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Alfred Bekker

Schlimmer als du fühlst: Zwei Romantic Thriller

Cassiopeiapress Sammelband





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Schlimmer als du fühlst: Zwei Romantic Thriller

 

Dunkle Geheimnisse, übernatürliche Bedrohungen, mysteriöse Begebenheiten - und eine Liebe, die sich dem Grauen widersetzt. Darum geht in den packenden romantischen Spannungsromanen von Alfred Bekker.

 

Dieses Buch enthält die Romane:

 

Alfred Bekker: Dein Albtraum wird zur Wirklichkeit

Alfred Bekker: Die Gruft des bleichen Lords

 

 

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Dein Albtraum wird zur Wirklichkeit

von Alfred Bekker


Der Umfang dieses Buchs entspricht 106 Taschenbuchseiten.


Linda wird von Albträumen geplagt, in denen sie von einer Gestalt in eine Burgruine gehetzt wird. Ist sie nur überarbeitetet oder schon dem Wahnsinn nahe? Als sie dann dieselbe Burgruine auf einem Reiseprospekt entdeckt und sie ihren scheinbar grundlosen Ängsten auf den Grund zu gehen versucht, wird ihr Albtraum zur Wirklichkeit...


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de



1

Der Mond schien fahl zwischen schnell daherziehenden Wolken hindurch. Einen Augenblick später wirkte er nur noch wie ein verwaschener Fleck am Nachthimmel.

Das graue Gemäuer der uralten Burgruine wirkte kalt und abweisend. Aus irgendeinem Grund schien die Vegetation diesen Ort zu meiden, obwohl sie ihn nach all den Jahrhunderten, in denen er sich selbst überlassen gewesen war, längst hätte überwuchern müssen. Nirgends war auch nur ein Moosbewuchs in den bröckeligen Mauerfugen zu finden.

Nebelschwaden krochen wie formlose, kriechende Ungeheuer über den schlüpfrigen Boden dieses unheimlichen Labyrinthes.

Die Aura des Todes hing schwer über diesen Mauern.

Linda zitterte - halb vor Angst und halb wegen der alles durchdringenden feuchten Kälte.

Linda presste sich an den kalten Steinwänden entlang. Grauen hatte sie erfasst.

Sie hörte das Galoppieren eines Pferdes. Das Tier wieherte.

Das ist er!, ging es ihr schaudernd durch den Kopf.

Ihr unbarmherziger, düsterer Verfolger...

Der Puls schlug Linda bis zum Hals. Vorsichtig stieg sie die rutschigen, vom Nebel feuchten Stufen hinauf... Sie saß in der Falle und wusste das auch sehr genau. es gab kein Entkommen. Wenn der Verfolger sie erreichte, dann war es um sie geschehen. Lautlos glitten ihre Füße über den Stein, bis sie einen Wehrgang erreichte.

Sie hielt inne und lauschte. Dabei hielt sie sich geduckt, damit man sie aus dem Burghof heraus nicht sehen konnte.

Einige Sekunden lang geschah gar nichts.

Und das war beinahe noch schrecklicher, als wenn sie jetzt die schweren Schritte der eisenbeschlagenen Stiefel gehört hätte, die der Unheimliche trug. Das Rasseln der Sporen, das metallische Klappern von...

Sie wusste es nicht.

Eine Eule schrie irgendwo von einem der Türme her und ließ Linda zusammenzucken.

Dann hörte sie die Schritte.

Dumpf und drohend kamen sie immer näher.

Linda starrte in den Nebel. Schreckensbleich und einen Augenblick wie gelähmt stand sie da und sah, wie etwas die Treppe hinaufschritt.

Eine Gestalt zeichnete sich schattenhaft im Nebel ab. Wie ein schwarzer Umriss aus reiner Finsternis.

"Nein!", flüsterte sie.

Und dann lief sie davon. Den Wehrgang entlang und dem Westturm entgegen, der als einziger noch ungefähr die Gestalt hatte, die seine mittelalterlichen Erbauer ihm gegeben hatten.

Dort endete der Wehrgang.

Zu beiden Seiten waren die steinernen Brustwehren und dahinter ging es so tief hinunter, dass jeder Gedanke daran, dort hinabzuspringen buchstäblich halsbrecherisch war.

