. Tonis Einladung kam aus heiterem Himmel. Worum es geht, hat sie nicht geschrieben, schon früher hatte sie ein Talent, mit vielen Worten wenig auszudrücken. Es wird merkwürdig sein, sie wiederzusehen.

Jetzt biegt der Jeep ab, der Straßenbelag wird besser und zwischen duftenden Kiefern erhebt sich ein futuristisches Marmor-und-Chrom-Gebäude. James Bond lässt grüßen.

Der Fahrer geht um den Wagen, öffnet mir die Tür und begleitet mich ins Haus. Im Eingangsbereich durchziehen Glas- und Spiegel-fronten die Wände. Das Besprechungszimmer ist in Grau gehalten. Nur die Tischplatte, sie ist aus Teakholz und aus einer einzigen Bohle gefertigt, hebt sich mit ihrem undefinierten Rand wohltuend von der akkuraten Umgebung ab. Der Fahrer salutiert, als Toni eintritt, erst jetzt ist er entlassen.

Toni ist alt und seriös geworden. Sie trägt ein meliertes Kostüm, ihre aschblonden, von grauen Strähnen durchzogenen Haare hat sie hochgesteckt. Ihre Hand umklammert eine Mappe und ein Brillenetui, beides aus schwarzgefärbtem Straußenleder. Als sie den Mund schürzt, liegt eine Entschlossenheit in ihrem Blick, die ich nicht kenne, vielleicht ist sie im Laufe der Jahre mit ihrer Führungsrolle verwachsen. Ich erinnere mich an den Tag, an dem sie uns ganz im Vertrauen erzählt hat, dass sie als Physikerin beim Geheimdienst arbeitet. Damals, als ich sie noch Tante Toni nannte. Es war ein schwüler Sommertag gewesen, wir hatten auf der Terrasse gesessen, und beinahe wäre ich vor Lachen an meinem Ginger Ale erstickt.

Sie zögert, unschlüssig, wie sie mich anreden soll. Vielleicht fragt auch sie sich, wo die Zeit geblieben ist.

„Willkommen, Peggy Sue. Wie ich höre, bist du schon länger zurück in der Stadt?“

„Seit ein paar Monaten.“

„Warum hast du dich nicht mal gemeldet? Geht es dir gut?“

Bilde ich es mir ein oder ist da ein Vorwurf in ihrer Stimme?

„Klar, könnte nicht besser sein. Ich betreibe eine kleine Detektei unten am Hafen.“

„Lässt sich damit genug verdienen? Reicht es zum Leben?“

Ich öffne die Hände. „Sehe ich wie eine Untote aus?“

Ihr Blick wird weicher. „Peggy, geht es dir wirklich gut?“

Komisch, Leute, die nie in indischen Ashrams gelebt, auf brasilianischen Orangenplantagen geackert oder sich sonst wie mit einfachsten Mitteln durchs Leben geschlagen haben, denken immer, man müsse einen Sprung in der Schüssel haben. Als ob es normaler wäre, sich Tag für Tag in genormte Kostümchen zu zwängen und von früh bis spät am Schreibtisch festgekleistert zu sein.

„Es geht mir hervorragend.“

„Die Sache mit Frank?“

„Ich bin darüber hinweg.“

Sie nickt und glaubt mir nicht, und ja, in dem Punkt hat sie recht.

„Ich habe dich eingeladen, um dir ein Angebot zu machen. Hast du eine Ahnung, womit sich das TTR beschäftigt?“

Eine rhetorische Frage. Kein normaler Mensch ahnt, was diese Wissenschaftler in ihrer Hochsicherheitssperrzone so alles treiben, und die Abkürzung „TI TI AR“ höre ich zum ersten Mal. „Aliens foltern vermutlich“, liegt mir auf der Zunge, doch ich bin nicht sicher, ob sie meinen schrägen Humor versteht, und will den Bogen nicht gleich überspannen, deshalb zucke ich mit den Schultern. Sie deutet auf die Stühle, wir setzen uns. Dann streicht sie mir über den Arm, als wäre ich noch die alte Peggy Sue, das kleine Mädchen von vor zwanzig Jahren. Als ich nicht reagiere, wird sie geschäftlich.

