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In leicht schwebender Prosa erzählt Für immer Juliette, archaisch und doch modern, von den Spielarten der Liebe. Von Fräulein von M., die demnächst heiraten soll, und in der Silvesternacht ihr erste sexuelle Berührung mit einem fremden jungen Mann hat. Von Helena, Betreuerin in einem Ferienheim, die sich in den 13-jährigen Laurent verliebt und darüber fast den Verstand verliert. Von einer Frau im besten Alter, die bemerkt, wie mit einem Mal nicht mehr sie, sondern ihre Tochter begehrt wird.

Ob es um die unmögliche Liebe geht, um die verbotene, die enttäuschte, die fantasierte Liebe – bei Corinna Bille ist sie immer obsessiv. Die Dramatik wird von einer starken Atmosphäre getragen: Der Geruch von Unterholz, das Gras, der Sand, der Fluss, der Schnee, die Nacht wühlen auf oder besänftigen.

Corinna Bille zeigt sich in Für immer Juliette auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Mit ihren erdgebundenen, nie sentimentalen, lebensklugen Erzählungen und verwegenen Darstellungen von körperlichem Begehren sticht sie aus ihrer Zeit und der Walliser Bergwelt heraus und stellt ihren Ruf als Autorin von Weltrang unter Beweis.

S. Corinna Bille

Für immer Juliette

Erzählungen

Aus dem Französischen
von Lis Künzli

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Inhalt

Für immer Juliette

In die wilde Rose beißen

Cecilias Tagebuch

Die Geschichte eines Geheimnisses

Masken

Der Gast Gottes

Die längsten Tage

Flucht im Dezember

Für immer Juliette

Diese Liebe (ihr Abglanz auf mich, eine Liebe, die nicht für mich ist …) ist aus einer Welt hervorgebrochen, die in den Wehen lag. Die Fischer gleiten in ihrer Barke stehend dem Nebel zu, und die Liebe kommt langsam über das Meer.

Es gab einen Anfang (ich muss das Gedächtnis anstrengen), Wasser und Sand vermischten sich noch, als sie entstand. Jetzt sind Erde und Meer getrennt, und nichts ist zu Ende.

Sie liegt im weichen Frotteekleid am Strand, und Romeo, einige Meter von ihr entfernt, stellt sich schlafend, in eine gestreifte Decke eingerollt (nur der Nacken schaut daraus hervor, genauso schwarz wie seine Haare), denn die Adria geht in Wolken über, und sie müssen über ihre Liebe nachdenken.

Ich sitze auf einem Liegestuhl zwischen ihnen. Sie haben einander nicht begrüßt, in meiner Anwesenheit verzichten sie auf Gesten und Worte. Aber er hat sich ostwärts gedreht, und noch immer eingeigelt bewundert er sie.

Es ist Morgen, und es ist der vierte Tag.

Ich sehe, dass er sie betrachtet, spüre, wie sehr er sie liebt. Und ich erhalte diese Gabe, die für sie bestimmt ist, ebenfalls. Finster, verschwiegen warten sie auf die Stunde, da sie auf Pferden an ich weiß nicht welche zurückgezogenen Orte, Haine oder Wiesen, reiten werden.

Am Horizont steigt das riesige Sonnenrad aus dem Meer, und die Maschinerie der Nebel schiebt sich darauf. Die Linien der Welt verlieren sich wieder, und wir, am Rand der Lagune, wohnen diesem doppelten Mysterium bei.

Doch ich kann sie mit Händen greifen, diese Liebe, sie ist keine Illusion, so wie ich Juliettes volles, langes Haar in beide Hände nehmen kann (meins, das ich nicht mehr habe), kastanienbraun mit hellen Strähnen, von der Meeresluft gebläht. Ah! Dieser Reflex plötzlich auf mir, denn es handelt sich um eine wahrhaftige Liebe, eine Liebe des Meeres, und diese Wirklichkeit erschüttert mich.

Heute Nacht habe ich Juliettes aufgeblühtes Gesicht betrachtet, so ernst in ihrem neuen Glück. Sie schläft schlecht, isst nicht. Diese Juliette jedoch ist mir so nah, dass ich mir verbiete zu weinen, nicht mehr sie zu sein. Jetzt löst sie die Bänder ihrer Espadrilles mit den dicken geflochtenen Sohlen (Romano wirft sich ins Meer, wir beide folgen ihm mit dem Blick), und sie senkt aus Erregung den Kopf, da ist nur noch die Nase, das funkelnde Mahagoni ihrer Augen durch die Strähnen hindurch und, wenn du Glück hast, Romano, ihr Lächeln! Er verschwindet, taucht wieder auf, schwimmt, bespritzt dabei die Sonne. Und ich werde nicht weinen, nicht mehr jung zu sein, denn ich bin es in ihr.

Freunde haben uns in diese Stadt mit dem muschelgesäumten Namen geführt und uns dann allein gelassen. Erst waren wir enttäuscht: der Strand wie ein Friedhof mit weißem Holz gespickt, und sämtliche Plätze im Ort von Menschen überströmt. Doch am Ende jeder Straße von Caorle flimmert der weit geöffnete Fächer des Meeres oder des Landesinnern. Ein Rundweg führt an stark jodhaltigem Wasser vorbei, von wo uns hin und wieder das Tintenauge eines an der Oberfläche treibenden toten Polypen anblickt. Am ersten Abend hatte ich erstaunt eine Kapelle entdeckt, wie eine Perle am Ohrsaum des Meeres (ihr Glockenturm ist ein Leuchtturm, und ich hätte ihn gerne bewohnt, er hat Fenster und eine kleine Tür), ich sagte mir: ›Hier wird die Liebe nicht anklopfen …‹ Doch sie klopft an, wo sie will.