So blieb nur der Turm, der sich als düsterer Schatten gegen das fahle Mondlicht abhob.

Die Tür war bereits seit Jahrhunderten verfault und zu Staub geworden. Nur die metallenen, über und über mit Rost bedeckten Halterungen steckten noch im Gemäuer.

Hinter der Türöffnung war nichts als Dunkelheit, so schien es. Linda zögerte deshalb. Ihr Kopf wandte sich halb herum.

Hinter sich sah sie den Verfolger mit gemessenen Schritten herankommen. Als Mondlicht für einen Moment das Gesicht erhellte, sah sie totenbleiche, hohlwangige Züge und vor abgrundtiefem Hass blitzende Augen.

Woher kenne ich dieses Gesicht?, ging es ihr durch den Kopf.

Es war absurd. Sie hatte das Gesicht noch nie gesehen, dessen war sich die eine Hälfte ihrer selbst völlig sicher.

Andererseits war da dieses unbestimmte Gefühl der Vertrautheit.

Vertrautheit, die irgendeiner finsteren Vergangenheit entsprang...

Der Unheimliche trug einen dunklen Umhang, unter dem etwas hervorragte.

Eine Schwertspitze!

Linda war irritiert, als sie das erkannte.

Der Unheimliche blieb stehen.

Er schlug den Umhang zur Seite und im Mondlicht sah sie dann einen mittelalterlichen Brustpanzer metallisch blitzen.

Schon wollte Linda in die Finsternis im Innern des Turms flüchten, da hörte sie seine Stimme.

"Gwen!", rief er.

Sie blieb wie erstarrt stehen. Seine Hand hob sich und deutete in ihre Richtung.

"Ich bin nicht Gwen!", erwiderte sie wie automatisch, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken.

Dieser Name..., ging es ihr dann verzweifelt durch den Kopf. Woher kommt dieser Name mir so bekannt vor?

"Gwen!", rief der Düstere dann erneut und setzte anschließend noch einige dunkel klingende Worte hinzu, die sich in Lindas Ohren wie Donnergrollen anhörten. Aber sie verstand kein einziges Wort. Er sprach in einer ihr unbekannten Sprache, die entfernte Ähnlichkeit mit dem Französisch zu haben schien, das sie in der Schule gelernt hatte. Einzelne Worte und Wortfetzen glaubte sie wiederzuerkennen, aber denn Sinn konnte sie nicht begreifen.

Wohl aber, dass ihr geisterhaftes Gegenüber es nicht freundlich gemeint hatte. Sein Tonfall ließ darüber keinerlei Zweifel zu.

Er kam näher.

Die Hand hatte er um den Griff seines gewaltigen Schwertes gelegt, so als wollte er die Waffe im nächsten Moment herausziehen.

"Was habe ich dir denn getan?", flüsterte Linda verzweifelt.

Er kam mit entschlossenen Schritten auf sie zu und die dumpfen Worte, die dabei über seine blassen Lippen kamen, klangen wie das drohende Knurren eines Raubtiers...

Linda floh in die Dunkelheit des Turmes.

Sie strauchelte. Fühlte, wie ihre Knie hart gegen die Kante einer steinernen Treppenstufe kamen. Der Unheimliche war bereits hinter ihr. Sie drehte sich herum, rappelte sich auf, obwohl ihr das Knie schmerzte.

Er streckte seine Hand nach ihr aus und als er sie an der Schulter berührte schrie sie aus Leibeskräften.

"Nein!"

Eine unmenschliche Kälte durchströmte sie. Die Kälte schien von der Hand des Unheimlichen auszugehen und durchflutete ihren gesamten Körper mit einem eisigen Schauer.

"Gwen...", flüsterte der Düstere.

Sein Atem war wie der erste Frosthauch im Oktober.

Linda riss sich los und hetzte in grenzenloser Panik die schmale Wendeltreppe hinauf. Die Stufen waren tückisch. Es war fast stockdunkel hier und manche der Stufen waren teilweise unter der Last der Jahrhunderte zerbröckelt.

Linda strauchelte, aber die Angst trieb sie vorwärts.

Und dann erreichte sie wieder das Freie.

Der Turm wurde von einer Brustwehr begrenzt. Das Mondlicht schien auf den grauen Stein.