„TTR steht für Time Travel Research. Das Reisen durch Zeit und Raum steckt noch in den Kinderschuhen. Jeder, der für mich arbeitet, ist gewissermaßen ein Pionier.“

Ich ziehe die Brauen hoch und grinse. „Zeitreisen? Ernsthaft?“

Auch wenn wir auf Forschungsgelände sind, auch wenn Toni eine schrecklich wichtige Geheimnisträgerin ist – das kann doch nur ein Scherz sein! Aber Toni lacht nicht und sie sieht auch nicht aus, als ob sie durchgeknallt wäre.

„Man ist durch Zufall darauf gestoßen, schon vor langer Zeit. Aber um ehrlich zu sein, wir wissen nur, dass es funktioniert – wie genau, ahnen wir bestenfalls. Es gibt verschiedene Theorien.“

„Du veräppelst mich!“

Noch während ich es sage, wird mir klar, dass sie es ernst meint, und bin platt. Hier sitzt Tante Toni, keine Lügnerin. Sie ist weder wahnsinnig noch ein Mensch, der sich gerne wichtigmacht. Bei jedem anderen wäre ich in schallendes Gelächter ausgebrochen, aber nicht bei ihr. Wenn Toni sagt, dass Zeitreisen möglich sind, dann sind sie es. Toni sieht mich von der Seite an und wartet auf meine Reaktion. Sie ist auf alles gefasst: darauf, dass ich ihr nicht glaube, und darauf, dass ich vor Schreck und Ehrfurcht im Boden versinke. Aber ich habe in meinem Leben schon eine Menge gesehen, wirklich abgefahrene Sachen. Auch solche, über die man besser nicht spricht, wenn ein Psychologe mit medizinischer Entscheidungsgewalt und jener Jacke, die nur von hinten zugeht, in der Nähe ist.

„Aha. Na gut. Zeitreisen also. Hört sich schräg an.“

„Du glaubst mir doch, Peggy?“

Es ist verrückt, aber ich glaube ihr tatsächlich.

„Ihr experimentiert also mit etwas herum, von dem ihr keine Ahnung habt? Ist das nicht gefährlich?“

Ganz kurz kneift sie die Lippen zusammen, als hätte sie sich gegen diesen Vorwurf schon viel zu oft verteidigt.

„Forschung findet immer an der Grenze zum Nichtwissen statt. Wenn man das nicht wollte, müsste man die gesamte Wissenschaft infrage stellen. Manchmal reicht es völlig, zu wissen, dass etwas möglich ist.“

Narkose, fällt mir ein, wird auch erfolgreich angewendet, ohne dass sich bis heute ein Mensch erklären kann, weshalb sie funktioniert.

„Zeitreisen sind völlig harmlos, wenn man einige Grundregeln beachtet“, behauptet Toni.

Jetzt folgt ein ellenlanger Sermon, gespickt mit physikalischen Gleichungen und Schlussfolgerungen, die mich nicht die Bohne interessieren, von denen ich so gut wie nichts kapiere und noch weniger behalte. Wenn ich meine liebe Tante richtig verstehe, hat Zeitreisen etwas mit mikroskopisch kleinen Wurmlöchern zu tun, deren Energie man nutzbar machen kann oder so was in der Art. Sie spricht über Mess-Ergebnisse, die bis heute geheim gehalten werden, und erzählt vom ersten bemannten Zeitsprung, der schon im Jahr 2001 stattgefunden haben soll. Heute, sechs Jahre später, will man das Zeitreisekonzept ausbauen. Von Expertenteams ist die Rede und davon, das Projekt TTR langfristig aus den Hinterzimmern der Wissenschaft zu holen und bis Ende 2017 der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

„Das soll nicht heißen, dass wir jedem Hinz und Kunz einen Zeitsprung erlauben. Die Möglichkeiten sind begrenzt. Wer springen will, muss eine strenge Schulung und ärztliche Testverfahren durchlaufen. Ein gewisses Risiko bleibt trotz der besten Vorbereitung immer bestehen.“

„Schon klar, wenn man zurückreist und seinen Opa umbringt, kann man nicht mehr geboren werden.“

Noch immer kommt mir unser Gespräch wie Small Talk vor, wenn auch über ein skurriles Thema. Ich habe keinen Schimmer, worauf sie hinaus will, und erst recht nicht, weshalb sie ausgerechnet mich in ein Staatsgeheimnis einweiht.

„Sei nicht albern, Peggy, kein Mensch käme auf die Idee, seinen Großvater umzubringen, und falls doch, hätte ein solcher Schwachmat es verdient, sich in Luft aufzulösen.“

Sie zwinkert, vielleicht hat auch sie einen schrägen Sinn für Humor.