Es begann mit dem Lachen von Kindern … Ihre Spiele waren unergründlich. Sie saßen vor uns im Kreis und buddelten unter der Anweisung eines Anführers (eines blonden, fröhlichen Teufels mit Hakennase) im Sand, steckten ihre Hände wie Krabben in die Löcher, riefen Namen. Dann sprangen sie auf, hüpften ringsum: ein lebendes Freudenfeuer, eine Hydra mit fünf Köpfen! Einer zog sofort unsere Aufmerksamkeit auf sich. Er war subtiler, ausgeprägter als die anderen.

»Er gefällt mir am besten …«, sagte ich zu Juliette. Romano jedoch hatte einen Freund, der genauso sonnenverbrannt war von diesen Strahlen durch den Nebel hindurch.

Ja, es begann mit dem Lachen der Kinder und es wird damit enden. Es gab also diese Pfandspiele. Plötzlich kamen sie auf uns zu, eine Traube roter und schwarzer Weinbeeren (die beiden schwärzesten waren Romano und sein Freund), und ich sah, wie dieser sich vor Juliette niederkniete. Seine raue Stimme sagte drei Mal: »Ich liebe dich!« Juliette lächelte, zeigte ihre rosa Zungenspitze. Der Spielanführer sagte: »Du musst sie küssen.« Eine andere Stimme: »Ein kleines Küsschen …« Eine Frau hinter Juliette strich behutsam ihre Haare beiseite. Der Junge küsste sie scheu auf die Wange. Und weg waren sie.

Am nächsten Morgen hatte sich der Himmel verdunkelt. Ich blieb den ganzen Tag im Hotel, lehnte das Angebot unserer Freunde ab, mit ihnen eine große, im Schilf verborgene Kirche zu besichtigen, deren Bodenmosaik eine Wellenbewegung darstellt. Pfauen und andere Vögel sollen sich dort, so wird erzählt, seit Jahrhunderten zur Balzzeit hinbegeben, doch ich mochte die Stadt bereits so sehr, ihre austernharte Frische, dass es mir schon genügte, einfach da zu sein, selbst wenn ich im Zimmer eingeschlossen auf dem Bett liegen blieb. Als ich einmal zwischendurch aufwachte, sah ich Juliette im Matrosenshirt hereinkommen: »Ich bin kurz rausgegangen, am Strand schien die Sonne. Darf ich noch einen kleinen Spaziergang machen?« Ich antwortete Ja und schlief wieder ein.

Am Abend sah ich diese Sonne, groß wie drei Vollmonde, an den Rändern des Landes blitzschnell untergehen, und ich tauchte in die Nacht ein, ahnungslos, dass sich alles in diesem Licht abgespielt hat.

Am nächsten Tag verschwand Juliette mittags beim Nachtisch. Sie ließ mir nur ausrichten, sie mache einen Spaziergang. Voller Angst suchte ich sie vergeblich am Strand, wo man mir sagte: »Dort drüben wird auch einer vermisst.« – »Der, der sie geküsst hat?« – »Nein, der andere.« Als sie zwei Stunden später wieder auftauchte (Romano war kurz vor ihr zurückgekehrt), sah ich mit ärgerlicher Miene dort hinüber, sagte aber noch nichts.

Als sie mich am nächsten Tag um die Erlaubnis zu einem Spaziergang bat, fasste ich sie an der Taille (sie hüllte sich nach einem Bad fröstelnd in ihren Morgenrock) und sagte: »Deine kleinen Spaziergänge kenne ich, du hast eine Verabredung!« – »Nicht mit dem du glaubst!« – »Nein, ich weiß, mit dem anderen. Denk an deine Brüder und wie sie über Mädchen sprechen …«

Ich weiß nicht, in welchen Straßen sie sich getroffen haben, wohin sie gegangen sind. Straßen, die in Espen- und Akazienwälder führen, Parks, von Eisengittern umgeben, mit Schlupflöchern für die Verliebten.

Ich will nicht die Voyeurin spielen, ich will ihnen weder folgen noch sie überraschen, doch ihre Zärtlichkeiten lassen mir keine Ruhe, und ich leide darunter, nicht mehr begehrt zu werden, mehr noch, darunter, nie Juliette gewesen zu sein, denn wer hatte mich in ihrem Alter geliebt? Ich komme aus dem Land der Verbote, in dem Liebe nur Mutterschaft, Sex oder Tod bedeutet.

Und jeden Tag warte ich voller Sorge auf die beiden, und jeden Tag besteht mein Glück darin, sie wiederzusehen. Doch sie sind beide gleich zugeknöpft, verschlossen, ich lese auf ihren Gesichtern dieselben Zeichen der Überlegenheit und Ungeduld.

Denn es ist der siebte Tag und die erste Liebe, und die hat einen Hauch von Genesis.

Das Wasser ist gesunken, hat einen feuchten, von Tümpeln durchsetzten Schlamm zurückgelassen, und Romano, dessen Körper sich kaum von dem Nichts abhebt, spielt darauf Fußball. Ich betrachte seine Silhouette, die vor dem weißen Hintergrund des Meeres erst recht schwarz ist. Sein Profil mit der Nase, die den Himmel zu kratzen scheint, löst ein kleines Funkeln aus. Ich amüsiere mich über diesen flüchtigen Stern und weise Juliette darauf hin, die es nicht erträgt, dass ich über ihn spreche.