Jetzt gibt es keine Flucht mehr!, wurde es ihr klar.

Sie stand an der steinernen Brüstung und sah hinab in die Tiefe. Weiter konnte sie nicht. Sie drehte sich halb herum und sah den Düsteren auf sich zukommen. Sein kaltes, bleiches Gesicht ließ sie erschaudern. Sie fühlten den Griff der eisigen Hände...

Und schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte, als sie im nächsten Moment über die Brüstung in die Tiefe fiel.



2

Alles drehte sich vor ihr und dann war da nichts als Finsternis.

Linda riss die Augen auf und spürte den kalten Angstschweiß auf ihrer Stirn.

Kerzengerade saß sie in ihrem Bett und es dauerte einige Augenblicke, bis sie begriff, dass sie geträumt hatte.

Alles ist so real gewesen!, ging es ihr schaudernd durch den Kopf. Sie fasste nach der Decke und erst diese Berührung schien ihr Sicherheit zu geben, nicht noch immer in dem grauenerregenden Traumgespinst gefangen zu sein. Sie schlug die Decke zur Seite und stand auf. Ihr Nachthemd war schweißnass. Aber langsam ließ das Zittern nach.

Durch das Fenster fiel das Mondlicht in ihr Schlafzimmer.

Sie machte kein Licht, sondern ging zum Fenster und blickte hinab. Linda Blane wohnte im fünften Stock. Etwas unterhalb ihrer komfortablen Wohnung leuchteten die Reklamen von Boutiquen und Kaufhäusern die ganze Nacht über. Im Herzen Londons herrschte rund um die Uhr Betrieb. Nie schien diese Stadt völlig zu schlafen. Linda öffnete das Fenster und die kühle Nachtluft erfrischte sie. Von Ferne war das Hupen eines Wagens und ein aufbrausender Motor zu hören.

Linda atmete tief durch.

Es war nicht ihr erster Traum dieser Art. Eine ganze Weile schon wurde sie von derartigen Albtraumvisionen gepeinigt.

Und die Szenerie war immer ähnlich. Ein unheimlicher, leichenblasser Mann in mittelalterlicher Kleidung verfolgte sie durch die grauen Mauern einer Burgruine und nannte sie "Gwen".

Für den Bruchteil einer Sekunde stand das blutleere Gesicht mit den dünnen Lippen ihr wieder so lebhaft vor Augen, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte.

Mein Gott, was hat das alles zu bedeuten?, ging es ihr durch den Kopf. An einem Bankgebäude fand sich eine große elektronische Uhr, die außerdem über die Temperatur Auskunft gab. Es war weit nach Mitternacht. Linda dachte mit Schrecken an den nächsten Tag. Sie fühlte sich, als hätte sie keine Minute geschlafen. Und in ein paar Stunden würde sie im Büro der Werbeagentur sitzen, bei der sie angestellt war, und sich Mühe geben, dass ihr nicht die Augen vor Erschöpfung zufielen...

Es ist alles gut!, sagte sie sich selbst und wiederholte es in Gedanken wieder. Sie versuchte, langsamer und tiefer zu atmen und sich dadurch zu beruhigen. Ihr Puls schien schon wieder die normale Frequenz zu haben.

Und dann sah sie die Gestalt...

Sie wartete an einer Hausecke. Nicht mehr als ein Schatten war zu sehen, aber der Umhang bewegte sich. Und für einen Augenblick sah sie das bleiche Gesicht im Schein der Straßenbeleuchtung.

"Nein!", flüsterte sie voller Verzweiflung.

Sie fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht und schüttelte stumm den Kopf. Grauen hatte sie gepackt und für einen Moment vergrub sie das Gesicht in den Händen und schluchzte. Ich werde wahnsinnig!, hämmerte es in ihr.

Zumindest bin ich nahe daran...

Sie hatte das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen.

Kalt wehte jetzt der Nachtwind von draußen herein.

Wolke zogen auf und der Mond, der hoch über Stadt stand, war bald nur noch jener verwaschene Fleck aus ihrem Traum.

Sie blinzelte durch ihre Finger.

Sieh ihm ins Auge, Linda!

Sie nahm die Hand zögernd zur Seite.

Ihre Augen suchten nach dem Unheimlichen, aber sie konnte die schattenhafte Gestalt nirgends sehen.