„Aber dieses Großvaterparadoxon gibt es schon, oder? Und auch den Schmetterlingseffekt?“

„Nur weil in der Karibik ein Insekt mit den Flügeln wackelt, wird in China noch lange kein Sack Reis umfallen. Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.“

Ich nicke und halte die Klappe. Wer bin ich, der Expertin zu widersprechen.

„Unsere Zeitreisenden werden umfassend geschult, sie sind clever genug, um ihren Eltern und Großeltern aus dem Weg zu gehen. Davon abgesehen deutet alles darauf hin, dass Kausalitätsschleifen existieren. Das bedeutet, wir können die Vergangenheit zwar erforschen, aber nicht grundlegend verändern.“

„Aha“, sage ich und muss es jetzt einfach wissen: „Was genau hat das alles eigentlich mit mir zu tun?“

Sie holt Luft und schenkt mir ihr glockenhelles Lachen, das ich noch von früher kenne und das sich wie damals in ein warmes, mütterliches Lächeln verwandelt. Auf einmal ist sie nicht mehr die strenge Dr. Antonia Baumgaard, sondern meine liebe Tante Toni von früher. Streng genommen ist sie ja nicht meine richtige Tante, sondern eine Freundin der Familie. Lange Jahre hat sie für meine Schwester und mich den Babysitter gespielt und wir fanden sie mega-cool. Aber jetzt, nach den Jahren meiner Abwesenheit, lässt sich die frühere Vertrautheit nicht einfach auf Knopfdruck wieder herstellen.

Bevor Toni antwortet, zieht sie einen schmalen Lederordner aus ihrer Tasche und schlägt ihn auf. Ein verästeltes Diagramm zeigt, dass die Themen Physik, Biologie und Geschichte die Forschungsschwerpunkte ihrer Abteilung bilden. Darunter, mit mehreren Strichen verbunden, sind Untergruppen aufgeführt. Toni deutet auf eines von mehreren Kästchen, die unter dem Schlagwort Geschichte stehen: Kriminalgeschichte.

„Könntest du dir vorstellen, die erste Zeitreisedetektivin der Welt zu werden?“

Sie schaut mich nun direkt an. „Biologen, Historiker und Physiker haben wir zur Genüge, doch jemand mit kriminalistischem Spürsinn fehlt in unseren Reihen. Wie viele Nachforschungen laufen ins Leere, nur weil zu viel Zeit verstrichen ist? Stell dir vor, wie einfach man heutzutage einem Jack the Ripper das Handwerk legen könnte! Schon in naher Zukunft könnten Zeitreisen eine wichtige Rolle bei der Verbrechensbekämpfung spielen. Der Traum eines jeden Ermittlers, alte Fälle mit heutigem Know-How zu lösen, wird sich erfüllen und kriminalistisch motivierte Zeitreisen schon bald gang und gäbe sein.“

Mir fällt innerlich die Kinnlade runter und ich sage vorsichtshalber erst mal nichts. Was auch nicht nötig ist, denn Toni meint: „Denk in Ruhe über alles nach.“

Ich denke. Aber wofür die Geheimdienstler eine kleine Detektivin wie mich brauchen, bleibt mir ein Rätsel. Kaum hole ich Luft, um die Frage in den Raum zu werfen, da erhasche ich Tonis Blick, der zwischen Sorge und Mitgefühl changiert. Ich weiß genau, was jetzt kommt, und schlage die Augen nieder.

„Ich will ehrlich sein, Peggy, Liebes. Ich bin mir nicht sicher, ob du wirklich über das, was damals geschehen ist, hinweggekommen bist. Franks Mörder wurde nie gefasst. Deshalb bist du bis ans Ende der Welt geflohen, nicht wahr? Und letzten Endes Detektivin geworden?“

„Meine Motive stehen nicht zur Debatte.“

Ich habe zu hart zurückgeschossen, wie immer, wenn von Frank die Rede ist. Sie erwidert nichts, weil sie weiß, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hat und ich es nur nicht zugebe.

Kurz nach Franks Tod habe ich die Stadt Hals über Kopf verlassen, rastlos und getrieben. Rund um die Welt bin ich geflohen, jahrelang. Ich stand unter Schock. So sehr, dass alleine der Gedanke an die Heimat mir das Herz zusammenschnüren und mir den Atem rauben konnte. An Rückkehr war nicht zu denken. Nicht einmal angerufen habe ich, nur hin und wieder eine Ansichtskarte geschickt, um zu zeigen, dass ich das war, was man noch am Leben sein nennt. Ich habe jede Erinnerung verdrängt und getan, als wäre ich eine andere, mir völlig fremde Person. Erst meiner Therapeutin in Louisiana, wohin es mich kurz nach der Jahrtausendwende verschlagen hat, ist es gelungen, mich wieder halbwegs hinzubiegen.