Ein kleines Mädchen weint, klammert sich an das Bein seines Vaters wie an die Säule eines Tempels. Die Leute gehen mit ihrem Transistorradio in der Hand vorbei, tragbare Altäre, und für einen Augenblick hört man die schreienden Stimmen ihrer Götter, die sich, streitend wie auf dem Olymp, entfernen.

Ja, alles hat mit den Spielen im Sand begonnen, der vom Goldgrau der Heuschrecken ist. Und aus einem lustigen Durcheinander junger und alter Menschen stachen anmutig wie Bathsebas Kinder die beiden schwarzen Teenager hervor.

Juliette hatte in ihrer wassermelonenroten Tunika mit den weißen Troddeln, Glöckchen ohne Stimme, da gesessen und ihnen zugesehen. Man hätte sie für Brüder halten können, doch ihr Ausdruck war unterschiedlich: der eine feiner, der andere wilder. War es Juliette, die wählte? Oder waren sie es?

Ein zum Seebad mutiertes Fischerdorf. Ein Fluss hält es zwischen seinen eiskalten Armen, und das Meerwasser ist so niedrig, dass kein Schiff anlegen kann. Doch man hatte Kanäle ausgehoben, und so ragen im Herzen der Stadt, wo man es am wenigsten erwartete, Masten und Segel empor.

Dorthin bin ich gegangen, jetzt, wo ich einen Teil des Tags allein verbringe, und bin jenseits der Hotels an einer wenig frequentierten Küste herumgeirrt. Wasservögel umflogen schreiend die Schilfhütten, die verlassen am Ufer standen. Ich war an einer der Flussmündungen, und ich überquerte sie schwimmend, nicht ohne Mühe, denn die kalte Strömung trieb mich in ihre Mitte. Ich schwamm durch das glatte, heimtückische Wasser und bemerkte die Linie, den gischtgekrönten Kamm, den das Meer dort bildete, wo es auf den Fluss traf. Endlich erreichte ich die lange Sandbank, die daraus hervorragt und sie voneinander trennt. Ich meinte, den Fuß auf eine große Schildkröte zu setzen, doch es war wohl nur eine dieser beweglichen Stellen im Schlamm, ein von der Wucht einer Schnelle verursachter Wirbel. Ich bin noch lange gegangen, mit den Knöcheln Süß- und Salzwasser verrührend, und spürte abwechselnd eiskalte und bereits lauwarme Wellen. In der Ferne erstreckten sich kilometerlang die noch leeren Strände, und ich fühlte mich unwiderstehlich von ihnen angezogen. Endlich gelangte ich auf trockenen Sand, auf dem ich winzige, knirschende Muschelnester zertrat. Zwischen den Disteln funkelten zerschlagene Glasflaschen, aber sie enthielten keine Botschaft für mich.

Ich bin die alte Meerjungfrau, die den Männern nun Angst macht, doch ich habe sie sehr geliebt, und die Menschenjungen liebe ich noch immer.

Und dieser da ist mir der liebste von allen. Ich würde ihn gerne in die Arme nehmen, möchte, dass er an meiner Schulter schläft. Seine Lippen sind von einem beinahe schwarzen Rosa, und manchmal geht ein weißes Leuchten über dieses Gesicht, das mich so rührt: ein Lächeln oder die Linie der Lider? Doch er wird zunehmend ernster, nachdenklicher, senkt die Augen, wenn ich ihn ansehe. In seine Gedanken versunken wirkt er wie ein verlorenes Kind, das darauf wartet, dass man es findet. Er spricht nicht mehr, lacht nicht mehr, und auf seiner Wange entsteht eine Falte. Es ist nicht die Hitze, die ihn erschlägt, das Wetter hat sich abgekühlt, es ist dieses Gefühl, das ihn bestürzt, dessen Macht und erschreckende Sanftheit er vielleicht bis heute noch nie erlebt hat.

Oh! Der Charme, stärker noch als die Schönheit, der ruhelosen und bereits erfüllten Jugend. Doch kann sie wirklich erfüllt sein? Es ist einzig unsere Erwachseneneifersucht, die es behauptet.

Er, der mit seinen Kameraden den Gockel gespielt hat, nun ist er gelassen und bescheiden geworden, aber seine Präsenz hat sich dadurch in keiner Weise abgeschwächt, ist nur umso eindrucksvoller. Er wird zur Liebe selbst, und ich fange die Wellen auf, von denen ich nicht ganz ausgeschlossen bin, da Juliette meine Tochter ist.

Und so gefällt es mir am Strand nur noch, wenn ich sie in meiner Nähe spüre, und ohne sie gehe ich nicht mehr hin, und wenn doch, dann sehe ich sie mit Erleichterung zurückkehren. Romano, der Juliette vor meinen Augen verehrt, lässt mir, ohne es zu wissen, ein eigenartiges Glück zuteilwerden, das ich nur mit Verlegenheit genießen kann …

Auf dem gepflasterten Weg, der ganz sanft geworden ist von dem vielen Sand, den die nackten Füße herbringen (weiter unten erstrecken sich kleine Lorbeer- und Piniengärten), konnte ich seinen Blick endlich von Nahem erhaschen. Ich erforschte ihn und erhielt das Geständnis seiner tiefschwarzen, ehrlichen und entschlossenen Augen. Ach! Seine stolze Miene … Ich blieb geheimnisvoll davon durchdrungen, und ich fürchtete weniger um Juliette, die hinter mir herging und ihm ebenfalls ein Gesicht darbot, das ich lieber nicht sehen wollte. Was erwartete er? Ich hatte ihn mit einem Lächeln gegrüßt. Aber vielleicht bin ich für Romano die Feindin.