Vielleicht war alles nur Einbildung!

Aber das war ebenfalls kein sehr beruhigender Gedanke.

Namenlose Angst hielt ihr Herz in eisernem Griff. Die Furcht vor dem Unheimlichen mischte sich mit etwas anderem, dass nicht minder bedrohlich erschien: Der Angst davor, den Verstand zu verlieren...



3

"Es ist nicht das erste Mal, Miss Blane, dass wir über Ihre Träume sprechen", stellte Dr. Jakes fest, während er Linda mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. "Jedenfalls finde ich es in Ordnung, dass Sie mich angerufen haben..."

"Ich brauchte Hilfe! Ich bin so verzweifelt..."

"Ja, das verstehe ich."

"Ich bin so froh, dass Sie diesen Termin so kurzfristig ermöglichen konnten..."

Linda strich sich mit einer fahrigen Geste das Haar aus dem Gesicht und wich dem Blick des Psychiaters aus. Seit einiger Zeit nahm sie regelmäßig an Sitzungen teil. Und nach diesen Gesprächen hatte sie immer das Gefühl, sich ein bisschen besser zu fühlen als vorher. Zumindest hörte ihr jemand zu und nahm sie ernst. Linda hatte versucht mit anderen über ihre Alpträume zu reden, war aber nur auf Unverständnis gestoßen. Selbst ihre beste Freunden Elizabeth hatte ihr kaum mehr als einen halb bedauernden, halb verständnislosen Blick geschenkt. Linda hatte daraufhin das Thema nie wieder angeschnitten.

Linda saß in dem bequemen Sessel in Dr. Jakes' Praxis und fühlte sich unbehaglich.

"Sagen Sie mir, was Sie als erstes zu diesem Traum assoziieren! Was fällt Ihnen spontan ein?"

"Ich habe Angst."

"Weiter."

"Ich habe Angst vor der Zukunft."

"Vor der Zukunft?", echote Jakes.

Linda sah ihn an. Sie rieb die Handflächen aneinander. Dann erklärte sie: "Ich sage Ihnen jetzt etwas, worüber ich noch mit niemandem gesprochen habe."

"Ich höre Ihnen zu."

"Ich...", sie stockte, schien nach den richtigen Worten zu suchen und blickte Dr. Jakes dann mit einem Ausdruck vollkommener Verzweiflung an. "Ich glaube, dass dieser Traum, den ich Ihnen geschildert habe, etwas mit meiner Zukunft zu tun hat. Das mag sich jetzt für Sie sicher verrückt anhören, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ich ein Déjà-vu-Erlebnis hätte. Und was diesen Traum angeht, weiß ich einfach, dass er sich erfüllen wird."

Sie sah ihn an und Dr. Jakes nickte ihr ermunternd zu.

"Erzählen Sie weiter, Miss Blane", sagte er auf seine klinisch neutrale Weise. Aber Linda entgingen die tiefen Furchen nicht, die sich auf Dr. Jakes' Stirn gebildet hatten.

Auch er hält mich für verrückt!, ging es ihr bitter durch den Kopf. Aber mit irgendwem muss ich darüber reden!

Also fuhr sie fort.

Sie sah den Psychiater dabei nicht an.

"Als ich zwölf oder dreizehn war, war mein Onkel mit seiner Familie bei uns zu Besuch. Am Abend verabschiedeten sie sich. Und als ich ihm die Hand gab, wusste ich, dass ich meinen Onkel nicht wiedersehen würde. Ich hatte es einfach im Gefühl. In der Nacht träumte ich dann, dass er einen Unfall hätte. Einen Tag später kam die Nachricht, dass genau das eingetreten war..."

"Und Sie glauben, dass auch ihr jüngster Traum in diesem Zusammenhang zu sehen ist?", murmelte Jakes.

"Ich bin mir sicher."

"Was macht Sie so sicher?"

Sie zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht, es ist einfach ein Gefühl..."

"Ich verstehe."

"Sie halten mich jetzt sicher für übergeschnappt."

"Aber nein."

"Wissen Sie, am liebsten wäre mir, Sie würden mir ein paar Tabletten verschreiben, die allem ein Ende machen...", seufzte Linda und als sie dann Dr. Jakes erschrockenes Gesicht sah, setzte sie noch schnell hinzu: "Natürlich nur den Träumen!"