Ich erwähne das nicht, um mich zu beklagen. Mein Leben war keine Misere. Ich habe gelernt, mit Situationen und Menschen zurechtzukommen, stark zu sein und Herr meiner Sinne. Ich habe das Beste aus meinem Leben gemacht. Auch wenn der Stachel noch immer tief im Fleisch meiner Seele sitzt, heißt das nicht, dass mein Dasein nicht bunt und abwechslungsreich war. Es gab gefährliche Momente auf meinen Reisen, aber auch viele schöne Erlebnisse. Sicher, da ist diese eine Tür in meiner Erinnerung, die ich noch immer verschlossen halte, und von der nicht einmal ich selbst weiß, was passiert, wenn man sie öffnet. Meine Therapeutin meint, ich soll ruhig einen Blick riskieren, es könnte helfen, meine Bindungsunfähigkeit zu kurieren. Sie vergleicht mich mit einem traumatisierten Soldaten, einem, der, vom Kriegseinsatz heimgekehrt, soziale Kontakte meidet, weil kein Mensch in seiner Umgebung verstehen kann, was er durchgemacht hat. Sie meint, es ist an der Zeit, mit dem Verdrängen aufzuhören und sich der Wahrheit zu stellen. Vielleicht hat sie Recht. Frank ist tot, das ist nun mal Fakt, und nach all den Jahren sollte ich langsam darüber hinweg sein.

Tante Toni schaut mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg mit ihrem Röntgenblick an.

„Er war deine große Liebe, nicht wahr? Deine einzige große Liebe?“, fragt sie sanft.

Ich presse die Lippen zusammen und schaue zur Decke, denn – scheiße – wenn ich jetzt nicke, ist es um mich geschehen.

„Willst du nicht seinen Mörder finden, Peggy Sue? Willst du nicht wissen, wer ihm das angetan hat?“

„Wäre das mein erster Auftrag? Franks Mörder zu finden?“

„Ich dachte, das könnte dir gefallen.“

Jetzt hat sie mich. Der Gedanke, den Mistkerl nach all den Jahren zur Strecke zu bringen, reizt mich auf Anhieb. Nicht, dass ich nach Rache dürste, so bin ich nicht, aber Frank hätte es verdient, und vielleicht könnte ich endlich mit allem abschließen und meinen Frieden finden. Dummerweise hat die Sache einen Haken, denn für die Ermittlung müsste ich in meinen schlimmsten Alptraum zurückkehren.

Toni steht auf und klopft mir auf die Schulter. „Ich hole uns erst mal Kaffee, einverstanden? Latte Macchiato mit extra Zucker?“

„Keinen Zucker, danke.“

Sie geht und ich bleibe alleine mit meinen Gedanken zurück. Wie aus aufgewühltem Wasser treiben Erinnerungsfetzen empor zur Oberfläche. Ich halte die Augen halb geschlossen, als erwartete ich ernsthaft, die Bilder durch Augenzukneifen eliminieren zu können. Wie ein Kind, das bei jeder schrecklichen Filmszene durch die gespreizten Finger linst, als wären diese Filter, die alles Böse abhielten, in den Verstand zu sickern. Albern. Was ein Mensch gesehen hat, hat er gesehen, was er erlebt hat, hat er erlebt. Alles hinterlässt Spuren, nichts lässt sich jemals ungeschehen machen.