Sie sind so voneinander eingenommen, dass sie außerhalb von sich nichts mehr sehen, denken können. Wenn ich sie anspreche, scheint Juliette, die sich wie eine Statue hält, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen, und sie fragt verwundert: »Was gibts?« Doch sie wird so schön, dass die kleinen Mädchen ihr beim Ausziehen helfen und ihr ihre Sachen bringen, dass sämtliche Kinder herbeilaufen und nur an ihrer Hand ins Wasser wollen. Sie ist es, die als Erste begrüßt, bedient wird. Die jungen Männer beugen sich vor und starren auf ihren gebräunten Bauch, als wäre darauf das Rätsel der Welt eingeschrieben.

Ich komme um vor Einsamkeit.

Heute Abend ging ich noch einmal hinaus, saß lange auf einem Platz der Altstadt, der rot und schwarz war vor lauter Flaneuren, und hörte auf der Terrasse eines kleinen Cafés einer Blaskapelle zu. Ein Mann sprach mich an, machte mir diskret den Hof. Er lud mich auf ein Eis ein und redete von Liebe. Ich zuckte zusammen, als ich sah, dass er um den Hals eine Goldkette mit einem Medaillon trug; doch da es sich weniger bewegte als das von Romano, hatte es bei ihm einen weißen Fleck hinterlassen. Er versuchte es mit ein paar Komplimenten. Fühlen sich alle reifen Frauen dadurch geschmeichelt? »Ach«, sagte ich, »für die Liebe muss man jung sein. Sie ist der grausamste Spiegel!« Er protestierte laut, doch jede seiner Gesten verriet eine unfreiwillige Zurückhaltung. ›Er schont sich, weil er alt ist …‹ Ich spürte ein unangenehmes Mitleid mit mir und mit ihm. Er schien enttäuscht, aber kein bisschen betroffen.

Wir bekamen Durst und tranken reichlich Lambrusco. Er betrachtete mich mit einem klugen Blick, ich gefiel ihm. Doch der Wein ließ mich nichts vergessen, im Gegenteil. »Jetzt bin ich noch viel unglücklicher als zuvor und bereit, die Liebe zu verachten, was mir sehr leidtut.« – »Das ist nur eine Frage der Gewohnheit«, sagte er, »Sie werden mit der Zeit immer mehr Gefallen daran finden.« Und er verabredete sich mit mir für den nächsten Tag.

Ich kehrte ins Hotel zurück, wo ich mich am Treppengeländer der Marmortreppe festhalten musste. Im Zimmer fand ich Juliette, die auf der Tagesdecke des Betts eingeschlafen war, die Haare aufgefaltet wie die Flügel eines Schmetterlings. ›Jetzt bist du an der Reihe mit Warten …!‹, dachte ich und kritzelte auf einen Zettel:

Wir reisen morgen ab.

Und jetzt, wo wir wieder in unser Land zurückgekehrt sind und ihr Vater sie mit seiner forschen, dröhnenden Stimme anspricht und ihr seine zehn Gebote auferlegt, steht sie aufrecht da wie ein Bergfingerhut, der im Morgengrauen erblüht ist. Sie ist nun gegen uns, da sie nicht mehr mit uns ist.

Schon verlässt du uns, Juliette, kehrst uns den Rücken zu, ziehst deinen Koffer durch den Farn, und man sieht von dir nur noch deine eigensinnigen, von deinem schweren Zopf zweigeteilten Schultern.

Ohne dich zu verabschieden.

In die wilde Rose beißen

I

Das Wissen um die Zukunft ist so tief in uns vergraben, dass sie sich nicht offenbart. Man hält sich vor allem an das, was an die Oberfläche steigt, was ins Auge fällt, und vergisst dabei, dass die Vorzeichen nicht dort sind, sondern tief in den Abgründen stecken.

Das ist der Grund, warum Helena, Helena-die-Schüchterne, stets Stumme angesichts der Landschaft, vor ihrer Zukunft die Augen verschloss (wie ein stilles Sumpfwasser die Trübung, ein Gären unter den Algen verbergen kann). Obwohl sie jeden Tag diese mit einem eigenartigen Glücksgefühl einhergehende Angst spürte, wenn sie vom Schulzimmer auf das Stück Berg mit seinem Geröllfeld, seiner feuchten Wiese und seinem Tannenwald sah, der wegen der Lawinen stets kümmerlich bleiben würde … Kein bisschen Himmel, eine einzige Öde, die absolute Einsamkeit.

Helena lebte in Zeitlupe, war Verlobte und altes Mädchen zugleich. Sie unterrichtete an der Volksschule eines Marktfleckens im Flachland die Mädchen. Ihr Alter entsprach der Lebensmitte: fünfunddreißig.

Gerade war sie ohne Freude, aber auch ohne Angst wieder in das von Madame Cline geführte Ferienheim zurückgekehrt. Madame Cline war Witwe und von diesem Menschenschlag, der erst stirbt, wenn es auf die hundert zugeht. Sie beklagte sich seit jeher, einzig für die anderen zu leben; aber wäre sie überhaupt fähig gewesen, für sich zu leben? Ständig vor sich hin brummend opferte sie sich ganz für ihre kleinen Schützlinge auf. Rosig, grau und beleibt, glich sie, versicherte Helena, der alten Meereskönigin aus dem nordischen Märchen, die als Einzige zwölf Austern am Schwanz tragen durfte. Und um ihr Trüppchen zusammenzurufen, blies sie in ein großes Alphorn. Ihr jüngerer Sohn Serge hatte sich ebenfalls eingefunden. Ein schrecklich lauter Bengel, völlig unfähig zu gehorchen, ein Tunichtgut, ohne bösartig zu sein, aber mit Widerstandskraft und einem Bärenhunger ausgestattet. Er war siebzehn und noch immer im Stimmbruch. Seine Arme hingen übermäßig lang herunter.