"Das ist kein Problem, das sich durch Tabletten lösen lässt, Miss Blane."

"Und wie dann?"

"Die Ursachen unserer Ängste liegen in Erlebnissen in der Kindheit", erklärte Jakes.

"Sie glauben nicht, dass meine Angst einen realen Hintergrund hat, nicht wahr?", erwiderte Linda. Ihr Lächeln war matt. Sie fühlte sich müde und zerschlagen.

"Zumindest glaube ich nicht daran, dass sich in Träumen die Zukunft offenbart. Aber was Ihre Ängste angeht - für Sie sind sie real und nur das zählt!"

"Ich verstehe schon", murmelte Linda. "Trotzdem, es tut gut mit jemandem darüber zu reden. Allein das hilft schon. Ich hoffe nur..." Sie stockte.

"Was?", fragte Jakes und hob die Augenbrauen dabei.

"Nichts."

"Sagen Sie es ruhig!"

Sie sah ihn an und hatte das Gefühl, dass der Blick der blassblauen Augen des Psychiaters bis tief in ihre Seele ging.

"Ich habe Angst, verrückt zu werden, Dr. Jakes. Wenn das so weitergeht, kann ich irgendwann meinen Job nicht mehr machen! Bei uns in der Werbebranche weht ein rauer Wind. Da muss man auf Zack sein, sonst ist man weg vom Fenster..."

"Hm..."

"Ich hoffe, ich rede nicht nur dummes Zeug in ihren Ohren!"

"Gewiss nicht. Sie sollten wissen, dass viele Menschen von solchen Ängsten geplagt werden, wie Sie, Miss Blane. Manche trauen sich nicht mehr in Fahrstühle hinein oder geraten in zu engen Räumen in Panik. Andere fliegen grundsätzlich nicht mit dem Flugzeug, finden aber nichts dabei in ein Auto zu steigen, obwohl das rein statistisch gesehen viel gefährlicher ist!"

Linda lachte kurz auf.

"Sie meinen, ich bräuchte keine Angst zu haben, nicht wahr?"

Jakes nickte.

"Das zu begreifen - wirklich zu begreifen und nicht nur abstrakt nachvollziehen zu können - ist das Ziel der Therapie, Miss Blane!"

"Ja", murmelte sie tonlos.



4

In den nächsten Tagen wurde sie von ihren Alpträumen verschont. Aber die Erinnerung war noch immer wach. Das Gefühl der Abgeschlagenheit wollte einfach nicht von ihr weichen.

Gwen...

Immer noch grübelte Linda Blane darüber nach, woher sie diesen Namen zu kennen glaubte.

Aber da war niemand in ihrem Bekanntenkreis, der so hieß.

"Darf man erfahren, wovon Sie träumen?", riss die Stimme von Clint Moran sie aus ihren Gedanken. Clint und Linda teilten sich bei der Werbeagentur Peter Smith & Friends ein Büro.

Clint sah mit seinem Pferdeschwanz und den knallbunten Jacketts, die er trug etwas unkonventionell aus und benahm sich auch so. Aber er war kreativ und deshalb arbeitete er hier. Zur Zeit brütete er über dem Storyboard für den Werbespot eines Waschmittelherstellers.

Aber im Moment hatte er den Stift hingelegt.

Er sah Linda an.

"Sie sehen aus, als wären Sie gar nicht von dieser Welt", meinte er.

"Ach, ja?"

"Was ist los? Irgendetwas bedrückt Sie doch!"

"Meinen Sie..."

"Linda, das sieht ein Blinder mit Krückstock!"

Sie atmete tief durch.

Clint war ein netter Kollege aber sicher nicht derjenige, mit dem sie sich jetzt über ihre Probleme unterhalten wollte. In den letzten Tagen hatte Clint immer wieder versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aber Linda hatte das stets abgeblockt.

Er beugte sich nach vorn.

"Wissen Sie, was Sie brauchen, Linda?"

"Ich fürchte, ich werde nicht drum herumgekommen, es mir anzuhören!", versetzte sie etwas bissiger, als sie es eigentlich gewollt hatte.

Er nahm das mit einem schiefen Grinsen hin.