Samstag, 08. April 1989

„Frank, bist du da?“

Keine Antwort. Er muss zu Hause sein, er wollte für mich kochen. Niemand kann Huhn mit Erdnusssoße und Koriander so genial zubereiten wie er. Aber es ist still im Haus. Zu still, und es riecht auch nicht nach Essen. Als ich an der Tür zum Wohnzimmer vorbeikomme, sehe ich ihn. Er liegt auf dem Rücken, das Gesicht zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Neben ihm Blut, ein kleiner spiegelnder See. Seine Haut ist bleich und wächsern, ganz deutlich erkennt man drei Schusswunden im Brustbereich. Neben ihm liegt eine kleinkalibrige Waffe. Ich zittere unkontrolliert, dann schreie ich. Kein ohrenbetäubender Alfred-Hitchcock-Filmschrei, sondern einer, der mir mehrmals in der Kehle stecken bleibt, weil ich einfach nicht begreife, was passiert ist. Krankenwagen, denke ich, ich muss den Notarzt rufen, die Polizei. Machte man das nicht so? Aber wozu, es ist doch offensichtlich, dass Frank keinen Notarzt mehr braucht. Mitten im Raum bleibe ich stehen und erstarre, anstatt mich wie in einem schlechten Hollywoodfilm auf ihn zu werfen. Vielleicht liegt es am Schock. Es widerstrebt mir, durch sein Blut zu laufen, das hieße, etwas Heiliges zu entweihen. Als wäre Frank nicht tot, solange nur keiner ihn berührt. Diese Wunden, die schiere Menge Blut, die bleiche Farbe seiner Haut machen mich fertig. Alles kommt mir surreal vor, als wäre die Realität, wie ich sie kenne, aufgehoben, verschoben und durch einen namenlosen Schrecken ersetzt. Für Sekundenbruchteile scheint das Rot nicht nur Quadratdezimeter, sondern den ganzen Raum zu füllen und über alle Wände zu laufen. Die Schusslöcher springen mich an, dunkle Bestien, die mich überwältigen und ins Bodenlose ziehen. Ich versuche, meinen wirren Gedanken Logik entgegenzusetzen, was mehr schlecht als recht gelingt. Wie lange liegt er schon da? Wann haben wir zuletzt miteinander telefoniert? Gestern zur Mittagszeit? Ob es gleich danach passiert ist? Wie in Trance taumele ich nach draußen.

Es nieselt. Am Ende der Straße steht eine Telefonzelle. Ich versuche zu rennen, doch meine Knie sind so weich, dass sie mich kaum tragen. Die Nummer des Polizeinotrufs klebt groß an der Innenwand, mit zittrigen Fingern drehe ich die Wählscheibe. Keine zehn Minuten später rollt das örtliche Einsatzkommando an. Eine Beamtin nimmt meine Hände in ihre, in dem sinnlosen Versuch, mich zu beruhigen. Zwei Polizisten stürmen ins Haus. Nach ein paar Minuten kommen sie wieder. Einer macht sich eine Zigarette an und reißt blöde Scherze. Seine flapsige Art erzeugt einen Kloß in meiner Kehle, den ich ihm am liebsten vor die Füße kotzen will. Soll er doch einen anderen Fall mit Humor nehmen, nicht diesen. Da drin liegt Frank, und das ist verdammt noch mal nicht komisch. Die Polizistin wirft ihrem Kollegen einen missbilligenden Blick zu, dann fährt sie fort, mit sanfter Stimme auf mich einzureden. Zwei weitere Einsatzwagen rollen an, Spurensicherung.

„Geht es wieder?“, fragt der ältere Polizist. Seine Augenbrauen und die Sommersprossenhaut verraten, dass er einmal rote Haare hatte, doch die sind ihm im Laufe der Zeit ausgefallen. „Haben Sie Verwandte in der Stadt? Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmern kann?“

Ich nicke, ohne ihn richtig zu verstehen. Immer denke ich nur daran, dass Frank nicht mehr am Leben ist. Ich wünsche mir so sehr, dass das alles nur ein Traum ist, dass ich gleich aufwachen werde und die Welt wieder in Ordnung sein wird. Doch es ist kein Traum, und nichts wird jemals wieder heil und gut werden. Trotzdem behaupte ich steif und fest, dass ich okay bin, und stimme dem Vorschlag zu, mich von einem Einsatzwagen nach Hause bringen zu lassen.

„Birkenallee 17, nach der Brücke die zweite Ampel links.“

„Das ist eine der Altbauvillen am Fluss, richtig?“

„Ja.“

Meine erste eigene, winzige Wohnung, ich bin zweiundzwanzig und arbeite bei der Stadtverwaltung.

Der Beamte bemüht sich, nett zu sein. „Ihre Personalien haben wir aufgenommen, jetzt bringen wir Sie nach Hause und Sie ruhen sich aus. Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen. Brauchen Sie eine Beruhigungspille? Wir können einen Sanitäter … Nein? Na gut. – Halten Sie sich morgen früh zu einer Befragung bereit. Ach ja, und verlassen Sie nicht die Stadt.“

Montag, 14. Mai 2007
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