Die Kindergärtnerin Elisabeth, die Helena zur Hand ging, hatte kurze Haare, einen schmalen Körper, und ihre blaugrünen Augen verrieten keine gütige, dafür aber eine loyale Seele. Von Frauen in den Dreißigern sprach sie mit der sorglosen Unnachsichtigkeit zwanzigjähriger Mädchen, und vielleicht hatte sie nicht vor, ihre Kollegin, die ihr traurig zuhörte, damit zu verletzen. Dann fühlte Helena jedes Mal, wie ihre Beine schwer wurden und sie in die Tiefen der Erde hinabzogen.

Das Mädchen für alles war eine Zwergin mit hohen Wangenknochen, menschenscheu und so stark, dass sie das Holzhaus, in dem sie alle wohnten, mit einem einzigen Handstreich hätte umstoßen können, behauptete Serge.

Helena war es nach den fünf Sommern, die sie nun schon unter der Leitung von Madame Cline in diesem Heim arbeitete, gründlich leid geworden. Auch diesmal wäre sie gern davongelaufen, aber ihr schwacher Charakter hinderte sie daran, und auch die Gewohnheit. Ganz anders die junge Elisabeth, die zu ihr sagte:

»Im Herbst sehe ich mich nach einem lustigeren Leben um.«

Es tauchte noch eine sechste Figur auf. Sie gehörte weder zur Familie noch zum Haus. Der kleine Franzose, wie sie ihn nannten, hatte sich bereits vor vier Jahren schon einmal in dem Chalet aufgehalten. Helena erinnerte sich vor allem an die komische Art und Weise, wie dieser neunjährige Junge von der letzten Odyssee erzählt hatte. Sie, die kaum Zeitung las, sah plötzlich eine Katastrophe vor sich, dargestellt von einem Kind, für das sie ein Spiel wie jedes andere war. Dieser höfliche, meist nicht sehr gesprächige Junge wurde für sich allein zu einem ganzen Theater. Aus seinem Mund, aus dem noch die Muttermilch tropfte, sprudelten Wörter, Töne und Schreie ohne Ende. Mit geblähten Wangen, tiefer oder schriller Stimme imitierte er Jeeps, die in der Schweiz noch keiner gesehen hatte, Bombenexplosionen, die Raserei der Raketen, das Klagen der Sirene. Und wie ein agiler Clown sprang er auf und drückte sich an die Wand.

»Als meine Straße befreit wurde, ging ich raus, um es mir anzuschauen …«

»Hast du Tote gesehen?«, hörte sich Helena verwirrt fragen.

»Ja«, antwortete er mit seinem komischen lothringischen Akzent. »Ja, im Wasser, ein Arm oder ein Bein ragte aus dem Schlamm des Kanals.«

Er sprach oft über diesen Kanal. Er war wie alle Wasserläufe in der Nähe einer Stadt der Treffpunkt der Kinder.

»Aber man hat uns verboten, diese hübschen Pfeifen, Bleistifte und Federhalter aufzulesen … Sie hätten in unseren Händen explodieren können.«

Und er erzählte auch von der Schule, wo sie von den neuen Nazi-Lehrern gezwungen worden waren, stundenlang Adler zu zeichnen. Und wenn der Adler, der immer genau gleich aussehen musste, nicht eine ganz bestimmte Flügel- oder Schnabellinie aufwies, bezogen die Schüler Prügel. Das kam so oft vor, dass sie sich Methoden ausdachten, die Strafe abzumildern. Jeden Morgen steckten sie, bevor sie in die Schule gingen, ein rund ausgeschnittenes Stück Pappe in die Hose, um ihre Pobacken zu schützen. Und einmal, als der Lehrer noch nicht da war, hatte ein Schüler den Stock entzweigebrochen und danach rasch wieder zusammengeklebt. Man konnte nichts sehen. Doch beim ersten Schlag, der ausgeteilt wurde, fiel er auseinander.

Und plötzlich voller Wehmut:

»Schade, jetzt ist der Krieg vorbei!«

Als der kleine Franzose in Begleitung von Serge, der ihm entgegengegangen war, die Eingangshalle des Chalets betrat, drückte Helena ihm herzlich die Hand. Er hatte zwei Köpfe zugelegt, und sein pausbäckiges, blässliches Gesicht von damals hatte einen hübschen Teint angenommen.

»Ist der aber schön!«, rief die Zwergin aus.

Doch Madame Cline verglich aus der Distanz die Größen der beiden Jungen:

»Er ist klein«, sagte sie verächtlich, »seht nur, wie viel größer Serge ist.«

Sie meinte, sie wären gleich alt.