"Sie brauchen eine Ablenkung!"

"Ach, wirklich? Vermutlich bei Ihnen zu Hause und mit Kerzenlicht?"

"Warum nicht?"

"Nein, danke, Clint!" Linda lächelte nachsichtig. "Sie versuchen es immer wieder."

"Was habe ich zu verlieren, außer meinem offenbar ziemlich miserablen Ruf bei Ihnen!" Er sah sie an. "Jetzt lächeln Sie sogar. Das steht Ihnen!"

"Sehr witzig, Clint. Besser wir sehen beide zu, dass wir mit unserer Arbeit vorankommen."

"Linda..."

Sein Gesicht wurde sehr ernst.

"Was ist noch?", fragte sie mit leicht genervtem Unterton.

"Ich meine es ernst. Ich mache mir Sorgen um Sie. Vielleicht sollten Sie es mal mit einer Reise versuchen. Ganz spontan irgendwohin. Selbst wenn es nur für ein Wochenende ist - so etwas kann schon Wunder bewirken!"



5

In der Mittagspause aß Linda in einem nahen Schnellimbiss.

Dann schlenderte sie ein bisschen an den Geschäften vorbei, schaute kurz in eine neue Boutique rein und blieb dann bei dem Drehständer stehen, den ein Buchhändler vor seinen Laden auf die Straße gestellt hatte. Reiseführer zum halben Preis. Die Saison war wohl zu Ende.

Vielleicht ist Clints Vorschlag gar nicht schlecht!, ging es der jungen Frau durch den Kopf. Sie griff wahllos zu den Reiseführern, hatte einen schmalen Band über Marokko in der Hand und dann einen etwas dickeren über Frankreich.

Dann erstarrte sie plötzlich.

Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Sie schluckte. Das kann es nicht geben!, schoss es ihr durch den Kopf.

Zögernd griff sie nach einem der Reiseführer. Ein schmaler Band über die nordenglische Grafschaft Yorkshire. Was Linda so erschreckte, war das Bild auf dem Cover.

Die Burgruine...

Sie starrte auf das graue Gemäuer, die Brustwehren, den Westturm... Nein, da gab es nicht den geringsten Zweifel.

Dies war jene Ruine, in der die schrecklichen Traumszenen zu spielen pflegten, von denen sie nun schon so oft heimgesucht worden war.

Es gab diese Burg also wirklich!

Ich hatte doch recht!, ging es durch den Kopf. Es war ein Traum, in dem sich die Zukunft offenbarte...

Sie schauderte allein bei dem Gedanken. Aber was sie jetzt erlebt hatte, war zweifellos ein Déjà-vu-Erlebnis. Sie hatte von etwas geträumt, was nun, in Form dieses Reiseführers tatsächlich in ihr Leben getreten war.

"Gwen!", hörte sie in ihrem Inneren die Stimme des unheimlichen Mannes, der sie sie verfolgt hatte und von dem Linda annahm, dass er ihr nach dem Leben trachtete. "Gwen!"

"Aufhören!", rief Linda und hielt sich die Ohren zu.

"Kann ich Ihnen helfen?", fragte eine unscheinbare junge Frau, die offenbar zum Ladenpersonal gehörte. Ihre Stimme riss Linda aus ihren düsteren Tagträumen heraus. Sie atmete schwer, keuchte fast und blickte die Verkäuferin mit weit aufgerissenen Augen an.

Die Verkäuferin erschrak ein wenig.

Linda bemerkte das und es versetzte ihr einen Stich.

Wirklich!, durchzuckte es sie. Ich bin nahe daran, den Verstand vollends zu verlieren... Auf einem schmalen Seil balanciere ich über den Abgrund des Irrsinns...

Sie reichte der Verkäuferin das dünne Yorkshire-Bändchen.

"Hier!", sagte sie. "Das hätte ich gerne."



6

"Vielleicht ist es wirklich keine schlechte Idee, wenn Sie eine Reise nach Yorkshire machen", sagte Dr. Jakes, während er sich das Coverfoto des Reiseführers mit nachdenklichem Gesicht ansah.

Dann gab er es schließlich Linda zurück.

"Ich habe Angst davor", bekannte Linda.