Helena fürchtete sich seit jeher vor denen, die sie Fremde nannte; eine Unterhaltung führen, ihnen zuhören zu müssen, brachte sie in Verlegenheit. Ihr wäre lieber gewesen, der Eindringling wäre nicht da. Er wird sich langweilen, dachte sie, denn Madame Clines Sohn war bereits wieder weg, um sich auf einem anderen Berg die Durchfahrt der Tour de France anzusehen. Blieben noch die anderen Ferienkinder. Der Neuankömmling zeigte Zuneigung zu den ganz Kleinen und nahm sie auf den Arm, war jedoch sichtlich genervt über die Wichtigtuerei der Älteren. Helena, die zerstreut war, schimpfte oft und schlug aufs Geratewohl drauflos. Dann fing sie einen missbilligenden Blick des Jungen auf. Verwirrt hielt sie inne … Doch er betrug sich weiterhin diskret, nahm wenig Raum ein, und sie dachte nicht mehr daran. Nur etwas ließ ihr keine Ruhe: Als Laurent nach dem Alter gefragt wurde, meinten alle, sie hätten gehört:

»Fünfzehn.«

Das machte ihr Sorge. ›Oh, das ist genau das schwierige Alter bei den Buben.‹ Sie erinnerte sich an Ratgeberbücher, in denen vor dem Pubertierenden gewarnt wurde, der vorübergehend gefährlicher und dummer Taten fähig sei. Und der Ausruf der Leiterin: »Er ist so fromm, der kleine Franzose!«, beruhigte sie auch nicht gerade, ganz im Gegenteil. Außerdem musste sie an die Worte eines Vortragsredners im Lehrerseminar denken: »In diesem Alter, in dem sich die niedrigsten Instinkte Bahn brechen, kann der Pubertierende eine absolute Ergebenheit an den Tag legen. Er ließe sich töten für jemanden, wenn dieser Jemand ihn verstanden hat.« Und er hatte hinzugefügt: »Nichts ist bewegender im Leben eines Manns, eines Lehrers, als vonseiten eines jungen Knaben eine solche Freundschaft zu erfahren.« ›Ach ja, die Jünger …‹, hatte sie gegrinst.

Doch als sie erfuhr, dass er erst dreizehneinhalb war, war sie vollkommen beruhigt: ›Er ist noch ein Kind.‹

Bereits am zweiten Tag nahm sie ihn in Schutz. Man hatte Laurent zum Milchholen auf den Berg und danach für den Einkauf zum Plateau hinuntergeschickt. Kaum war er zurück, verlangte man, dass er das Dienstmädchen zur Post ins Dorf hinabbegleitete.

»Wir erwarten Päckchen …«, beharrte die Zwergin. »Du wirst mir helfen.«

»Drei Erledigungen an einem Tag, das ist zu viel!«, protestierte Helena vehement.

Sie setzte durch, dass er im Chalet blieb. Zum Dank zeigte er ihr den Brief, den er an seine Eltern schrieb. »Wirrer Stil und Krähenfüße!«, sagte sie lächelnd. Sie schrieb auf die Rückseite: »Ihr Sohn ist höflich und wohlerzogen, wir freuen uns sehr, ihn hier zu haben.«

Trotz allem spürte sie, ohne es sich erklären zu können, ein eigenartiges Ressentiment: Er trug einen scheußlichen Skipullover, der keine wirkliche Farbe mehr besaß und dem eine beflissene Mutter neue Ärmel angestrickt hatte. Seine kurzen, fast kahl geschorenen Haare befremdeten sie. Sie fand ihn hässlich, ja. Dafür gefiel ihr Laurents Art, wie er am Tisch redete oder eher antwortete, denn wenn man ihn nicht ansprach, zog er sich in ein hochmütiges Schweigen zurück. Es gefiel ihr und ärgerte sie gleichzeitig. Er antwortete mit solchem Eifer, dass er schulmeisterlich wirkte. Dieser lothringische Vorstadtakzent, nah an der Affektiertheit, kam ihr im Mund eines Bengels aus dem Volk unziemlich vor.

Dann vergaß sie es wieder, vertiefte sich in die Hausarbeiten und die Lektionen für die Kinder. Der Höhenwechsel setzte ihnen zu; man musste sie beruhigen, ihnen Geschichten erzählen. Helena sah nur noch sie und fühlte sich in dichten Nebel eingehüllt. Doch hin und wieder durchdrangen zwei graue, sehr große, intensive, schwarz bewimperte Augen diese Wand, die ihr die Welt verdeckte. Sie leuchteten von einem dumpfen, so ungewöhnlichen Feuer, dass sie auf einmal hellwach war. Und eines Tages, als sich dieser Blick und seine so glühende Sanftheit noch eindringlicher auf sie legten, errötete die Lehrerin. Wer war er, dieser stille, geheimnisvolle kleine Franzose, der so harmlos wirkte?

Inzwischen suchte er ihre Nähe und setzte sich neben sie, und als sie eines Tages sagte, sie wolle Pfifferlinge suchen gehen, bat er, mitkommen zu dürfen. Sie willigte ohne Begeisterung ein: Sie hätte das Alleinsein vorgezogen.

Während dieses Spaziergangs, der ihr einziger Spaziergang zu zweit war, tauschten sie nur wenige Worte. Trotzdem erkannte sie in ihm eine seltene geistige Aufgewecktheit. Man brauchte ihm die Dinge nicht zu erklären: Er verstand auf Anhieb.

Wegen der sommerlichen Trockenheit wollten die Pilze ihre Köpfe nicht zeigen. Sie fanden nur einen einzigen, und er lag weit hinter ihren Erwartungen zurück. So nahm sie stattdessen eine Arnikablüte mit braunen Staubgefäßen zwischen die Finger.

»Daraus macht man Lotionen, Umschläge bei Verstauchungen. Aber wenn sie zu stark konzentriert sind, werden sie giftig.«

»Kann man daran sterben?«

»Ja …«

Sie entließ die Blume wieder in die Freiheit, und sie schaukelte auf ihrem Stängel hin und her. Enttäuscht sah ihr der Junge zu, doch dann zogen ihn die Schmetterlinge, die um die Blüten herumflatterten, in Bann. Er versuchte sie zu fangen und beschädigte dabei ihre Flügel. Erstaunt, ihn so grausam zu sehen, protestierte Helena:

»Lass sie leben!«

Laurent zuckte mit den Schultern, hörte widerstrebend auf. Sie folgten einer neuen Straße, die quer durch die Lawinenhänge führte, auf denen mit Mühe wieder ein paar kümmerliche Lärchen nachwuchsen. Doch ganze Beete violetter Weidenröschen dehnten sich in verschwenderischer Üppigkeit über dieses bedrohte Terrain aus. Der Junge sprach von Zwergbäumen, die er zu Hause aus Spaß pfropfte und verpflanzte. Sie hörte halb ungläubig zu. Eine wilde Rose stand in frisch aufgegangenen Blüten. Laurent wollte sie pflücken.

»Oh! Lass sie …«, sagte sie wieder.

Für den Rückweg verließen sie die Straße und rutschten zwischen den Tannen über die trockenen Nadeln. Der wendigere Junge überholte sie. Sie wollte allein sein. Und so kam sie erst lange nach ihm im Chalet an.

II

Er war zu seinen Spielen zurückgekehrt.

Von einem Felsbrocken aus, der wie eine Insel aus der Wiese emporragte, überwachte Helena mit einem Auge die Kinder und mit dem anderen ihre Karten. Sie sagte Elisabeth die Zukunft voraus. Sie hatte nur eine rudimentäre Ahnung von Tarot, dafür prophezeite sie mit großem Eifer.

»Da haben wir den Kelch der Leidenschaft. Machen Sie sich mal auf Neuigkeiten gefasst …«

Skeptisch betrachtete die Kindergärtnerin den blaugelben Kelch, der ihr merkwürdig aufgebläht, aufreizend vorkam. Angewidert wandte sie sich ab. Doch abends beim Essen plauderten die beiden auf ungewohnte Weise miteinander, und am nächsten Tag saßen sie inmitten von Kindern, Büchern, Scheren und Fingerhüten gemeinsam auf dem im Gras ausgebreiteten Schaffell.

Etwas abseits von ihnen schnitzte Laurent an einem Stück Holz. Ein plötzlicher Ausruf, ein Gebrumme erinnerte Helena an seine Anwesenheit. Überrascht sagte sie:

»Du bist aber mürrisch heute!«

Bald kehrte Serge schreiend und die Zeitungen schwenkend nach Hause.

»Diese Franzosenschweine!«

Helena, die ihn nicht gehört hatte, begrüßte ihn freundlich. Serge erzählte aufgeregt und wütend, dass die Hoffnung der Schweizer, der Rennfahrer XY, der ganz vorne mit dabei war, von den Franzosen vergiftet worden sei und bei der Bergetappe aufgeben musste. Helena lachte, überzeugt, dass die Geschichte von eingeschnappten Journalisten frei erfunden worden war.

»Als ich die anderen einfahren sah«, brüllte Serge, »habe ich gerufen: Franzosenschweine! Franzosenschweine!«

Laurent nahm es wortlos hin, die Baskenmütze über dem Ohr, und ließ sich kaum zu einem Lächeln herab. Serge drückte ihm mit Gewalt die Zeitung in die Hände.

»Willst du es gar nicht lesen?«, wunderte sie sich.

Der Junge antwortete:

»Sport interessiert mich nicht.«

Beim Abendessen tat er den Mund nicht auf und ließ einen ernsten Blick über die Anwesenden schweifen, der Helenas Worte auf den Lippen ersterben ließ. Sie bewunderte seine souveräne Haltung, die seinen robusten kleinen Körper aufrecht, seinen Nacken rund machte. Keine Spur von Unterwürfigkeit in ihm wie so oft bei Kindern; doch in seine stolze Miene schlich sich ein Schatten, eine leichte Falte auf der Stirn, ein melancholischer Zug in den Augen. So viele mit Anmut verbundene menschliche Qualitäten waren ihr neu. Sie hatte bis dahin mit Rohlingen in einem rohen Land gelebt.

In der ersten Woche war er immer sofort vom Tisch aufgestanden, noch bevor er seinen Apfel oder seine Birne gegessen hatte, die er einsteckte. Nach dem Abendessen genauso. Jetzt blieb er im Speisesaal, machte es sich in einem Sessel bequem, der dem Fenster zugewandt war, und träumte, die Zigarette paffend, die Madame Cline ihm und Serge zugebilligt hatte, vor sich hin. Einmal trat Helena hinaus und ging absichtlich an diesem Fenster vorbei. Sie machte Laurent ein Zeichen, aber er war so tief in Gedanken verloren, dass sie sich fragte, ob er sie überhaupt gesehen hatte. So blieb er lange auf dem Kanapee (er hatte den Sessel abtreten müssen), und als er mit seinem knappen Guten Abend, mit dem er sich stets verabschiedete, schlafen ging, sah er niemanden an.

Worüber er wohl brüten mochte?

Einmal, als sie allein die Straße entlangspazierte, die sich im Zickzack zu den Alphütten hinaufschlängelte, befand sie sich genau über dem Chalet. Aus der Vogelperspektive erkannte sie Laurent, Serge und die Kinder um den Brunnen herum. Sie hörte ihre Schreie; die Kinder und die Zwergin bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. ›Wenn Madame Cline sie dabei erwischt …‹ Bei ihrer Rückkehr waren alle ganz aufgeregt, und Laurent sagte zu ihr:

»Ihr Kleid sah von weitem rosa aus …«

Sie war überrascht, dass sie von dem Jungen beobachtet worden war, und noch mehr, dass es ihr solches Vergnügen bereitete.