"Sie glauben, dass diese Ruine in Ihrem Traum ein Bild aus Ihrer Zukunft war, aber viel wahrscheinlicher ist, dass Sie vorher bereits irgendwann ein Bild der Burg gesehen hatten und Ihnen das nur nicht mehr klar war."

Linda seufzte.

"Das würde erklären, weshalb mir alles so seltsam vertraut vorkam."

"So ist es."

Linda nickte. Sie wollte gerne glauben, was Dr. Jakes ihr gesagt hatte. Aber die düsteren Schatten, die schwer auf ihrem Inneren lasteten wollten einfach nicht weichen.

Dr. Jakes deutete auf den Reiseführer.

"Steht dort auch etwas über eine gewisse Gwen?"

"Nein. Nur, dass die Ruine sich in der Nähe des Dorfes Wynmore befindet und ehedem die Residenz des normannischen Grafen Sir Walter de Remoire war... Ein Mann, der für seine Grausamkeit bekannt war und über den man sich noch heute allerlei schreckliche Geschichten erzählt."

Dr. Jakes lächelte.

"Fahren Sie zu dieser Burg, Linda..."

"Aber..."

"...und Sie werden feststellen, dass es wirklich nichts anderes als eine gewöhnliche Ruine ist. Nicht mehr."

"Und Sie meinen, dass meine Ängste dann verschwinden?"

"Möglicherweise begreifen Sie dann, dass diese Ängste keinen realen Grund haben. Niemand kann in die Zukunft sehen oder diese vorherbestimmen."

Die Gewissheit, mit der Dr. Jakes das sagte, überraschte Linda.

"Meinen Sie wirklich?"

"Ich bin überzeugt davon. Lassen Sie sich von der ganzen esoterischen Literatur, die im Moment den Markt überschwemmt, nichts anderes einreden. Einzig und allein Sie selbst bestimmen Ihr Leben!"

Linda rieb die Hände aneinander und wirkte etwas nervös.

"Schön wär's!", meinte sie.

"Sie müssen sich der Verantwortung zu stellen lernen, Linda! Sie glauben, sich von finsteren Mächten verfolgt und vorherbestimmt - aber das entspricht nicht der Realität. Schließlich sind Sie eine erfolgreiche junge Frau, die ihr Leben sehr wohl im Griff hat, wie mir scheint."

Linda atmete tief durch.

"Gut", meinte sie dann. "Ich fahre nach Wynmore..."

Sie sagte das beinahe mehr zu sich selbst als zu Dr. Jakes.

Vielleicht, dachte sie, werden meine Ängste dann verschwinden...

Sie hoffte es zumindest.



7

In der Agentur war man alles andere als begeistert, als Linda Blane Urlaub haben wollte. Peter Smith, der Inhaber, bat sie in sein Büro.

"Ich bin einfach ausgebrannt", bekannte Linda. "Ich muss jetzt für ein paar Tage aus dem Trott..."

Smith seufzte.

"Wissen Sie, was Sie mir da antun? Gerade jetzt, wo wir den dicken Auftrag von dieser Airline haben, die ihre Werbekampagne am liebsten schon gestern auf dem Tisch gehabt hätte?"

"Das weiß ich", murmelte Linda.

Smith beugte sich etwas vor und meinte dann in gedämpftem Tonfall: "Okay, Linda. Weil Sie es sind! Schließlich weiß ich ja was ich an Ihnen habe. Und wenn Sie dann um so frischer aus dem Urlaub zurückkehren - um so besser!"

Wenn es nur darum ginge, mich ein bisschen zu erholen, erwiderte Linda in Gedanken. Aber das behielt sie selbstverständlich für sich.

So bekam sie schließlich, was sie wollte und zwei Tage später packte sie ihre Reisetasche in den Kofferraum des kleinen roten Sportflitzers, den sie ihr Eigen nannte und fuhr Richtung Norden.

Linda fuhr mit gemischten Gefühlen.

Einerseits war da die Aussicht, dass ihre Ängste vielleicht ein Ende hatten, sobald sie jenen Ort erreicht hatte, der in ihren Alpträumen eine so entscheidende Rolle spielte.

Andererseits...

Sie wagte kaum daran zu denken, und wenn sie es doch tat, standen ihr sogleich die entsetzlichen Szenen ihrer Alpträume wieder derart lebendig vor Augen, dass unwillkürlich eine Gänsehaut ihre Unterarme überzog.

"Gwen!" Immer wieder hörte sie die totenbleiche Gestalt in Gedanken diesen Namen rufen. Warum hat er mich so genannt?

Diese Frage wollte einfach nicht aus ihrem Bewusstsein verschwinden.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie York erreichte. Immer wieder hatte sie unterwegs Pausen gemacht.

Dennoch fühlte sie sich ziemlich zerschlagen. Aber der schwierigste Teil der Strecke kam noch, denn Wynmore war nicht mehr als ein kleiner Flecken irgendwo zwischen der Stadt Malton und der Küste. Die Straßen wurden immer enger und die Hinweisschilder immer spärlicher. Am Morgen hatte sie sich im Wynmore Grove Inn ein Zimmer reservieren lassen und jetzt fragte sie sich, ob sie dieses Gasthaus heute überhaupt noch erreichen würde.

Dicke Wolken verdeckten den gerade aufgegangenen Mond.

Finster türmten sie sich übereinander, bald schon zuckten grelle Blitze aus ihnen heraus. Es regnete so heftig, dass die Scheibenwischer ihres Sportflitzers das vom Himmel herunterpladdernde Nass kaum bewältigen konnten.

Die Straße führte durch einen düsteren Wald hindurch. Die Baumkronen wurden vom immer heftiger werdenden Sturm hin und her gewirbelt. Es wurde rasch dunkel.

Dann kam irgendwann das erlösende Schild.

Linda fuhr sehr langsam, um es bei diesen Verhältnissen entziffern zu können:

WYNMORE 5 Meilen

Gott sei Dank!, atmete Linda innerlich auf. Wenigstens würde sie bald im trockenen sitzen, vielleicht an einem gemütlichen Kamin, wie man sie in ländlichen Gasthäusern häufiger finden konnte. Linda blickte nach draußen, hinein in das Meer der düsteren Schatten, das sie zu umgeben schien. Ein einziges tosendes Chaos. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, dort draußen ein Spiegelbild für das zu sehen, was in ihrer Seele vor sich ging.

Das Unbehagen in ihr meldete sich wieder.

Deutlich und unüberhörbar.

Unterschwellig hatte sie es die ganze Zeit über gespürt, vom ersten Augenblick an, da sie in diesen Landstrich gekommen war. Eine düstere Aura schien über dieser Gegend zu liegen...

Unfug!

Sie versuchte sich an Dr. Jakes Worte zu erinnern. An seine nüchterne Art. Er war in der Lage alles kühl und logisch zu betrachten, selbst die düstersten Abgründe der Seele, die ihm seine Patienten anvertrauten.

Linda beneidete ihn in diesem Moment um diese Fähigkeit.

Der Regen wurde immer heftiger. Das Gewitter war jetzt genau über ihr. Linda kniff die Augen ein wenig zusammen, sah angestrengt durch die Frontscheibe und fuhr langsamer.

Man kann kaum etwas sehen!, ging es ihr durch den Kopf.

Das regelmäßige, reibende Geräusch der Wischblätter auf der Scheibe wirkte einschläfernd. Ich müsste mal neue Belege kaufen!, dachte sie beiläufig.

Sie gähnte und wollte gerade das Autoradio anmachen, da erstarrte sie.

Ihr Gesicht wurde schreckensbleich, die Augen traten hervor und wenn sie sich nicht verkrampft auf die Unterlippe gebissen hätte, so hätte sie in diesem Moment einen gellenden Schrei ausgestoßen.

Dort draußen... Mein Gott!

Eine Schrecksekunde später trat sie das Bremspedal durch.

Vor ihr auf der Straße war etwas...

Eine Gestalt...

Der dunkle Umhang wehte im Wind.

"Nein", flüsterte sie halb wahnsinnig vor Angst vor sich hin. Er war es - jener unheimliche Fremde, der ihr im Traum begegnet war und dessen Schatten sie bei dem Blick aus ihrem Fenster zu sehen geglaubt hatte...

Das Pferd des Reiters stellte sich auf die Hinterhand.

Der Reiter zog sein Schwert heraus. Als es erneut blitzte, sah Linda es einen Augenaufschlag lang metallisch leuchten.