Inzwischen wurden die Mahlzeiten stets draußen eingenommen, auf Tischplatten mit Böcken und einem monumentalen Sonnenschirm, den die Leiterin ombrellino nannte. Für den Rest des Tages sah Helena den Jungen nicht mehr. Er ging mit Serge zum Plateau hinunter und kehrte erst zur Abendessenszeit, manchmal sogar noch später, mit Taschen und Paketen beladen wieder zurück. Nachmittags stiegen die beiden mit ihren Metallkannen zur Alp hinauf, um die Milch zu holen. Von dieser Milch musste man, wie vom Wasser in der Wüste, einen großen Vorrat anlegen: Die Oasen, in denen die Sennen ihr Lager aufschlugen, waren dünn gesät, und je weiter der Sommer vorrückte, umso entfernter waren sie.

Eines Abends jedoch, als sie mit einer Strickarbeit auf einer Bank an der Hausfassade saß und gelangweilt die tobenden Kinder auf der Wiese überwachte, hatte Helena den Jungen endlich für sich allein. Plötzlich waren sie zusammen und allein. Laurent plauderte drauflos. Er beschrieb ihr das kleine Tiergehege aus Pappmaschee, das er zu Hause hatte:

»Mit einem Stück Rohr habe ich einen Brunnen gebastelt und Wasser durchfließen lassen. Und die Palmen habe ich aus grünen Samtfetzen ausgeschnitten, die ich von meiner Mutter bekommen hatte … Die habe ich aufgeklebt und auf Eisendrähte gespannt. Ich habe bereits zwei Tiger, drei Löwen und eine Zebraherde. Und eine kleine Brücke aus Maishalmen habe ich auch gebaut …«

Und da bekamen ein Satz, den er aussprach, eine Gebärde, die er ausführte, an sich absolut unschuldig, aus dem Mund des Jungen aber und durch seine Hände für Helena auf einmal eine obszöne Bedeutung. Eine eigenartig geheimnisvolle Strömung floss von einem zum anderen, so unwillkürlich, so diabolisch, dass sie einander erschrocken ansahen.

Eines Morgens jedoch sprach er ein Wort aus, das sie beide mit unsäglichem Unbehagen erfüllte, noch bevor sie sich des gegenseitigen Banns, unter dem sie standen, bewusst geworden waren. Da sie beschlossen hatte, sich die Haare zu waschen, machte sie sich beim Aufstehen nicht die Mühe, sie zu bürsten, und ließ sie ungekämmt auf die Schultern fallen, ohne sie mit einer Spange zu bändigen. Sie streifte sich einen alten Morgenrock über: ›So bin ich hässlich und schmutzig, ganz recht, und meinem ungeschminkten Gesicht kann man mein Alter ablesen …‹ Gewöhnlich legte sie ein wenig Rosa auf Wangen und Lippen auf. Und so würde sie bleiben, stoisch vernachlässigt, dem Gemurre von Madame Cline zum Trotz. ›Soll Laurent von mir denken, was er will, ich werde sogar ein bitteres Vergnügen dabei empfinden, ihm zu missfallen.‹ Und bald fanden sich alle in der Küche ein, wo die Zwergin ohne Ende Erbsen enthülste. Man kam ihr zu Hilfe. Helena und der Junge streiften sich leicht auf den eng beieinanderstehenden Schemeln. Sie verbarg ihre Unverschämtheit und ihre zu nackte Kehle hinter einer Strähne steifen Haars und zu lautem Sprechen. Sie erfand Gespenstergeschichten, die die Kinder so gerne mochten:

»… im Gang dieses Schlosses, das heute ein Museum ist, sah ich eine ganz blasse Gestalt auf mich zukommen, eine durchsichtige Form! Es war ein Mädchen … Sie trug ein Kleid aus dem achtzehnten Jahrhundert mit einem spitz zulaufenden Oberteil und einem geblümten seidenen Reifrock. Sie ging auf eine Tür zu und verschwand, ohne sie zu öffnen. Ich betrat den Saal ebenfalls: Da war niemand.«

»Oh! Oh!«, riefen die Kinder.

»Das ist die weiße Dame«, beteuerte die Zwergin.

»Das kann man nicht wissen«, sagte Helena. »Es scheint mir eher, und es wird sich eines Tages zeigen, dass die Luft unter bestimmten Temperatur- und Lichtbedingungen fähig ist, wie eine Fotoplatte die Form der menschlichen Wesen, die sie durchquert haben, aufzubewahren. Vielleicht werden auch die Stimmen rekonstruiert …«

»In hundert Jahren wird man unser Gespräch hören!«

Die Zwergin begann in einem naiven Anflug der Begeisterung ein schrecklich sentimentales Lied aus dem Großen Krieg zu singen. Die Deutschen kamen darin sehr schlecht weg.

»Sie sind ja schließlich in Belgien eingedrungen!«, folgerte Laurent.

Das Wort eingedrungen löste bei Helena, die ihn beobachtete, eine solche Verwirrung aus, dass es den Augen des Jungen, die auf ihre gerichtet waren, nicht entging.

Nun wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit ihm zu. Bis dahin hatte sie ihn nur gedankenverloren wahrgenommen. Ab jetzt würde sie ihn unter der Lupe betrachten wie ein aufgespießtes Insekt. Und dabei so ruhig wie möglich atmen. Eine sonderbare Wunde hatte er ihr da zugefügt!